Veröffentlicht: 30.11.2024
Die USA sind Kommerz und Kapitalismus. Ich mag das nicht, fühle mich unwohl, das ist hier alles nicht so meins, nichts Neues (siehe z.B. hier). Etwas durch Zufall und zugleich doch intendiert, verbringe ich aber wieder einmal Zeit in diesem Land - und so auch über Thanksgiving.
Erst nervte es mich, denn es ist eben genau die Woche, in der in Nordamerika kaum etwas, vielleicht nichts so ist wie sonst: In den USA hat nämlich alles zu, so richtig, so ganz wirklich, so ganz entschieden; die Bibliotheken, die Archive, die Unis - am Thanksgiving-Donnerstag hat man das Gefühl, man sei von heut auf morgen in ein anderes Land gereist. 99,9 Prozent aller Geschäfte haben zu, Cafés zu, Shoppingcenter zu, alles eben zu, geschlossen, Bürgersteige hochgeklappt. Happy Holiday!
Thanksgiving ist einer der wohl wichtigsten, vielleicht der wichtigste Feiertag in den USA. Da er nicht einer bestimmten Religion “zugehörig” ist, feiern ihn alle. Es ist ein Nationalfeiertag. Es ist eine US-amerikanische Variante vom Erntedankfest. Woher dieses nordamerikanische Erntedankfest kommt, ist hingegen unklar. US-Amerikaner und Kanadier feiern es zudem an unterschiedlichen Tagen und wohl auch unterschiedlich.
Eine bekannte US-amerikanische Erzählung wird an die Ostküste und genauer gesagt nach Massachusetts verortet. Da ich eben dort mich grad aufhalte und Thanksgiving verbracht habe, bleibe ich einmal bei dieser Variante: Im Herbst 1621 sollen Kolonistinnen und Kolonisten sowie Angehörige des Wampanoag-Stamms ein Fest gefeiert haben, eine Art Erntedank und das Teilen der Vorräte. Erzählt wird, dass die Europäerinnen und Europäer den darauffolgenden Winter ohne diese Hilfe nicht überlebt hätten. Wer wen dazu eingeladen hat und ob das so wirklich stattfand, ist nicht klar. Robin, eine Kollegin meiner Freundin, sagt ohne Umschweife, dass das ja alles eine ganz schöne Erzählung sei, aber auch ein ganz großer Quatsch. Ohnehin gäbe es keine Belege, ob es so ein Fest überhaupt jemals gab. Evidenz gleich Null. Und selbst wenn es so gewesen sein sollte, so Robin, dann fehle da in der Erzählung ein wichtiger Teil: “Da feiern wir das - und dann haben die Kolonialisten danach einfach die Indigenen umgebracht. Toller Dank! Und nun tun wir heute so, als wäre alles mit einem schönen gemeinsamen Essen freundschaftlich gelaufen!” Sie schüttelt den Kopf.
Thanksgiving in den USA
Das ist ein riesen Ding. Wer am letzten Donnerstag im November in den USA unterwegs ist, reist für einen Tag durch - oder besser in - ein anderes Land. Es ist anders als sonst, denn Amerika hat geschlossen. Amerika ist ruhig, Amerika ist stumm, Amerika ist still. Amerika hat einfach mal zu - jedoch und das war mein Mindblow der letzten Tage: es folgt Black Friday, der Konsumfreitag schlechthin, der mittlerweile ja auch über den Atlantik geschwappt ist… Nur eben nicht der Donnerstag, Thanksgiving, am Tag zuvor, da ist nichts mit Shoppen. Es folgt jedoch danach frei nach dem Motto: Ein Tag Umsatz = null (Thanksgiving), da muss der darauf folgende Tag eben diesen einen Feiertag einholen, überholen, übertrumpfen. Dass Black Friday auf Thanksgiving folgt, war mir nicht klar, bis eben jetzt. Nun, ich lerne nicht aus. Hier geht es heute aber weiter um Thanksgiving, nicht um den Kommerz danach.
USA also. Meine Begeisterung hält sich in Grenzen.
Doch ich gebe es ehrlich zu: Thanksgiving hat was. Es ist eben alles anders als sonst - und ja, auch das gebe ich zu, ich mag es (dann) sogar. Behilflich ist mir, dass ich das Glück, ja Luxus habe, Thanksgiving wie locals verbringen zu dürfen. Dank einer Freundin aus der Schweiz, die mittlerweile hier lebt, bekomme ich das volle All-inclusive-USA-Thanksgiving-Paket geschenkt: eine Einladung zum klassisch-traditionellen Truthahn-Essen a lá USA und am frühen Morgen des besagten Tages einen Turkey Trot [frei übersetzt: Truthahn Traben/Schlendern].
Der Turkey Trot in Holden
Der Turkey Trot ist etwas Besonderes und dann auf schöne Art und Weise wieder etwas überhaupt nicht ungewöhnliches: Das Ziel ist, ein paar Kilometer sich irgendwie fortzubewegen, dabei Spaß zu haben und eine bestimmte wohltätige Aktion zu unterstützen. Easy. Joggen, laufen, spazieren, rollen, egal wie, die Hauptsache ist das Ankommen. Den Truthahn-Lauf gibt es überall in den USA, der älteste soll alljährlich in Buffalo stattfinden, laut Wikipedia seit 1896. Nicole hat uns in der kleinen Ortschaft Holden angemeldet, in der Nähe von Worcester. Boston ist etwa eine Stunde entfernt. Der Turkey Trot in Holden ist (wie viele andere) ein lokales Fundraising. In Holden geht es um die “Be like Brit-Foundation”. Diese Stiftung hat sich der Mission und Erinnerung einer Lokalheldin verschrieben: Brit war eine junge Frau, die sich in Haiti für vor allem Waisenkinder eingesetzt hat. Beim massiven Erdbeben dort 2010 kam sie ums Leben. Um ihre Mission voranzutreiben läuft Jung und Alt seitdem am Thanksgiving-Tag durch Holden. Und eben auch Nicole und ich.
Der Wecker klingelt also für uns um 6 Uhr morgens. Um 8 stehen wir mit über 1.000 Leuten am Start - beziehungsweise muss es eher heißen, zum großen Teil sind wir mit verschiedenen Arten von Truthähnen unterwegs.
Um 9 Uhr sind wir schon wieder happy im Auto. Unsere fünf Kilometer haben wir gut gemeistert, auch dank der Unterstützung am Straßenrand: Renter:innen in Decken gehüllt, Zuschauende am Start/Schluss, auf halber Strecke ein paar Frauen “Only downhill! Only downhill! Keep on going! [Nur noch bergab! Nur noch bergab! Weiterlaufen!!!]”.
An uns vorbei und voraus liefen Kinder, Jugendliche, Renter und Renterinnen, Dick, Dünn, Menschen mit den unterschiedlichsten Sprachen und Akzenten, Hunde, Weihnachtsmänner, der Grinch und Truthähne mit Kinderwagen. Als wir knapp im Ziel sind, kommt uns ein junges Mädchen von der anderen Seite entgegen, ebenfalls mit Startnummer - und einem Gipsbein. Das ist mal Engagement. Respekt! Wir sind begeistert und feuern sie an.
Und es macht Spaß: Dieses bunte, positive Durcheinander, so viele Sprachen, unterschiedliche Gesichter, Körperformen und Farben - Das ist was mir an diesem Landstrich wirklich gefällt. Von negativer Stimmung, Polarisierung der Gesellschaft ist keine Spur, jedenfalls nicht an diesem Morgen im beschaulichen Holden. Es ist eher ein sich gegenseitig Unterstützen, Spaß haben, Positivität. Am Ende bekommen wir ein Zertifikat fürs Mitmachen und sind im guten Mittelfeld. Dass meine Wanderschuhe mich auch einmal beim Joggen begleiten, hätten auch sie nicht gedacht.
Das traditionelle und üppige Thanksgiving-Essen, das Festmahl danach haben wir uns verdient. Wir sind eingeladen, erneuter Luxus. Bei Freunden von Freundinnen, deren Kinder weit weg wohnen. Thanksgiving ist übers Teilen, Zusammensein und Genießen. Wir werden mit großer Herzlichkeit empfangen. Der Kamin ist an, das Holz knistert, im Ofen der Truthahn. Es riecht sehr gut. Essen ohne Ende, gute Gespräche, Lachen, Multikulti. Eine wirklich schöne Erfahrung!