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El Salvador: San Salvador zum zweiten

Veröffentlicht: 23.03.2018

Als wir zum zweiten Mal nach San Salvador zurückkehrten, nahmen wir uns ein Zimmer in einem unscheinbaren Hostel. Luigi, ein netter junger Mann, der uns sofort anbot, uns sein Auto und seinen Fahrer zur Verfügung zu stellen, wenn wir irgendwo hinwollten. Gerne nahmen wir das Angebot an und sagten wir würden gerne zum Vulkan fahren.

Also stand pünktlich am nächsten Tag um 8:30 Uhr unser Fahrer Luis bereit und wir fuhren los. Luis ist ein sehr netter und gesprächiger Mann, und wir hatten eine interessante Unterhaltung unterwegs.

Eigentlich hätten wir es schon lange merken sollen. Das erste Mal hätten wir es merken sollen, als Luigi sagte, es dauere etwa 3.5h-4h, den Vulkan zu besteigen, während wir gelesen hatten, es dauere nur ca. 45 min. Das zweite Mal hätten wir es merken sollen, als Luigi sagte, wir würden erst um 17:00 zurückkehren. Obwohl wir schon im Internet Tour-Anbieter angeschaut hatten, die den Ausflug als Halbtagestour anbieten. Das dritte Mal hätten wir draufkommen sollen, als Luigi uns den Preis für die Fahrt nannte, der eigentlich ziemlich stolz war, dafür das der Vulkan gleich neben San Salvador lag. Das vierte Mal hätten wir es merken sollen, nachdem wir schon etwa 2.5h im Auto gesessen hatten. Aber vor lauter netter Gespräche mit netten Leuten, merkten wir es erst, als wir schon fast angekommen waren: Wir waren auf dem falschen Vulkan!
Eigentlich wollten wir nur auf den Volcan El Boqueron, der wie gesagt, direkt neben San Salvador liegt. Der Vulkan ist sehr speziell, da es in seinem riesigen Krater einen zweiten kleinen Vulkankegel gibt, 45m hoch und perfekt symmetrisch, der 1917 bei einer Eruption entstanden ist.
Stattdessen fuhr uns Luis in den Parque Nacional de Volcanos, also sozusagen einmal quer durchs halbe Land. Dafür war der Preis dann wirklich doch nicht mehr so stolz, im Gegenteil. Und so landeten wir also beim Cerro Verde, von wo aus einmal täglich Wanderungen zu den benachbarten Vulkanen Santa Ana und Izalco starten. Wir hatten aber wirklich überhaupt keine Lust am heutigen Tag in der brütenden Hitze 4 Stunden auf den Vulkan zu marschieren, und so erklärten wir Luis, dass es sich hier um ein Missverständnis handle. Er reagierte sehr bestürzt und hatte Angst, dass dies sein Fehler war, Luigi habe ihm doch gesagt «zum Cerro Verde». Aber wir beruhigten ihn und erklärten, dass das ein Missverständnis zwischen uns und Luigi gewesen sei, schliesslich hatten wir einfach gesagt «zum Vulkan». Wer konnte denn auch ahnen, dass er darunter den Vulkan am anderen Ende El Salvadors verstehen würde?
Nun…die Sache hatte auch sein Gutes. So hatten wir jedenfalls gleich noch die Gelegenheit, die eindrücklichen Vulkane zumindest von unten zu sehen, und ausserdem hatten wir eine wunderbare Aussicht auf den Lago de Coatepeque, ein wunderschöner, blauer Kratersee mit 6km Durchmesser, der ohnehin unter den «möglichen Kippkandidaten» auf unserer Liste stand. Das zählten wir also als «abgehakt»
Da der Tag noch jung war, bot uns Luis sofort an, uns natürlich schon noch zu El Boqueron zu fahren. Unterwegs machten wir noch Halt bei einem Burger King und assen gemeinsam zu Mittag.

Nach einem ebenso langen Rückweg erreichten wir schliesslich El Boqueron, wo man wirklich bis fast zum Krater hinauffahren kann. Es handelt sich um einen geschlossenen Park mit guter Infrastruktur, wo man wirklich lediglich eine halbe Stunde Treppen steigen muss, um zum Kraterrand zu gelangen. Dort gibt es mehrere Aussichtspunkte, von wo aus man in den Krater und auf den kleinen Vulkankegel im Innern blicken kann. Wirklich sehr herzig. Dort trafen wir auch zum ersten Mal in El Salvador auf andere Touristen, worauf wir zwar auch hätten verzichten können. Am Ausgang des Parks gibt es noch ein kleines Besucherzentrum, wo die Entstehungsgeschichte des grossen und des kleinen Kraters erzählt wird. Nun, da gibt es eigentlich ja nicht sehr viel zu erzählen, es waren halt Eruptionen, die die Krater geformt hatten. Daher war die kleine Ausstellung auch mässig spannend.
Im Reiseführer stand ausserdem, dass die Aussicht auf San Salvador von hier atemberaubend sei. War sie nicht. Obwohl es sogar einen extra Aussichtsturm gibt, sah man eigentlich nicht viel von der Stadt, da hohe Bäume die Sicht versperrten.

Bald machten wir uns wieder auf den Rückweg, und nachdem wir noch eine halbe Ewigkeit im Freitag-Abend-Stau standen, waren wir tatsächlich erst etwa um 17:00 Uhr zurück.

Dieser Ausflug war wirklich unbezahlbar, allerdings nicht wegen der Vulkane oder des Sees. Er war für uns unbezahlbar wegen Luis, der uns während der Fahrt sehr viel über El Salvador und besonders über die hier herrschenden Probleme mit den Maras (Gangs) erzählte. Wir hatten zuvor schon viel darüber gelesen, aber wenn man die haarsträubenden Geschichten wirklich aus erster Hand erzählt bekommt, läuft es einem kalt den Rücken hinunter.

In ganz Zentralamerika, ausserdem in den USA und in Teilen Südamerikas, herrschen vor allem 2 Banden: die Mara Barrio 18 und die Mara Salvatrucha (auch MS-13 genannt), die als die aggressivste Gang überhaupt gilt.
Die Gangs kontrollieren vor allem die Colonias (Wohnquartiere) ausserhalb der grossen Städte, terrorisieren aber das ganze Land, bzw. den ganzen verdammten Kontinent. Die Gangs sind verfeindet, und jeder der verdächtig ist, gemeinsame Sache mit dem Gegner zu machen, wird kaltblütig und skrupellos umgebracht. Luis erzählt uns, dass «gemeinsame Sache machen» einfach nur bedeuten kann, vom eigenen Wohngebiet in ein benachbartes Wohngebiet, welches von der gegnerischen Mara kontrolliert wird, zu fahren. Es gäbe Leute, die nicht einmal mehr ihre Familien besuchen können, einfach weil diese in einem anderen Stadtteil wohnen würden. Würden sie es dennoch tun, war die Chance gross, dass sie am nächsten Tag tot auf der Strasse aufgefunden würden. Er selber würde zwar seinen Vater in San Miguel, welches hauptsächlich von der MS-13 kontrolliert wird, noch ab und zu besuchen, er würde aber jeweils nur kurz dort bleiben. Die Leute könnten aber auch nicht einfach wegziehen, erstens weil sie es sich vielfach nicht leisten können, und zweitens weil sie ebenfalls Gefahr laufen würden, ihren Fuss auf gegnerischen Boden zu setzen. Einmal «zugehörig» zu einem Mara-Gebiet, immer zugehörig zu diesem Gebiet.
Als wir an einer grossen Baustelle vorbeifuhren, fragte ich, ob das Bauunternehmen eine staatliche Firma sei, weil mir aufgefallen war, dass auch schon auf anderen Baustellen die Arbeiter alle dieselben Arbeitskleider getragen hatten. Er bejahte das und meinte, auch das sei sehr gefährlich für die Arbeiter. Die Maras würden die Arbeiter in ihrem Gebiet kontrollieren, und wenn sie feststellen, dass sie aus einem verfeindeten Gebiet stammten, müssen selbst die Bauarbeiter um ihr Leben fürchten, einfach nur weil sie ihren Job machen.
Auch Busfahrer wären stark betroffen, sie müssten Schutzgelder an die Maras bezahlen. Dafür würden die Busfahrer aber dann auch sehr rücksichtslos und egoistisch fahren, denn sie wussten, ihnen würde nichts geschehen, schliesslich standen sie unter dem Schutz der Maras und bezahlten dafür. Nicht einmal die Polizei würde die Busfahrer für schwere Regelverstösse bestrafen, da sie die Rache der Maras fürchten.
Generell könne weder das Militär noch die Polizei viel gegen die Banden ausrichten, da sie um ihr eigenes Leben und um das ihrer Familien fürchten.
Er erzählte uns auch, dass es wohl vorkommt, dass eine wohlhabende Familie plötzlich eines Morgens ein Handy im Briefkasten findet, oder es ihnen von einem Unbekannten gebracht wird. Später ruft jemand auf das Handy an und fordert grosse Geldbeträge im Austausch dafür, dass die Familie nicht umgebracht wird. Leute würden hier sogar für nur 10 Dollar einfach umgelegt, das Leben hat hier nicht viel wert.
Auch auf die Politik hätten die Maras Einfluss. Grosse Security-Firmen oder Waffenverkäufer hätten ebenfalls kein Interesse daran, den Gangs den Garaus zu machen, schliesslich würde das für sie eine geschäftliche Einbusse bedeuten. Es bräuchte dann ja keine Sicherheitsleute mehr, und die Maras gehören schliesslich zu den grössten Waffenkäufern.
Touristen seien hingegen kaum Opfer von Morden, versicherte er uns, sie werden lediglich ausgeraubt. Das haben wir tatsächlich schon von vielen Leuten gehört. Vielleicht stimmt es, vielleicht sagen sie es auch einfach, um den Touristen die Angst zu nehmen, das Land zu bereisen. Luis erzählt, er kenne sogar Salvadorianer, die einen ausländischen Pass besitzen und sagen, sie hätten nun im eigenen Land einiges weniger Probleme mit den Maras und würden von Ihnen in Ruhe gelassen werden. Die Gangs bringen nur die eigenen Leute um, nicht die fremden. Ich bin mir allerdings ziemlich sicher, wenn man als Tourist blöderweise unglücklich ins Kreuzfeuer geraten würde, würde wohl trotzdem niemand auf einen Rücksicht nehmen.
Ein Satz, den Luis gesagt hat, hat mich sehr bewegt: Viele Leute würden sich lieber wieder den Bürgerkrieg wünschen, als die Zustände, die jetzt vorherrschen. Wieviel Leid braucht es, bis ein Land sich einen 12 Jahre dauernden Krieg mit 70'000 Toten zurück wünscht?

Wir fragen Luis, ob es denn keine Möglichkeit gäbe, diese Situation zu verbessern? Er sagt, nein, es sei hoffnungslos. Es gäbe keinen Ausweg. Er hat resigniert und sich mit der Situation abgefunden. Der Situation, um sein Leben fürchten zu müssen, wenn er nur einen falschen Schritt macht, etwas Falsches sagt. Er hat sich genauso damit abgefunden, wie wohl die meisten Menschen hier.
Die Gangs sind hierarchisch organisiert, die unterste Ebene bilden Clikas, die einzelne Strassenzüge oder Wohnviertel kontrollieren. Und selbst wenn man einen hohen Anführer erwischt und einsperrt, wird dieser durch Mittelsmänner aus dem Gefängnis weiter agieren. Oder aber es rückt einfach ein anderer nach.
Wir argumentieren, dass Bildung sehr wichtig sei, und dass man mit mehr Bildung der Kriminalität vielleicht Einhalt gebieten könnte. Luis lacht und sagt, viele Familien würden ihre Kinder schon gar nicht mehr zur Schule schicken, aus Angst, dass sie dort in die Fänge der Maras geraten. Es ist zu spät. Die Maras sind schon dort, in der Schule.
Wir hatten gelesen, dass schon junge Kinder in den Colonias von den Maras angeheuert werden, um für sie Aufträge auszuführen oder Wache zu stehen. Die Kinder würden dafür 10 Dollar am Tag erhalten, und würden damit einiges besser verdienen als ihre Eltern, die täglich auf den Kaffeefeldern harte Arbeit verrichten. Wir haben gelesen, es gäbe Kinder, die willkürlich andere Kinder umbringen als Mutprobe. Die Mutprobe, die es braucht, um selbst Mitglied der Gang zu werden, einen anderen Menschen umzubringen.

Luis erzählt uns etwas, was wir schon wussten: Die Maras gabs vor dem Bürgerkrieg hier nicht, und sie sind auch nicht hier entstanden. Sie sind in den USA entstanden. Während des Krieges flüchteten viele Salvadorianer in die Staaten in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Als Antwort auf die Bedrohung durch dort bereits herrschende Gangs schlossen sie sich ebenfalls zusammen und gründeten eigene Banden, so zb. Die Mara Salvatrucha, deren Gründungsmitglieder hauptsächlich Salvadorianer waren, wobei man aber wohl nicht aus Salvador stammen muss, um der Gang anzugehören. Der Name der Gang Barrio 18 stammt von der 18. Strasse in Los Angeles.
In den 90er-Jahren wurden viele illegal eingewanderte Latinos aus den USA ausgeschafft und mussten in ihre Heimatländer zurückkehren. Die Gang nahmen sie mit, ebenso wie ihre Verrohung und Skrupellosigkeit und terrorisierten von nun an ihre eigenen Landsleute. Die Maras kommen aber nicht nur in Salvador und den USA vor, auch in Honduras, Guatemala, Nicaragua und auch in Teilen Südamerikas sind sie verbreitet. Im Internet lasen wir sogar von einem Anschlag von Mitgliedern der MS-13 auf einen Billett-Kontrolleur in Mailand. Ernsthaft jetzt? Mailand? Mailand!
Ich frage mich an dieser Stelle, woher sich der heutige Präsident der USA das Recht nimmt, diese Länder als «Shitholes» zu bezeichnen. So wie es für mich scheint, nachdem was wir in Perquin über den Bürgerkrieg und in San Salvador über die Bandenkriminalität erfahren haben, trägt die USA nämlich ebenso eine Mitverantwortung an den schrecklichen Zuständen in diesen Ländern.

Immer mal wieder schauen wir in die lokalen Nachrichten im Internet. In der Zeitung gibt es sogar eine Extra-Rubrik «Gewalt heute». Heute gab es «nur» 10 Tote. Der Mordrate liegt wohl bei etwa 6500 im Jahr, das wären 18 Opfer täglich. Es wird aufgezählt welches Geschlecht sie hatten, wie alt sie waren, ob man die Identität kennt und wo ihre Leichen gefunden wurden.

Was braucht es, um diese Situation zu verbessern, dieses Land und seine Einwohner zu retten? Muss man die Maras alle töten? Einen weiteren Krieg? Einen Genozid, an 60'000-70’000 Gangmitgliedern allein in El Salvador (im Vergleich zu etwa 7 Mio. Einwohnern)? Darf man so etwas überhaupt denken? Es laut aussprechen? Es in einem Blog niederschreiben? Ich weiss es nicht. Es scheint alles so hoffnungslos.

Ich bin nachdenklich. Nachdenklich und furchtbar traurig. Ich trauere um dieses hübsche Land und seine freundlichen Einwohner. Ich trauere um die 10 Toten heute, um die von gestern und um die von morgen.

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