Mit Geschichte(n) um die Welt
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Der Weg zur (Langzeit-) Forschungsreise beginnt im Kopf - und trotzdem: Wo eigentlich anfangen?

Veröffentlicht: 12.06.2023

Warum dieser Blog?

Darauf gibt es viele Antworten: Eine wäre simpel: ich wurde danach gefragt, denn mich trägt meine Diss (=Doktorarbeit) die nächsten Monate um die Welt. Eine andere – noch Treffendere – ist jedoch, dass ich möchte, dass das Thema meiner Doktorarbeit im deutschsprachigen Raum bekannter wird. Warum halte ich das für wichtig? Oft weiß ich gar nicht, wo ich genau anfangen soll, wenn ich nach dem Thema meiner Arbeit gefragt werde.

„Displaced Persons? DP? Noch nie gehört!“

Das Thema ist nicht irrelevant. Im Gegenteil, es ist einfach wenig bekannt in der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Es passt(e) oft nicht in die „einfache“ Geschichtsschreibung und Erzählung; die ist ja auch mit Ost- und Westdeutschland, Kalter Krieg,… kompliziert genug.

Oder?

Schauen wir mal. Ich denke, vieles benötigt einen Perspektivwechsel.

Das Forschungsfeld DP-Geschichte zeigt, wie vielfältig die deutsche Geschichte – oder viel besser: Geschichte der Menschen in Deutschland nach 1945 war und ist. Das Thema lässt sich dabei nicht besonders einfach fassen und auch wenn es in den letzten Jahrzehnten mehr Forschung dazu gab, so existiert in der breiten Mehrheitsgesellschaft kaum Wissen darüber, dass mit und nach Ende des Zweiten Weltkrieges etwa 10, 11 oder sogar 12 MILLIONEN Displaced Persons gezählt wurden. – Zahlenmäßig sind das etwas mehr als dreimal aller heutigen Berliner:innen zusammen!

Von den DPs verblieben über 1 Million Menschen vor allem im deutschsprachigen Raum und hier besonders in den westlichen Besatzungszonen Deutschlands. Diese verwaltungstechnisch als DPs kategorisierten Menschen kamen vor allem aus dem östlichen und südöstlichen Europa. Sie verblieben oft über Jahre hinweg (und zum Teil auf Dauer) außerhalb ihrer Herkunftsländer.

Warum kehrten sie eigentlich nicht zurück?

Leider habe ich diese Wortwolke für einen Vortrag nur auf Englisch erstellt, daher hier die Übersetzung: Wohin?   Grenzverschiebungen,  Keinen Kontakt zu Familie oder Freund:innen,  wirtschaftliche Gründe, (Ehe-)Frau aus Deutschland oder Österreich,  Kooperation mit den Nazis,  Kriegszerstörungen, politische Gründe, Krankheit, Priorität: Rückführung der sowjetischen Bürger:innen, für jüdische Überlebende: Antisemitismus ©SGrandke

Displaced Persons hatten unterschiedliche Herkünfte und Religionen und sprachen verschiedene Sprachen. DPs hatten den Zweiten Weltkrieg und den Nationalsozialismus sehr unterschiedlich er- und überlebt: Welche verschiedenen Teilgruppen lassen sich unterscheiden?


Es würden sich noch viele weitere Gruppen finden, diese "Großgruppen" hier jedoch zum besseren Verständnis. Die Zahlenverhältnisse sind Pi mal Daumen. ;) ©SGrandke

Was alle DPs gemeinsam hatten, war lediglich die alliierte Verwaltungskategorie „DP“ und das Dasein außerhalb des eigenen Herkunftslandes bei Kriegsende.

Was will ich eigentlich wissen und erforschen?

Ich möchte herausfinden, wie diese Menschen die Zeit in Deutschland erlebt hatten, wie sie die Zeit im Übergang für sich nutzten und wie sie Deutschland trotz oder auch gerade wegen ihres vorrübergehenden Aufenthaltes mitgestalteten. Schlagworte dabei sind: Handlungs- und Schaffenskraft, im Englischen „agency“ genannt – und seit geraumer Zeit ziemlich angesagt in den Sozialwissenschaften.

Meine Fallstudie bezieht sich dabei auf das DP-Camp Flossenbürg – ein DP-Camp in der US-amerikanischen Besatzungszone, genauer in der bayerischen Oberpfalz und auf dem Gelände eines ehemaligen KZs.

Mehr zur KZ-Geschichte und der Gedenkstätte Flossenbürg hier: https://www.gedenkstaette-flossenbuerg.de/de/

Hab ich nicht schon genug zu tun?

Doch, absolut!

Mir ist es aber wichtig, dass wissenschaftliche Forschung nicht nur in einer abgehobenen Blase stattfindet oder Forschungsergebnisse in einer Schublade verschwinden. Und auch Geschichtswissenschaft gehört in die breite Gesellschaft. Sie gehört so geschrieben, dass sie zeigt, wie vielfältig die Welt war (und ist). Sie gehört zugleich so geschrieben, dass sie verständlich, anregend und packend, vor allem erhellend ist. Manches lässt sich im Rückspiegel klarer erkennen als im täglichen Durcheinander und Chaos, das gilt für jede/n Einzelne/n, das gilt für Gesellschaften.

Ich kann nicht versprechen, dass man/frau aus der Geschichte lernen kann. Ich sehe aber das Potential dazu, das ist zumindest etwas. Die Beschäftigung mit der Vergangenheit hilft, Fragen zu stellen und sich nicht mit einfachen Antworten zufrieden zu geben. Ich hoffe, dass der Blick zurück den Weg nach vorn ebnet. Und ich möchte den Menschen eine Stimme geben, die in der eher deutschzentrierten Erinnerungskultur bisher wenig bis gar nicht vorkommen. Nach Anna Holian – ich bin ein großer Fan! – ist die DP-Geschichte die „vergessene Geschichte Osteuropas made in Germany“ und eben jener möchte ich nachgehen und möglichst viele Leute mitnehmen. (Vgl.: Anna Holian: Between National Socialism and Soviet Communism. Displaced Persons in Postwar Germany, 2011, S. 3).

Woher hast du das Geld für sowas?

Ich liebe es zu reisen und habe damit früh angefangen. Ich brauche nicht (so) viel Geld und mache seit Jahren kaum noch „Urlaub“ im touristischen Sinne. Ich bin fasziniert von digitalen Nomaden und inspiriert – ich gebe es zu – von u.a. John Strelecky und anderen.

Ich spare weder für ein Haus noch ein Auto noch sonst was Großes. Ich habe zudem die letzten Jahre gespart und mich auf Forschungsstipendien beworben und schon allein der Weg bis hierher war auch und ehrlicherweise viel und harte Arbeit.

Mein Ziel, manche würden sagen mein Traum oder meine Vision, war von Anfang an, dass mich meine Doktorarbeit um die Welt trägt.

Ich wollte ein Thema erforschen, dass ich für sinnvoll und wichtig erachte. Ich wollte dabei nicht nur in der Zeit reisen, sondern auch im Raum.

Bereits in den letzten Jahren war ich für meine Doktorarbeit viel unterwegs: Vorarbeiten 2020 in Österreich und Bayern, 2021/2022 in den USA (u.a. mit Unterstützung der Stiftung Zeitlehren und der Bayerischen Amerika-Gesellschaft) und 2023 Stipendiatin am Deutschen Historischen Institut in Warschau. Seit letztem Jahr habe ich ein Promotionsstipendium der Heinrich-Böll-Stiftung angetreten. Das war ein aufwendiger Bewerbungsprozess und ich bin glücklich und auch stolz, diese Unterstützung für meine Arbeit zu erhalten.

Was nehme ich mit?

Maximal 15 Kilo in meinem Rucksack, Wandersachen, mein (privates) Reisetagebuch, eine große Portion Abenteuerlust, Fernweh und Vorfreude sowie meinen Laptop und mein Handy.

Was habe ich vorbereitet?

Dies ist eine Forschungsreise, d.h. im Vorfeld musste ich viele Absprachen treffen und vor allem vorarbeiten. Wohin lohnt sich die Reise wirklich – das war aufwendig und auch anstrengend, zuweilen (über-)fordernd. Wen möchte ich treffen, wen muss/kann/möchte ich sprechen? Wo möchte ich einen Vortrag halten und wer möchte, dass ich dorthin komme und mich einbringe?

Vieles der kommenden Monate ist selfmade, also selbst organisiert. Da ich nun bereits über 10 Jahre im Museums- und Gedenkstättenbereich arbeite, kenne ich viele Leute und viele Leute kennen mich und meine Arbeit. Dieses Netzwerk war und ist absolut hilfreich, sei es beim Finden von Ansprechpartner:innen, Unterstützer:innen, der Material- wie – sehr banal – der Unterkunftssuche. Über (spätestens) zwei Ecken kannte und kenne ich jemanden, von hier bis nach Sydney/Australien und „auf dem Weg“ zwischen Hamburg, der Uckermark, England und Kanada. Das ist (und war) vor allem ermutigend und zeigte mir: die Welt ist kleiner als sie uns oft erscheint und vieles ist so viel näher dran als wir denken.

Das Wichtigste bisher war aber meine Herangehensweise und am Allerwichtigsten, all diejenigen, die mich kennen und unterstützen und mich positiv bestärken und mir geholfen haben noch eine Schippe draufzulegen.

Als Beispiel: meine gute Freundin Nicole, derzeit in den USA zur Promotion. Als wir uns das letzte Mal persönlich trafen - 2022 -, lud sie mich zu einer Konferenz an 'ihre Uni' ein. Ich antwortete wild entschlossen:

„Ich will nach Australien, die USA ist da nicht auf dem Weg. Außerdem würde ich wenn, dann nach Kanada wollen, da gibt es einige Archive, die mich interessieren würden, aber das ist eben nicht auf dem Weg.“

Nicole lachte, saß mir gegenüber, grinste breit und sagte:

„Du würdest mich wegen solcher Sätze auslachen und sagen: Du hast aber eine eingefahrene Sichtweise! Die Welt ist eine Kugel! Nach Australien kannst du auch über Kanada fliegen. Du hast zu sehr die Weltkarte im Kopf, die so ist, wie sie mal gezeichnet wurde, vor hunderten von Jahren, mit Europa in der Mitte.“

Die Welt ist eine Kugel – Das stimmt! Und: ertappt! Es fiel mir, mit etwas Abstand wie Schuppen von den Augen. Ich hatte es (offensichtlich) vergessen und somit bin ich nun auf dem Weg nach Westen über einige Stationen bis nach Australien.

Habe ich manchmal Angst oder zumindest Bedenken?

Ja.

Darüber, dass alles eine ziemlich verrückte Idee ist. Darüber, dass ich mir ein viel zu schwieriges Thema ausgesucht habe. Darüber, dass das doch kaum (?) jemanden interessiert. Darüber, dass ich nach der Reise mehr Fragen als Antworten habe. Darüber, dass ich vielleicht gar nicht mehr nach Deutschland zurückkomme. Darüber, dass ich vielleicht auch Momente haben werde, in denen ich mich allein fühlen werde; beim Schreiben und Recherchieren, wie auch beim Reisen. Darüber, dass ich auch viel zurücklasse. Darüber, dass irgendetwas, hier wie dort passieren könnte. Darüber, dass das Zurückkehren oft viel schwerer ist als das Losgehen.

Hält es mich ab?

Der mir wohl wertvollste Besitz: meine Reisetagebücher 2008ff.

Sicher nicht.

Nachtrag

Vermutlich hatte ich auch deswegen den Weg über Asien in meinem Kopf, da ich lange dachte, dass ich noch einmal nach Neuseeland möchte, irgendwann halt, nochmal für etwas länger. Und dies soweit wie möglich über den Land- und Seeweg. Weit – ein Weg um die Welt, lässt grüßen.

Dann kam ein toller Job nach dem Nächsten – was für ein Glück und Privileg und dennoch! Dann war ich an dem Ort - Hamburg - an dem ich seit dem Studium leben wollte, mein Traumjob in Hafennähe war es (zeitweise) auch. Dann kamen Covid und Grenzschließungen, nach Belarus fuhr zusätzlich ab Sommer 2020 kein Zug mehr – aufgrund des brutalen Vorgehens der Regierung gegen die Massenproteste. Mit dem 24.2.2022, der nun große russische Krieg gegen die Ukraine, begann eine weitere menschengemachte Katastrophe. Ukraine, Belarus, Russland. Alles Länder (und Menschen) mit denen ich mich verbunden fühle. Mit dem Zug durch Russland kann ich mir derzeit nicht vorstellen, selbst wenn es möglich ist. Dafür verstehe ich zu viel von der Sprache als dass ich alles einfach ignorieren könnte.

Displaced das sind derzeit immer mehr Menschen weltweit und auch in der Ukraine wird bereits seit 2014 der Begriff 'IDP' gebraucht – internally displaced person (auf Deutsch in etwa: Binnenflüchtlinge). Mein historisches Thema ist daher auf traurige Art aktuell geworden und da ich Mitglied bin und die Leute dahinter sehr gut kenne und ebenfalls engagiert bin, sei hierauf verwiesen: https://hilfsnetzwerk-nsverfolgte.de/ sowie auf https://www.libereco.org

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