Veröffentlicht: 06.03.2025
Donnerstagmittag an der Côte d'Opale westlich von Calais.
Zufrieden schauen wir auf das sonnenbeschienene Meer.
Côte d'Opale! Das klingt verheißungsvoll nach türkisgrünem Wasser, azurfarbener See und perlweißen Wellenkämmen.
Und genau das wird uns gerade in voller Schönheit bei strahlendem Sonnenschein und marineblauem Himmel geboten. Ein Spektakel in unbeschreiblichen Farbtönen vor einer Kulisse smaragdgrüner Hügel und cremeweißer Kalkfelsen, die sich an der englischen Küste gegenüber in Dover hell widerzuspiegeln scheinen.
Das Land am Ärmelkanal hebt sich malerisch ab von der flachen und doch recht eintönigen Agrarlandschaft Flanderns, die wir in den letzten Tagen bei Regen und kaltem Ostwind durchquert haben.
Vor etwas mehr als zwei Jahren haben wir hier unsere neunwöchige Sommertour entlang der Atlantikküste bis nach Spanien begonnen. Nun stellen wir fest, dass das Reisen mit der Räuberhöhle ohne Anhänger wesentlich entspannter ist, zumindest bei der Suche nach Schlafplätzen. Wir können uns jedenfalls nicht daran erinnern, dass Frankreichs Parkplätze im hohen Norden beinahe allesamt mit Spriegeln höhenreguliert sind.
Nun, mit dem Mistral im Schlepptau sind wir schon glücklich, eine Möglichkeit zu finden, um einen Spaziergang an der wirklich bezaubernden Küste unternehmen zu können.
Alles ist strenstens geregelt und wenn ein Platz für Fahrzeuge höher als 2,10m befahrbar ist, weisen gut sichtbare Schilder eindeutig und unmissverständlich darauf hin, dass das Übernachten IN-TER-DIT ist!
Das haben wir für diese Region anders in Erinnerung und Fotos im Netz beweisen, dass das noch nicht lange der Fall und - wie wir vermuten - auf Fluch und Segen des Internets zurückzuführen ist. Ich kann nur immer wieder sagen, lasst den Quatsch mit Park4Night!
Wobei, mittlerweile gibt es wohl kaum noch ein Plätzchen, das nicht an die große Internet-Community-Glocke gehängt wurde...
Wir wollen nicht testen, ob die örtlichen Ordnungshüter noch in der vorsaisonalen Winterruhe sind und ihre Pflicht derzeit auschließlich darin sehen, die Dünen und steilen Felsen nach heimatvertriebenen Flüchtlingen zu durchkämmen und stattdessen doch eines frühen Morgens mal auf dem Parking mit derzeit geöffnetem Spriegel nach dem Rechten schauen.
Deshalb fahren wir zur Dämmerung einige Kilometer ins Land und verschlafen ein paar eisig-kalte Kalte Nächte sehr erholsam in Nachbarschaft zur TGV-Tunnelstrecke und riesigen Kalktagebaugruben.
Endlich spielt auch das Wetter mit und lädt uns ein, diesen landschaftlich höchst abwechslungsreichen Küstenstreifen zu erkunden. Langgezogene Sandstrände, steile, von Möwen bewohnte Felsen, spektakuläre Aussichten und die Kaps Blanc Nez und Gris Nez, die sich mit dem Label „Grand Site de France“ in die bekanntesten Sehenswürdigkeiten Frankreichs einreihen, sind nur einige Argumente, hier mal vorbeizuschauen.
Uns zieht es zum Cran aux Oeufs, schon wegen der charmanten Bennenung und weil wir die namensgebenden Eier entdecken wollen. Als Cran werden durch Erosion in die Klippen gegrabene Einschnitte und Spalten bezeichnet, in denen sich Quell- und Regenwasser den Weg ins Meer suchen.
Leider haben wir uns nicht gut vorbereitet, so dass wir die von Brandung, Wind und Verwitterung zu gigantischen Eiern geformten Felsen nur aus großer Höhe bestaunen können. Sie werden gerade von der Flut umspült und sind trockenen Fußes nicht erreichbar.
Wir wandern weiter zur Hühnerspalte. Hier lässt uns das Meer noch genügend Raum, am steinigen Strand entlang zu spazieren und Unmengen, zu kleinen Eierchen geformten Kieseln zu bewundern. In zahllosen verschiedenen Farbtönen, von ocker und beige über umbra- und senffarben zu safran und terrakotta. Ich kann mich gar nicht satt sehen und würde am liebsten alle mitnehmen, doch wir befinden uns im Naturschutzgebiet und da sind Einsammeln und Wegtragen IN-TER-DIT. Und das ist auch gut so. Der Kangoo hätte sonst einige Kilo mehr zu transportieren.
Dann wäre auch gar kein Platz mehr für die vielen Muscheln vom Strand von Dannes, an dem wir am nächsten Tag bei Vollmondebbe über den Tidenhub von ganzen sieben Metern staunen.
Das Meer will gar nicht mehr aufhören zurückzuweichen und so werden bei einem farbenprächtigen Sonnenuntergang plötzlich Muschelbänke in der Ferne sichtbar. Für eine schmackhaft Miesmuschelsuppe mit Rotwein sind die Mollusken aber noch zu klein, wir belassen sie an ihren Holzpfählen und begehen keinen heimtückischen Mundraub.
Als abschließenden Höhepunkt unseres kleinen, unbeabsichtigten Frankreichausflugs wollen wir am Samstagvormittag den Fischmarkt in Calais bestaunen.
Wir finden recht schnell einen angemessen langen und sogar kostenlosen Parkplatz für das Gespann mit Wohnwagen und schlendern durch die Stadt am Eurotunnel.
Leider besteht der Markt im Moment aus lediglich drei Buden und die sind auch schon fast ausverkauft.
Die Fischauktionshalle steht leer.
Unter ihrem Vordach nächtigen Flüchtlinge aus Afrika unter dünnen Wurfzelten bei sibirischen Temperaturen und warten, in dicke Winterjacken gehüllt, auf das große Glück.
Beim Spaziergang vorbei an einem kleinen Hafenbecken, in das die Flut gerade mit Macht das Wasser zurückdrückt, wollen wir Calais schon als wenig attraktiv abtun.
Bei Wikipedia lese ich, dass die Stadt im Februar 1945 von britischen Fliegern, die eigentlich das noch deutsch besetzte Dunkerque treffen wollten, irrtümlich bombardiert und die Innenstadt später kaum wieder aufgebaut wurde.
Als uns plötzlich ein riesiger Schatten den Weg zum Wohnwagen versperrt.
Ich schaue auf und sehe in rotglühende, angsteinflößende, monströse Reptilienaugen!
Vor uns hat sich ein greuliches Fabelwesen monumentalen Ausmaßes aufgebaut: grünschillernde, enorme Schuppen, mächtige, messerscharfe Klauen, kolossal-gewaltige Flügel, ein ungeheuerlich-gigantischer Rachen mit nadelspitzen Zähnen und Nasenlöcher, aus denen dicke dunkle Rauchwolken wabern.
Auweia! Sind das etwa die neuen französischen Ordnungshüter, die Wildcamper, Falschparker und Schwarznächtiger aufspüren, mitsamt ihren mobilen Heimen an Ort und Stelle rösten und die kläglichen Reste den wilden Tieren zum Spaß vorwerfen?
Ohnein – ohnein – ohnein!
Der Held wappnet sich umgehend zur Verteidigung seiner Reisegesellschaft, wobei ich fieberhaft überlege, wie ich seine wertvollen Fersen und Schultern schützen kann. Denn aus der Geschichte wissen wir ja, dass auch unbesiegbare Titanen mit übermenschlichen Kräften, Mut und Tapferkeit als Drachentöter nur fast unverwundbar sind und eine Achillessehne haben.
Doch bevor es zum Äußersten kommen kann, entpuppt sich ein schwarzer Mann neben dem Koloss als Drachenbändiger. Mit Joystick und Headset dirigiert er gemeinsam mit einer Frau am Steuer im Bauch die Wege des Ungetüms.
Nein, der Drachen von Calais kontrolliert keine Gesetzesverstöße, der Drachen von Calais ist Theater!
Die Idee von Francois Delaroziere, durchsetzt mit unzähligen Hydraulikstempeln und -zylindern, 10 Meter hoch und 25 Meter lang, will die Strandpromenade in eine Open-Air-Bühne verwandeln, in der alle Beteiligten in Interaktion gehen: Spaziergänger, Publikum, Zuschauer, Beobachter, Drachenreiter.
Und ja, es funktioniert. Auch wir verbringen nicht unerhebliche Zeit fasziniert von dem Schauspiel auf dem Boulevard, begleiten das Ungetüm auf seinem gemächlichem Gang und warten auf den Feuerstoß.
Unser Tipp: spart euch das Geld für den Ritt auf dem Drachen, viel aufregender und spannender ist die Show von unten!
Wir müssen jetzt die Heimreise antreten, doch den Abstecher nach Bergues wollen wir nicht ausfallen lassen.
Das kleine Städtchen im französischen Teil Flanderns hat erst durch den Kassenknüller „Willkommen bei den Sch’tis“ Berühmtheit erlangt. Regisseur Dany Boon stammt aus der Gegend, hat die Geschichte um den strafversetzten Südfranzosen hierher verlegt und Teile des Films in Bergues gedreht.
Und wie zur Bestätigung der Story um die Herzlichkeit der Eingeborenen, empfängt uns – wir können es kaum glauben - ein kostenloser Wohnmobilstellplatz, auf dem sogar die Übernachtung nicht VER-BO-TEN ist.
Die ergiebigen Regenfälle der vergangenen Kaltlufttropfen haben den Boden schön aufgeweicht und die Spuren im Matsch zeugen von einigen Kämpfen schwerer Fahrzeuge, sich aus den Tiefen der Pampe zu befreien.
Doch einer entspannten Besichtigung der Sehenswürdigkeiten und Schauplätze der Dreharbeiten steht nichts im Wege.
Bergues hat nicht nur die Postfiliale und den Glockenturm aus dem Blockbuster zu bieten, eine mittelalterliche Stadtmauer, fünf Stadttore, viele kleine Häuschen im flandrischen Stil mit den typischen Schornsteinen und einen Kanal, der den Ort mit dem Hafen von Dunkerque verbindet. Ein Umweg lohnt sich allemal, wenn man in der Gegend ist.
Schließlich gehört Bergues zu den „Les plus beaux détours de France“ – was wäre Frankreich ohne seine Label?
Nun fahren wir aber endgültig Richtung Osten, machen noch einen Spaziergang an der Maas, nicht ohne einen sonntäglichen Einkauf, um die Vorräte an holländischen „Engelse Drops“ aufzustocken.
Und dann müssen die heimischen Terrassenpflanzen endlich vor sibirischer Kälte gerettet werden.