Veröffentlicht: 15.12.2024
Hawaii, Honululu, Hamilton Library, die Unibibliothek, 3. Stock. Dort bin ich mit Patricia verabredet. „Die meisten kommen zum Urlaub machen, aber manchmal kommen sie eben auch nach Hawaii zu uns”, begrüßt sie mich mit einem herzlichen Lächeln und nach dem obligatorischen „Aloha”. Patricias Schreibtisch und das kleine Archiv kann ich leicht finden. Schon an einigen Stellen vor ihrem Büro sind Plakate und Wandbilder zum Thema Russland und Aufrufe zum Russischlernen angebracht. Ihren Büroeingang, der zur Hälfte verglast ist, ziert der Moskauer Kreml in Buntglasvariante.
Draußen sind 30 Grad, Palmen und Sonnenschein, ja, wir sind in/auf Hawaii. Patricias Lebensaufgabe, ja Lebenswerk dreht sich vor allem um Russland - oder richtiger um russische Exilanten und Exilantinnen und hier besonders in Südostasien. Aber auch das ist von Hawaii, der abgelegensten Inselkette der Welt, mitten im Pazifik, weit entfernt.
Oder eben nicht, je nach Perspektive.
Patricia, weißgraue, schulterlange Haare, schätze ich auf etwa 70, vielleicht ist sie aber auch älter, denn sie erzählt mir, dass sie dieses Jahr (2024) ihr 56. Jubiläum als Bibliothekarin hat. 56 Jahre, mehr als ein halbes Jahrhundert.
Ich bin beeindruckt über diese Beständigkeit und Zugewandtheit zu diesem Thema. Am Anfang, so erzählt sie, war es nur ein bisschen, aber dann wurde der Sammlungsschwerpunkt zu Russen in China, Südostasien und dann auch Australien und Südamerika immer größer. Heute ist es einer der zentralen Orte zum Thema. Wer zu Antikommunisten aus Russland arbeitet, kommt wohl irgendwann auch auf die Uni-Bib Hawaii.
Zu Patricia hat mich ein Freundschaftsdienst gebracht. „Kann ich dich vielleicht fragen, ob du was für mich anschauen kannst? Aber wirklich nur, falls du eh dort bist, ich finde du brauchst unbedingt ganz viel Freizeit zum Surfen 🏄♂️ 🏄♀️ 🌞”, schrieb mir Lena vor ein paar Wochen.
„Russen auf Hawaii, den Zwischenstopp würde ich einlegen!” und sagte natürlich zu.
So führt mich Tag zwei auf Hawaii weg vom touristischen Strand in Waikiki hin in Richtung Berge, hin zum Unicampus, in den dritten Stock der Bib zu Patricia.
Patricia versprüht Begeisterung für ihr Thema, für ihre Sammlung. Ich bin fasziniert und beeindruckt. Ich gehe davon aus, dass sie selbst Nachkommin sein muss, so viel Engagement für dieses Thema auf Hawaii, ihr Nachname ist Polansky. Es erscheint naheliegend, dass sie nicht "nur" Amerikanerin ist. Doch es ist ganz anders: sie erzählt, dass sie deutsch-irische Vorfahren hat und als sie noch klein war, sind ihre Eltern nach Hawaii gezogen. Patricias Vater arbeitete für die US-Armee.
Und warum liegen diese russischsprachigen Materialien nun hier, auf Hawaii?
Und noch viel mehr, wie kamen überhaupt Antikommunisten und Antikommunistinnen nach Südostasien, nach Shanghai, dann später auf die Philippinen, um dann nach Australien oder nach Amerika zu emigrieren? So viele Fragen und wo fangen wir da an?
Auch hier, es ist komplex und ja, auch das ist DP-Geschichte. Lena und andere sind bei diesem Thema bei Weitem mehr Expert:innen als ich. Zudem ist mein Russisch sowas von eingerostet. Ich versuche es also mal kurz und in groben Zügen und zugleich muss ich dafür weit zurückgreifen: Im Ersten Weltkrieg wurde die Sowjetunion gegründet, es kam zum Bürgerkrieg zwischen mehreren Parteien. Hier beschränken wir uns mal auf Antikommunisten (auch als Antibolschewisten bezeichnet) gegen Bolschewisten, also Lenin und Co. Ein Teil dieser antikommunistischen Kräfte verließ letztendlich die Sowjetunion - oder eher musste sie verlassen (Gewalt, Terror,...). Einige gingen nach Osten, über Sibirien und noch weiter nach China, irgendwann kamen sie nach Shanghai (siehe z.B. meinen Post zu Shanghai). Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Gründung der kommunistischen Volksrepublik China unter Mao kamen eben diese Antikommunisten aus dem ehemaligen russischen Zarenreich auf die Philippinen. Dort mussten sie darauf warten, was aus ihnen werden sollte. Auch sie galten für die Alliierten als Displaced Persons - genauso wie die z.B. in Flossenbürg und Österreich, mit denen ich mich beschäftige.
Was hat das aber nun alles mit Hawaii zu tun, den Inseln im Pazifik?
Patricia, die fließend Russisch spricht und den Sammlungsschwerpunkt an der Uni-Bib von Hawaii aufgebaut hat, erzählt mir, dass sie eher durch Zufall zu dem Thema kam, im Studium, hier auf Hawaii, vor etwa 60 Jahren – das war in der Hochphase des Kalten Krieges. Stolz erzählt sie, dass Hawaii den ersten Lehrstuhl an einer US-amerikanischen Uni hatte, an dem man Russisch lernen konnte, bereits 1936. Die Beschäftigung mit Russland hat also an der Uni Hawaii Tradition.
Nun, schaut man auf die Karte, ist Russland ja quasi auch ein Nachbar-, ein Anrainerstaat. Es dauert eben nur ein bisschen bis man dahin kommt, einmal über den Nordpazifik.
Patricias Büro und auch der Raum mit der Sammlung zu „Russen in Südostasien” selbst ist neben Bibliothek und Archiv eine Sammlung von Souveniers und Relikten: Wimpel aus Karelien, Magnete und anderer Kleinkram aus russischen Städten, ein paar Gemälde; auf ihrem Schreibtisch ein Foto von Navalny, daneben ein rotes Herz. Daneben ist Patricias Büro voll bepackt mit Büchern, Heften, Zetteln; hier gibt es viel zu tun.
Doch in den letzten Jahren, so erzählt Patricia, hat die Sammlung immer mehr an Bedeutung verloren. Russischsprachige Menschen auf Hawaii brauchen heute keine Bibliothek mehr um an russischsprachige Literatur zu kommen. Dazu hat die Bedeutung der Geisteswissenschaften an der Uni Hawaii abgenommen und dazu kommt noch der russische Krieg in der Ukraine. Sie geht bald in Rente und was aus der Sammlung werden soll, ist völlig offen. An der Uni interessieren sich heute nicht mehr viele für Russland oder die Hawaiianische Tradition zu Russlandstudien. Immer wieder kommen aber Forschende aus dem Ausland, so auch heute ich.
Der größte Boom jedoch, so Patricia, war Anfang der 1990er Jahre, als nach dem Ende der Sowjetunion alle wissen wollten, was aus den „anderen”, den Antikommunisten, den Gegnern des Kommunismus geworden ist. „Es war ein wirklich heißes Thema”, betont sie. Damals in den 1990ern habe sie dann auch angefangen russische Publikationen aus Südamerika und Australien zu sammeln. „Das hängt ja alles zusammen und irgendwo braucht es eine zentrale Stelle um das zu sammeln.” Immer wieder nahm sie auch ukrainische Exilzeitungen und -bücher auf, wie sie mir berichtet und zeigt das Regal, das für mich und meine Arbeit spannend ist. Ukrainische Exilzeitungen aus Südamerika. „Verrückt “, denke ich und blättere mal durch.
Bis zur russischen Annexion der Krim, 2014, gab es auch regelmäßig Veranstaltungen, die Patricia organisiert hat. Es gäbe zwar nicht so viele Russischsprachige auf Hawaii, aber so einige Hundert waren und seien es schon, erzählt sie. Seit der russischen Annexion 2014 sei die Gruppe aber zutiefst zerstritten. Niemand spreche mehr miteinander und sie, die russischsprachige Hawaiianerin, deutsch-irischer Herkunft, sitze dazwischen. Sie lacht zwar beim Sprechen, ich meine aber, es tut ihr weh. Es gäbe bei all dem aber nicht nur zwei verfeindete Gruppen, wie man meinen würde, so Patricia. „Nein, es gibt vier!” und sie zeigt mit ihren Fingern. „Vier Gruppen!” Die Pro-Putin-Russen, die Anti-Putin-Russen, die Pro-Putin-Ukrainer und die Anti-Putin-Ukrainer. „Und das seit 2014”, betont Patricia. Das sind über zehn Jahre.
Sie selbst sei über diese Frontenbildung erstaunt, denn unter „den Russen” habe sie vor 2014 keine Ukrainer und Ukrainerinnen gekannt. Ab 2014 habe es dann aber eine ganze Reihe gegeben, meint Patricia.
Wir sprechen über Identität(en), Sprachen und Kulturen und wie sich das auch ändern kann und ändert in Zeiten politischer Umwälzung, unter Druck, im Krieg. Damals, nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, wie auch heute.
Mein Freundschaftsdienst ist schnell erledigt, ich unterhalte mich länger mit Patricia bevor es dann wirklich für mich an den Strand geht. Ich habe jetzt Urlaub und danach einen intensiven Schreibplan für meine Diss, quasi im australischen Schreibexil. Der nächste Post könnte dauern.
Für die ungewiss lange Übergangszeit, verweise ich auf frühere Blogeinträge hier sowie meine digitale StoryMap "Getting Away from War and Communism" zu DPs in Australien.