Veröffentlicht: 11.10.2025







































































































Wir sind zum ichweißnichtwievielten Mal in Frankreich unterwegs und trotzdem hält das Land immer wieder neue Überraschungen bereit.
Der Kangoo zieht den Mistral tapfer durch schmale Gassen, enge Kurven und über steile Berge. Und dann überwinden wir auf 1541 Metern Höhe den Col de Finiels und staunen über einen atemberaubenden, faszinierenden, überwältigenden Anblick.
Aber die Aussicht ist einfach fabelhaft, wir stehen überumpelt sprachlos und staunen andächtig über die Wunder der Welt.
Für ein paar schöne Schnappschüsse klettern wir auf den nächsten Hügel. Der eisige Nordwind pfeift uns um die Ohren, aber kein Opfer ist für den Versuch groß genug, das umwerfende Naturspektakel im Bild festzuhalten.
Auch gemein und arglistig installierte Elektrozäune können uns nicht hindern. Der Held bildet die Vorhut und ebnet für mich den Weg, denn ich bin momentan in meiner Bewegungsfreiheit erheblich eingeschränkt.
Plötzlich durchbricht ein gellender, herzzerreißender Schrei das Heulen des Windes! Ich sehe Monsieur vor mir auf den Knien und sich mit schmerzerfüllten, tränenden Augen einen verletzten Arm halten. Ich will zu ihm eilen, ihm helfen, ihn retten - allein, meine blöden, alten, kranken Knochen verhindern ein schnelles Eingreifen.
Verzweifelt muss ich mit ansehen, wie mein Held mich tapfer zurückhält, um dann überrumpelt zu begreifen, dass nur sein uneigennütziger Einsatz verhindert, dass ich mich ungeschickt in der Barriere verheddere und das gleiche Schicksal erleide wie er: nämlich durch einen ungemein schmerzhaften Stromschlag von den Beinen gerissen zu werden, der den Stier davon abhalten soll, mit der Kuh zu kopulieren.
Nun aber erobern wir den sturmumtosten Gipfel und können nach getaner Arbeit bei der Rückkehr das Hindernis besser einschätzen. Dieses Mal ist der Held klug und vorausschauend und wirft sich gleich auf die Knie, um ohne Blessuren darunter hindurch zu robben. Dabei landet er um wenige Millimeter neben einer garstig-giftig aussehenden Spinne mit borstigen, ringelgesockten Beinen und einem furchterregend-schaurig roten runden Körper. Schnell zieht er die Hand aus dem Angriffsbereich des bedrohlich wirkenden Gliederfüßers. Das Insekt nimmt Anlauf und will sich mit scharfen Giftzähnen auf den Helden stürzen.
Mir gefriert das Blut in den Adern, doch Monsieur rollt sich im buchstäblich allerletzten Augenblick unter dem funkendensprühenden Elektrodraht hindurch, zieht geistesgegenwärtig sämtliche gefährdeten Gliedmaßen nah an den Körper und entgeht nur um Haaresbreite dem teuflischen Angriff des Arachniden.
Das Tier trollt sich geschlagen und unverrichteter Dinge und ich kann ungehindert der Gefahr entgehen.
Sapperlot, Potzblitz und Mannometer - welchem Risiko, Wagnis, Schreckgespenst man doch auf scheinbar harmlosen Wanderwegen entgehen muss!
Wir informieren uns natürlich ausführlich darüber, welchem Ungemach wir mit knapper Not entronnen sind.
Es handelt sich um das männliche Exemplar einer Ringelfüßigen Röhrenspinne, die wegen des Rückganges ihres Lebensraums stark gefährdet ist. Und ja, sie kann auch Menschen mit ihrem Biss verletzen, allerdings führt dieser lediglich zu Schmerzen im Bissbereich, Fieber und Kopfweh. Braucht man aber auch nicht, schon gar nicht auf Reisen.
Zum Glück hat der Held den kleinen roten Mann nicht total zermatscht und muss sich nicht schuldig fühlen, einen Beitrag zur Ausrottung der Art geleistet zu haben.
Inzwischen sind wir in den Ardèche-Bergen angekommen und nehmen Kurs auf den Mont Mezenc. Mich begleitet dabei ein mulmiges Gefühl. Beim letzten Besuch in dieser Region machte die Räuberhöhle schlapp und wir mussten die Reise vorzeitig unter dramatischen Umständen beenden:
https://vakantio.de/chateaugeschichten/und-taeglich-gruesst-das-murmeltier
Doch der Held wischt meine Ängste beiseite und wir genießen die Fahrt durch die beeindruckende Vulkanlandschaft. Die spitzen Kegel der einstigen Feuerspucker sind gut zu erkennen und man kann sich problemlos vorstellen, wie hier vor tausenden Jahren heiße Magma, rote Glut, sengende Hitze und riesige Flammensäulen getobt und die Landschaft geformt haben.
Wir staunen über moderne Kunst im Stil steinzeitlicher Megalithkultur á la Carnac und über ein Dorf, in dem an wirklich jeder Hauswand ein eiserner Ring befestigt ist. Ob man hier auch schon Stevensons Jünger erwartet, die ihre störrischen Eselinnen anbinden müssen?
Wir suchen Steinpilze und finden Edelkastanien, die wir zu Hause zu feinster Maronencréme à l'ardèchoise verarbeiten werden.
Die Nächte auf über 1000 Metern Höhe sind unbeschreiblich klar. Nachdem ich bei Temperaturen um schaurigkalte 2°C minutenlang über den Anblick der beinahe taghellen, berauschend strahlenden Milchstraße sprachlos bin, werde ich für meinen tapferen Trotz gegen die beißende Kälte mit einer Sternschnuppe belohnt, die mir einen Wunsch erfüllt.
Nachdem wir nach zahllosen Vulkangipfeln, tausenden engen Serpentinen, hunderten steilen Höhenmetern, abgeschiedenen Bergdörfern und gemütlich auf der Straße spazierenden Kuhherden in die Zivilisation zurückkehren, überrascht uns eine Straßensperrung bei Valence.
Bis zum Hiergibtswirklichallesplatz können wir noch fahren und dann ist Schluss. Mit Klappstühlen, Sonnenschirmen, Kühltaschen und Wimpelketten bewaffnete Heerscharen ziehen in langen Reihen kreuz und quer über einen steilen Pfad durch den Weinberg auf den Gipfel hoch oben, beinahe am Ende der Welt.
Jetzt begreifen wir auch die Bedeutung der Schilder an jedem Kreisel der vergangenen 50 Kilometer. Die Europameisterschaft im Straßenradrennen der Elite-Herren findet hier und heute statt und halb Frankreich ist außer Rand und Band. Dazu kommen noch ein paar Radverrückte aus dem Rest Europas und alle klettern auf den Weinberg, denn dort werden die Radsporthelden mehrere Runden drehen müssen.
So hoch hinaus kann ich gerade nicht wandern, das macht mein schmerzendes Bein nicht mit. Also bleiben wir an der heute fast komplett leeren D86 und spazieren zum nächsten Kreisel, um dort die Ankunft von Europas Spitzenradlern abzuwarten.
Jede Menge Polizei überwacht auf Motorrädern und an der Straße den korrekten Ablauf des Geschehens. Denn Proteste, wie in Spanien bei der letzten Vuelta sollen heute nicht zu einem Abruch des Rennens führen.
Also werden wir von einer sehr pflichtbewussten und eifrigen Mademoiselle Police mit schrillen Trillerpfeifenpfiffen angehalten und ermahnt, die - gerade vollkommen verlassene und wahrscheinlich wie seit Jahren nicht mehr friedliche - Straße zu verlassen! Akute, höchste, nie dagewesene Unfallgefahr! Wir dürfen auf keinen Fall den Asphalt betreten! IN-TER-DIT!
Nun, wir wollen doch gar nicht auf das gefährliche Pflaster, wir wollen uns lediglich auf den schönen grünen Rasen neben dem schönen bunten Fahrrad der kommunalen Grundschule auf den Kreisverkehr setzen und die Ankunft des Pélotons abwarten.
Das lässt sie gerade noch durchgehen und wir können während der nächsten halben Stunde beobachten, wie gut die junge Frau ihren Job macht und wie ernst sie ihn nimmt.
Ebenso wie uns geht es auch ihrem leicht korpulenten Kollegen, der sich seine Mittagspause nicht nehmen und das gut belegte Baguette schmecken lässt, während ihn der Eifer von Mademoiselle sichtlich verwirrt.
Keine noch so kleine Übertretung des Bordsteins entgeht ihr, kein Hobbyradler entkommt ihrer strengen Ermahnung, kein noch so fröhlicher Familienausflug darf sich an ihr vorbei schummeln. Hier wird gepfiffen und getrillert, hier ist kein Durchkommen, hier ist Betreten IN-TER-DIT!
Als sich das Fahrerfeld nähert, verstehen wir ihre Aufregung. Denn die Versorgungsfahrzeuge der Teams rasen mit einem Affenzahn über die Piste, durch den Kreisel, in das nächste Dorf, da bleibt kein Auge trocken! Gut, dass hier niemand in die Quere kommt, bremsen geht nicht mehr.
Und dann sind auch schon sie Stars an uns vorbeigebraust. Zzzzziiiisch - und weg sind sie, mit rasender Geschwindigkeit, wir sehen nur noch ihre bunten Rücken.
Ein bisschen warten wir noch, doch das Fahrerfeld auf der Bergstraße über uns zu entdecken, ist beinahe aussichtslos, zu weit ist die Entfernung. Ein letzter Nachzügler radelt nach 10 Minuten noch an uns vorbei und dreht sich verwundert nach mir um, weil ich total begeistert für ihn applaudiere. Was er verdient, wie ich finde.
Wir treten den Rückzug zum Mistral an. Das Rennen wird noch einige Zeit in mehreren Runden um Valence durch die Berge gehen. Das ist heute nicht die Tour de France, es gibt keine Werbekarawane und außerdem ist es schon wieder Zeit für meinen Mittagschlaf.
Wir finden einen schönen Platz an einer kleinen Nebenstraße am Ufer der Rhône. Weshalb das Radfahren auf dieser Piste verboten ist, begreifen wir am Montagmorgen, als der erste Kies-Laster seine Schicht beginnt und an unserem Schlafzimmer vorbeidonnert, dass die Wand wackelt und die Kaffeetasse vom Tisch vibriert. Vielleicht hat man schon den einen oder anderen Radelnden aus den dicken Zwillingsreifen gepult?
Aber das Käuzchen hat uns in der Nacht in einen ruhigen Schlaf gekauzt, den wir uns nach so viel Aufregung redlich verdient haben.
