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Goodbye Patagonia - Hello COVID-19

Veröffentlicht: 20.03.2020

Donnerstag, 12.03.2020

Wir brechen von unserem einsamen, abgelegenen Stellplatz am Fluss bei Nieselregen auf und fahren um die Süd-West-Spitze des Lago General Carrera nach Puerto Guadal. Der mit Argentinien geteilte See ist die größte Süßwasserquelle in Chile und der zweitgrößte See in ganz Südamerika, mit einer maximalen Tiefe von 580 Metern. In dem kleinen Örtchen gibt es nicht viel zu sehen, also ziehen wir mit zwei Studenten aus Santiago im Schlepptau weiter Richtung Osten. Die abenteuerliche Straße schlängelt sich für Stunden mit tollem Ausblick an der teilweise steilen Küste entlang. Kurz vor der Grenze zu Argentinien kommt das süße Städtchen Chile Chico, wo wir den sonnigen Nachmittag am Seeufer mit kochen verbringen.

Später fahren wir zwei Stunden Schotterpiste nach Süden, in den Nationalpark Jeinimeni. Zehn Minuten nach der Schließung des Parks kommen wir am Eingang an. Netterweise kommt der Ranger nochmal aus seinem Privathaus, um uns reinzulassen und die Gebühr für Park und Camping zu kassieren. Der Campingplatz hat nur sieben sehr weitläufig im Wald verstreute Plätze und liegt direkt am wunderschönen Lago Jeinimeni.

Freitag, 13.03.2020

Gemütlich wandern wir am Lago Jeinimeni entlang, zur Laguna Esmeralda und zum Lago Verde, zwei strahlend türkis-blauen Seen. Die Kulisse bilden mehrschichtig bunte Berge und frische, grüne Wälder, wir sind fast ganz allein. Ein Stück des Weges gehen wir mit Taylor, einem Amerikaner aus Indiana in meinem Alter, und unterhalten uns gut. In den USA führt er Gruppen auf Outdoor-Expeditionen, jetzt ist er gerade alleine von seinem Zuhause bis zur Südspitze Chiles unterwegs - per Kayak, Segelboot, Rad, als Tramper und zu Fuß. Er ist also schon ziemlich am Ende seiner Reise angekommen und scheint darüber auch etwas froh zu sein.

Wir wandern den Weg wieder zurück und fahren die Schotterpiste nach Chile Chico im Abendlicht, mit toller Sicht auf die bergige Steppe mit tiefen Schluchten, in denen ein rauschender Fluss vor sich hin meandert. Ben und ich unterhalten uns viel über mögliche Geschäfts- und Lebensmodelle für unsere Zukunft, mit denen wir unsere Liebe für die Natur und das Draußenleben mit einem guten Lebensstandard verbinden können. In Chile Chico geht es nochmal auf einen Campingplatz, diesmal mit (zumindest lauwarmer) Dusche und wir waschen Wäsche. Im windgeschützten Shelter verkochen wir mal wieder das Gemüse und machen mit ein paar Zweigen von der Uferpromenade ein kleines Feuer gegen die allabendliche Kälte.

Samstag, 14.03.2020

Nach der Ein- und Ausreiseprozedur geht es für eine Weile durch die argentinische Steppe. Mittagspause machen wir abgelegen in einer tiefen Schlucht mit einem ausgetrockneten Flussbett. Durch den sandigen, rot-braunen Canyon pfeift ordentlich Wind, aber in einer etwas geschützten Mulde kann ich mich sogar ein bisschen sonnen. Den Rest des Tages sitzen wir wieder im Auto und rollen gemütlich Richtung Süden. Die gemeinsame Zeit neigt sich langsam dem Ende zu. Oder doch nicht? Aus gegebenem Anlass (Corona Pandemie) wurde Ben's Rückflug von Santiago nach München (über Madrid) gestern storniert. Wir schlafen erstmal drüber.

Stop machen wir in dem Örtchen Gobernador Gregores, mitten im argentinischen Niemandsland. Trotz der geringen Größe gibt es ein Krankenhaus, ein Altenheim und ein Kino, das wir leider erst kurz vor der Abfahrt am nächsten Morgen entdecken. Es ist nicht viel los, aber der Ort ist uns sympathisch. Der kommunale Campingplatz ist süß und super ausgestattet, wir fühlen uns wohl hier.

Sonntag, 15.03.2020

Wir beschließen spontan, doch noch zur argentinischen Küste zu fahren, und durchqueren das weitläufige Nichts. In Puerto Santa Cruz, am Meer, wollen wir eigentlich nur Mittagspause machen, bleiben aber irgendwie in der ausgestorbenen Geisterstadt hängen. Die Temperaturen sind überraschend sommerlich und wir flanieren die leere Strandpromenade im Sonnenuntergang auf und ab. 

Es gibt genau drei offene Restaurants im Ort. Bei einem waren wir am Nachmittag bereits, das zweite hat uns aus Quarantäne-Gründen abgelehnt und im dritten haben wir schließlich einfach, gut und günstig gegessen, allerdings komplett allein. Wir hängen auch viel im Internet rum und versuchen, uns nicht von den kursierenden, verwirrenden Nachrichten wahnsinnig machen zu lassen. Grenzschließungen, Ausgangssperren, Unklarheit - der Ernst der Lage ist schwer zu beurteilen, besonders hier in der Abgeschiedenheit. Aber es nützt ja nichts, die Erde dreht sich noch und wir reisen vorerst nach Plan weiter, also zurück nach Punta Arenas. Wenn Chile uns wieder reinlässt… Und bis dahin genießen wir die Zeit, so gut es geht, gönnen uns einen Abend im süßen, örtlichen Kino mit zwei anderen Gästen und gehen dann, mit leicht einem sitzen von Bier und Wein mit Fanta, ins Bett.

Montag, 16.03.2020

Ausnahmsweise raffen wir uns vor Sonnenaufgang auf und kriechen aus dem warmen Schlafsack. Ein paar alte, rostige Bootsleichen, die am Strand liegen und langsam zerfallen, haben es uns angetan und wir machen eine kleine Fotosession dort. Danach geht es aber zügig weiter nach Süden, da übermorgen wohl die chilenische Grenze für Ausländer dicht macht. Am Grenzposten treffen wir tatsächlich andere Deutsche, die gerade mit Mundschutz in Quarantäne gesteckt werden, da sie noch keine zwei Wochen aus Deutschland raus sind. Wir kommen zum Glück ohne Probleme durch, nur der Salat muss entsorgt werden.

Wir fahren ein Stück weiter in den Nationalpark Pali Aike, der liegt gerade praktisch auf dem Weg. Geplant sind keine weiteren Ziele, aber wir haben noch ein paar Tage Zeit, bis wir das Auto abgeben müssen und Ben, zumindest bis nach Santiago, fliegt. An der Ranger-Station herrscht auch etwas komische Stimmung, denn die Ranger mussten ihr Büro offiziell schließen, der Park bleibt aber weiter offen. Also kommt die nette Rangerin eben zu uns raus vor die Tür, um uns zu beraten und zu kassieren. Wir machen noch eine kurze Tour zu einem See, an dem manchmal Flamingos zu finden sind, wir bekommen aber nur Wind. Schlafen müssen wir am Eingang bei den Rangern, haben dafür aber etwas Windschutz und Toiletten. Für ein wenig Normalität, und weil es draußen recht unwirtlich ist, kuscheln wir uns in die Schlafsäcke und schauen auf meinem Handy einen Film an.

Dienstag, 17.03.2020

Als einzige Gäste fahren wir nochmal in den Park, um die 7 km Wanderung über verschiedene Lavafelder von mehreren Vulkanen zu machen. Wir sehen ein paar Vulkankrater, viele Guanakos und Ñandus, und kämpfen gegen den Wind an. Zurück am Eingang wird frischer Kakao gekocht, davon trinke ich zur Zeit recht viel. Aber nicht der gezuckerte Fertig-Kakao, sondern reiner Kakao, mit ein paar Gewürzen verfeinert und nur mit Wasser aufgegossen. Darauf bin ich in Grenada gekommen, wo es genau dafür fertige Kugeln mit Kakao von der Insel gibt. Hier muss ich leider auf weniger hochwertigen Backkakao zurückgreifen, deshalb süße ich doch etwas mit Honig.

Nachmittags fahren wir weiter und machen kurz in Punta Arenas Halt. Ben bekommt nochmal Ceviche, ich ein Eis und ein Empanada. Ben möchte eigentlich Mundschutz und Desinfektionsmittel kaufen, beides ist aber in allen Apotheken aus. Um uns wieder etwas zu beruhigen lese ich auf der Weiterfahrt alle möglichen Informationen aus offiziellen Quellen zum Coronavirus vor. In Zeiten großer Unsicherheit hilft mir vor allem, Klarheit zu schaffen. Aber eigentlich bin ich trotz der Umstände noch relativ entspannt. Nicht, weil ich die Lage nicht als ernsthaft und weitreichend einschätze, sondern weil ich weiß, dass die Erde sich weiter drehen wird.

Mittwoch, 18.03.2020

Südlich von Punta Arenas haben wir im Wald, mit Blick auf das Meer, bei Nieselregen geschlafen. Als wir in der Früh aufstehen, werden wir von ein paar Delfinen ganz nah am Ufer begrüßt. Da es kalt und nass ist, sitzen wir den Vormittag im Auto aus und informieren uns weiter über die aktuelle Lage und unsere Optionen.

Nachmittags klart das Wetter etwas auf und wir machen unsere vorerst letzte Wanderung. Der Weg führt uns am groben, schroffen Steinstrand entlang bis zu einem verlassenen Leuchtturm - Faro San Isidro. Eigentlich ist es nicht weit, aber wir sinken in den Steinen ein wie im Schnee, und jeder Schritt ist doppelt so anstrengend wie sonst. Wir laufen auf der südlichsten Festland-Straße der Welt und die Stimmung passt ganz gut zum Ende-der-Welt-Gefühl.

Abends fahren wir zurück nach Punta Arenas und möchten uns irgendwo im trockenen und warmen einnisten. Wir sind aber etwas zu spät dran und müde und es ist dunkel, und so stellen wir uns recht blöd an bei der Suche nach einer Unterkunft. Wir sind schon kurz vor dem verzweifeln, als wir endlich ein kleines, familiäres Hostel finden. Dort bekommen wir ein bezahlbares Doppelzimmer mit eigenem Bad und kleiner Gasheizung und sind heilfroh. Wir lieben das Leben im Camper, aber nach 25 Nächten draußen bei patagonischem Wetter und einer zu kurzen Matratze wollen wir unsere letzten gemeinsamen Tage etwas mehr Luxus. Nach der heißen Dusche geht es schnell ins Bett.

Donnerstag, 19.03.2020

Endlich sind wir bei Iberia durchgekommen und konnten Ben tatsächlich auf einen anderen Flug umbuchen. Statt morgen fliegt er nun Dienstag nach Hause - hoffentlich. Wie ich weitermache steht noch in den Sternen, die Situation ist schwer einzuschätzen. Eine richtige oder falsche Entscheidung gibt es denke ich nicht.

Vormittags machen wir einen Spaziergang durch die relativ menschenleere Stadt und sprechen mit anderen Reisenden. Alle Deutschen in Chile, mit denen wir gesprochen haben, nehmen den nächsten Flug nach Deutschland zurück, niemand möchte hier "steckenbleiben". Man hat Angst vor nie wieder fliegenden Fliegern, vor schlechter medizinischer Versorgung, vor dem allein sein. Ernsthaft teilen kann ich keine dieser Ängste. Aber ich habe auch Verständnis.

Im Laufe des Tages kontaktiere ich einige chilenische Bekannte, um mich noch besser über die Lage im Land und meine Optionen zu informieren. Auch mit zuhause gibt es ein paar Telefonate und Abwägungen. Eigentlich möchte ich noch nicht nach Hause, fühle mich noch nicht wirklich bereit dafür. Aber unvernünftig, oder wie Ben sagt leichtsinnig, möchte ich mich natürlich auch nicht verhalten. Eine klare Handlungsempfehlung kann mir niemand geben, sowohl bleiben als auch heimfliegen hat Vor- und Nachteile, schöne Seiten und unbekannte Risiken. Um mich selbst mache ich mir am wenigsten Sorgen, aber um die Menschen um mich herum. Denn wenn ich hier in Chile bleibe, gefährde ich die Leute, die mich bei sich zuhause aufnehmen.

Nachmittags geht's nochmal raus ins Schmuddelwetter, den Kopf durchpusten lassen. Abends werden Reste verkocht und eine Flasche Wein geköpft, dazu ein Film - der entspannteste Abend seit langem.

Irgendwo im Laufe des Tages fiel meine vorläufige Entscheidung (fast alle Entscheidungen sind vorläufig und man kann seine Meinung glücklicherweise meist jederzeit ändern) - ich bleibe erstmal hier. In Chillán kann ich bei Juan's Mama Ursula eine Weile unterschlüpfen und werde mir dort selbst Hausarrest verordnen. Das größte Risiko ist die Ansteckung von Ursula, wenn ich mir auf dem Weg nach Chillán den Virus hole. Das werde ich mit allen Möglichkeiten, Vorkehrungen und Sicherheitsmaßnahmen versuchen zu verhindern. Ansonsten bin ich recht zufrieden mit dieser Entscheidung und freue mich tatsächlich auf die Zeit, in der ich mich mal nur mit mir selbst beschäftigen kann und nicht ständig weiterreisen "muss".

Freitag, 20.03.2020

Wir räumen den Campervan aus, bringen ihr zur Autowäsche und geben ihn dann bei der Vermietung zurück. Die Straßen in der Stadt sind ziemlich leer und geschätzt 80% der Läden, außer Supermärkte und Apotheken, sind bereits geschlossen. In einigen Läden wird der Zutritt reguliert auf wenige Personen, manche verlangen nach dem Tragen eines Mundschutzes beim Betreten. Es gibt leider keinen Mundschutz mehr zu kaufen, genau wie jegliche Desinfektionsmittel. Uns bleibt Wasser und Seife. Ist mir eigentlich auch ganz recht, wegen der zusätzlichen Umweltverschmutzung, aber wenn man unter Menschen muss, wie beim Fliegen oder Busfahren, hätte ich den Schutz schon auch gerne. Die meisten Menschen hier im Süden von Chile nehmen die Situation bereits sehr ernst, obwohl es in der ganzen Region erst einen oder zwei bekannte Fälle des Coronavirus gibt.

Der Rest des Tages wird sich entspannt und die gemeinsame Zeit genossen, morgen geht es für mich weiter. 

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