Auf Rübezahls Spuren

Regentropfen trommeln auf das Dach und wecken mich aus süßen Träumen von Straßen, in denen Milch und Pilsener fließen.Wir stehen an der tschechischen Grenze. 

Ich habe eine Woche Urlaub, mir überlegt, meinen Wurzeln zu folgen und als Reiseziel die Oderquelle in der Nähe von Olomouc, mitten in unserem südöstlichen Nachbarland ausgesucht. Schließlich bin ich am Ufer des Grenzflusses aufgewachsen.

Der Wohnwagen steht noch reparaturbedürftig auf dem heimischen Hof und nun tropft der ergiebige Niederschlag auf die Räuberhöhle. Der Held holt den kleinen Kocher aus der mobilen Cateringkiste, die vor der Autotür schon sehr nass geworden ist. Das Frühstück gibts heute auf kleinstem Camperraum und wir schauen in den grauen Morgen. 

Auch für die nächsten Reisetage sind die Vorhersagen eher durchwachsen und ein ganz kleines bisschen vermissen wir den warmen und trockenen Luxus im Mistral. Doch will man die kostbare Urlaubszeit mit Gejammer vergeuden? 

Auf keinen Fall! 

Monsieur hat als Zwischenstopp zur Oderquelle eine ganz besondere Attraktion im Riesengebirge entdeckt. An der polnisch-tschechischen Grenze können die Adršpašsko-Teplické skály bewundert werden, eine Gruppierung von Sandsteinfelsen auf einer Fläche von mehr als 17 Quadratkilometern. Ein Labyrinth aus steinigen Wundern und Superlativen, ein unvergessliches Naturphänomen. Das wollen wir uns auf keinen Fall entgehen lassen und machen uns auf in Richtung Osten. Wie zur Bestätigung der Planänderung blinzelt ein Sonnenstrahl durch die dicken Wolken und macht gute Laune. 

Die Straßen sind eng und schmal, löchrig und holprig, die Fahrt dauert und bald halten wir Ausschau nach einem Plätzchen für die Nacht. Die Gelegenheit bietet sich an einem plätschernden Bächlein, in der Nähe lodert das Lagerfeuer eines rustikalen Trappercamps. Ein kräftiger Naturbursche im Holzfällerlook kommt mit seinem stattlichen Mastiff auf der abendlichen Hunderunde an unserem Nachtlager vorbei und warnt eindringlich vor einheimischen Wildschweinen. 

Die nehmen aber Reißaus vor meinem schrägen Geklimper auf der Wandergitarre und die Lebensmittel verstauen wir aus alter Gewohnheit sowieso bärensicher in verschlossenen Vorratskammern. Deshalb können wir ohne Zwischenfälle nach einer Eimerdusche am Bach den Weg zur sagenumwobenen Felsenstadt fortsetzen. 

Wir werden auf tschechischen Straßen ordentlich geschüttelt und nicht nur gerührt, machen noch einen Umweg an einen Stau der noch jungen Elbe mit Rapunzeltürmchen und brauchen kurz vor dem Ziel in Adršpašsko eine Mittagspause. Irritiert sind wir beide von einer elektronischen Anzeige in der schmalen Allee, die in roten Buchstaben "Osvědčený" kundtut. Rot bedeutet selten Gutes und nach Befragung des Googleübersetzers ahnen wir, dass alle Parkmöglichkeiten am Ausflugsziel vergeben sind. 

Die weitere Recherche ergibt, dass während der Hauptsaison mehrere tausend Besucher täglich das Highlight stürmen, es ratsam ist, vorab Online-Tickets zu buchen und sich auf längere Wartezeiten einzustellen. Eintritt und Parkgebühren belaufen sich auf 20 - 30 Euro. Wir haben nicht nur Ober-Mega-Super-Hauptsaison, wir haben auch noch Samstag und damit Wochenende! 

Doch so schnell lassen wir uns nicht den Wind aus den Segeln nehmen. Nach einem kleinen Päuschen mit kräftigendem Mittagsimbiss packen wir unsere Siebensachen und wollen die Umstände mit eigenen Augen erkunden. 

Nein, es wurde nicht zu viel versprochen: zerklüftete Felsengebilde ziehen sich in einer markanten, beeindruckend langen und hohen Mauer scheinbar endlos am Horizont entlang. Ebenso wie die Heerscharen an Schaulustigen, Reisenden, Urlaubern, Neugierigen, Gästen, Wanderern und Pensionsmietern.

Es gibt Eisbuden, Pommes, Pilsener und kleine Felsenstädte aus Plastik zu kaufen. Jeder, der auch nur das kleinste Stückchen Grund sein Eigen nennt, verscherbelt es als Parkplatz an den Meistbietenden. Es herrscht ein unüberschaubares Gewimmel, Getümmel und Gedränge. Ich habe den Riquewihr-Effekt: ich muss hier weg! 

Nachdem der Held geschlagene zehn Minuten die Fußgänger am Zebrastreifen die Straße hat überqueren lassen, nutzt er die Lücke, die zwei mit Eis beschmadderte Kinder lassen und leitet die Flucht aus der Touristenhölle ein. 

Wir kommen im Winter wieder. 

Am Ende meiner Nerven und am Rande einer Panikattacke muss ich zu meinem endlosen Leidwesen feststellen, dass meine unersetzliche, kostbare und geliebte Tour-de-France-Bergetappen-Kappe mit den wunderbaren roten Punkten verschwunden ist.

Ohnein-ohnein-ohnein! Dieser fantastische Kopfschmuck leistet mir unbeschreibliche Dienste im Schutz gegen die Sonne, ist eine unwiederbringliche Erinnerung an unsere allererste Tour-Etappe in den französischen Pyrenäen, begleitet mich auf unzähligen kleinen und großen Reisen und ist mir unvorstellbar ans Herz gewachsen. Diese Kostbarkeit soll nun auf immer verschwunden sein?

Wir durchwühlen Stunde um Stunde die komplette Räuberhöhle. Jede Tasche, jede Ritze, jeder Hohlraum wird durchforstet, untersucht und auf links gedreht. Nichts! Ich bin untröstlich und muss mir ein Tränchen aus dem Augenwinkel wischen. Ohnein-ohnein-ohnein! 

Mein Held nimmt mich in den Arm und weiß wie immer guten Rat: wir rumpeln die gesamte Holperstrecke durchs Riesengebirge wieder zurück. Wir fahren jeden einzelnen Kilometer. 

Wir rattern über Pisten mit unzähligen Schlaglöchern zum Müllcontainer in Trutnov - kein Cap mit roten Punkten auf weißem Grund. 

Wir durchqueren langgestreckte Straßendörfer mit gröbsten Buckeln auf dem Asphalt zum Elbestau bei Dvůr Králové nad Labem - keine Sonnenmütze auf dem unerlaubten, gut belegten Parkplatz! 

Ich krieche sogar unter den blauen Škoda, verwundert beobachtet von Samstagsausflüglern. Nein, der flotte Flitzer ist nicht über meiner Kopfbedeckung zum Stehen gekommen.

Ich werde immer mutloser, die Verzweiflung steht mir ins Gesicht geschrieben.Jetzt kann das Bekleidungsstück nur noch am Beginn unserer heutigen Etappe verblieben sein, was aber sehr unwahrscheinlich ist, weil wir bei Abfahrt immer letzte Blicke auf mögliche vergessene Dinge werfen - aus leidgeprüfter Erfahrung! Was blieb nicht schon alles an schönen Orten und musste wieder eingesammelt werden?! Korkenzieher, Latschen, Brillen, Schuhe, Pfannen mit gebratenen Hühnerkeulchen - wir könnten Geschichten erzählen! 

Nach gefühlt unendlichen Stunden rappelnder Fahrt über gefühlt unendliche Kilometer hoppliger, enger, löchriger Riesengebirgsstraßen landen wir erneut am Bächlein. Im Trappercamp wird schon wieder das Feuer entzündet. 

Und eine Million Felsenstädte fallen mir vom Herzen, es ist kaum zu fassen! Das wunderbare, unersetzliche, kostbare, mit Unmengen Erinnerungen behaftete Bergtrikotcap liegt im hohen Gras am Ufer des sprudelnden Wassers!

Jetzt fällt es mir auch wieder ein: ich habe noch ein Foto gemacht, um das Schild im Gebüsch übersetzen zu können. Eine Info, die lediglich besagt, dass das Angeln verboten ist. 

Ich bin glücklich! Ich umschließe meine Mütze so fest es nur geht. Sie hat etwas roten Modder abbekommen und macht den leicht lädierten Anschein, als sei der Trecker mal drüber gerasselt. Aber ich halte sie wieder in meinen Händen, presse sie unter dicken Freudentränen an mein Herz und werde nun ganz besonders auf sie Acht geben. 

Darauf könnt ihr wetten.