Veröffentlicht: 24.04.2019
Ob in Jordanien, Kolumbien, Kuba oder Peru: Während unserer Weltreise sind uns unter den vielen Touristen aus aller Welt die Argentinier immer besonders schnell aufgefallen. Das lag weniger an ihrer Menge, sondern weil sie sehr einfach zu identifizieren sind. Da wäre zum einen ihr Akzent: Niemand sonst spricht auf Spanisch das Doppel-L oder das Y als «Sch» aus – so wird z.B. aus Calle (Strasse) «Casche» und aus Yumi «Schumi». Zum anderen können die Argentinier nicht verheimlichen, dass sie extrem Gras-abhängig sind. Wir meinen nicht Cannabis, sondern ein anderes Kraut: Die Yerba (oder eben «Scherba»), welche für die Zubereitung des Mate-Tees verwendet wird. Weil die Argentinier ihr Nationalgetränk dermassen lieben, aber es im Ausland nirgends bekommen, packen sie jeweils einfach ihre Yerba mitsamt Teeset und Thermoskanne in ihren Rucksack und schlürfen vor jeder Sehenswürdigkeit zufrieden an ihrem Mate herum.
Kein Wunder fühlen wir uns stark an Argentinien erinnert, als wir in Uruguays Hauptstadt Montevideo ankommen und die Leute auf der Strasse beobachten. Ob auf der Parkbank, beim Spazieren oder beim Autofahren: Der Mate-Tee ist immer dabei. Wenn er nicht gerade genüsslich konsumiert wird, wird er zumindest stil- und liebevoll herumgetragen – im schicken, eigens dafür geschaffenen «Mate-Set». Das ist ein Aufbewahrungssystem, das wie ein übergrosser Feldstecher-Lederbeutel aussieht, in welchem man Teekraut, Mate (Teebehälter) und Thermoskanne herumtransportieren kann. Auf dem Weg zu unserer Wohnung fällt uns zudem auf, dass es an jeder Ecke ein Grill-Restaurant gibt – offenbar sind die Uruguayer wie ihre argentinischen Nachbarn grosse Fleisch- und Barbecue-Fans. Spätestens als wir kurz nach dem Einchecken von unserer AirBnB-Vermieterin Leticia auf der Terrasse neben dem fix installierten Holzkohlengrill gefragt werden, ob wir den Wohnungsschlüssel bereits eingesteckt haben (Ya llevan la llave? bzw. «Scha schevan la schave?»), kommentieren wir entzückt: «Hey, ihr Uruguayer habt ja ziemlich viel mit den Argentiniern gemeinsam!» Daraufhin versteinert sich die Miene der sonst fröhlichen Leticia und es wird für einen kurzen Moment still. Sie entgegnet todernst: «Nein, sicher nicht. Wir sind völlig anders als die Argentinier.» – Hoppla, da sind wir wohl in ein Fettnäpfchen getreten. Einem «Uru» zu sagen, dass er wie ein Argentinier ist, ist etwa gleich schlimm, wie einem Schweizer zu sagen, dass er wie ein Deutscher ist. :-)
Je mehr wir über Land und Leute in Erfahrung bringen, desto mehr (und genüsslicher) können wir die Vorurteile zwischen Schweizern und Deutschen heranziehen und 1:1 auf das Verhältnis zwischen Uruguayern und Argentiniern übertragen. So erfahren wir in Montevideo, dass die Argentinier «arrogant und laut» seien. Und dass sie einen falschen Stolz auf «ihren berühmten Tango und ihren berühmten Mate» hegen, weil beides nämlich ursprünglich aus Uruguay stamme (da müssen wir spontan an den Ricola-Spot denken: «Wer hat’s erfunden?»). Und selbst bei Argentiniens grösster Passion, dem Fussball, haben die Uruguayer die Nase vorn. Nicht nur, weil Uruguay 1930 die allererste offizielle Fussball-Weltmeisterschaft austragen durfte, sondern weil das Land insgesamt doppelt so viele Weltmeistertitel wie Argentinien gewonnen hat. «Moooment!», wendet Marco hier ein, «Beide Länder haben doch je zwei Mal den WM-Titel geholt?» Naja, offiziell schon. Aber wenn man sich die Verbandslogos der beiden Fussball-Nationalmannschaften anschaut, fällt tatsächlich auf, dass Argentinien zwei Sterne (2 WM-Titel) auf seinem Wappen führt, während das Logo von Uruguay mit 4 Sternen (4 WM-Titel) geschmückt ist. Der Grund liegt schon fast 100 Jahre zurück: Vor der ersten Fussball-WM gewann Uruguay nämlich an den Olympischen Spielen 1924 in Paris und 1928 in Amsterdam das Fussballturnier (1924 hiess der Finalgegner übrigens Schweiz!). Vorher und nachher gab es natürlich ebenfalls zahlreiche olympische Fussballturniere, allerdings interessiert sich niemand für die jeweiligen Gewinner, denn vor 1924 waren keine Profi-Fussballer an Olympia zugelassen und nach 1930 (also seit der Austragung der ersten «richtigen» Fussball-WM) dürfen nur noch junge U23-Fussballer an Olympia teilnehmen. Deshalb wertet die FIFA einzig die zwei Olympischen Spiele von 1924 und 1928 als zusätzliche, inoffizielle WM-Titel. Die Story wird aber noch kurioser: Weil andere Verbände (wahrscheinlich allen voran Argentinien) irgendwann gegen die zwei «inoffiziellen Sterne» Uruguays protestierten, entschied die FIFA im Jahr 2010, dass ab sofort nur noch offizielle WM-Titel als Stern auf den Fussballtrikots getragen werden dürfen. Das liess sich Uruguay nicht gefallen und trickste daraufhin die FIFA aus, indem sie die vier Sterne kurzum als integralen Bestandteil ihres neuen, offiziellen Verbandswappen definierte :-)
Schlitzohrig sind sie definitiv, diese Urus! So hat das Land z.B. Anfang des 20. Jahrhunderts stinkfrech das politische und soziale System der Schweiz kopiert. Dadurch entstand in Uruguay die erste soziale Demokratie in Südamerika, weshalb das Land zu jener Zeit auch «die Schweiz Südamerikas» genannt wurde. 1919 wurde ein Bundesrat nach Schweizer Vorbild gegründet, der zahlreiche soziale Massnahmen umsetzte (z.B. ein Kinderarbeits-Verbot, die Arbeitslosenversicherung und den Acht-Stunden-Tag). Die Herrlichkeit währte aber nur bis in die 70er-Jahre, als das Militär die Macht im Land übernahm und Uruguay fortan ein «normales» südamerikanisches Land wurde. Inzwischen ist Uruguay aber wieder demokratisch unterwegs und in vielerlei Hinsicht fortschrittlicher als die Schweiz: So wurden z.B. in den letzten 10 Jahren alte Zöpfe wie das Bankgeheimnis und die Sommerzeit abgeschafft, sowie gleichgeschlechtliche Ehen und der Cannabiskonsum legalisiert. Die gesamte Rindfleischzucht im Land ist schon seit 40 Jahren frei von Antibiotika und bis 2030 will das Land CO2-neutral sein. Nicht schlecht!
Während wir in Montevideo sind, herrscht jedoch nicht gerade viel Recht und Ordnung, sondern der pure Ausnahmezustand, denn es ist Karneval. Nicht irgendein Karneval (und zum Glück nicht so einer wie in Cartagena), sondern der längste Karneval der Welt. 6 Wochen lang feiern die Urus auf kilometerlangen Umzügen, wo alle Zuschauer zum Mittanzen animiert werden. Beim Umzug, der mitten durch unser Quartier führt, fühlen wir uns im ersten Moment so, als würden wir mitten in Rio de Janeiro stehen: Wild tanzende, bunt gekleidete Frauen defilieren mit wenig Stoff bzw. viel Haut zusammen mit schweissgebadeten Trommlern durch die Strassen. Auf den zweiten Blick müssen wir uns aber kurz die Augen reiben, denn der Karneval ist hier ein richtiges Volksfest für jedermann bzw. jede Frau, sprich: Nicht nur junge, knackige Tänzerinnen verkleiden sich hier sexy, sondern alle Frauen, die gerne tanzen, nehmen am Umzug teil – egal wie alt, unbeweglich oder schwer sie sind. Alle schlüpfen in ihre Samba-Vollmontur (bestehend aus einem Tanga, einem BH und ein paar Federn!) und wackeln mit ihren Hintern bis sich die Strassenlaternen biegen. :-)
Herrlich unkompliziert und entspannt geht es auch die nächsten Tage in Montevideo zu und her: So kann sich Marco ohne Probleme einer Fussballtruppe anschliessen und mitkicken. Bei der anschliessenden Bierrunde in der Quartierbeiz – wo in einer Selbstverständlichkeit Joints gepafft und herumgereicht werden – erkundigt sich Marco bei seinem neuen Kollegen Martín, woher er eigentlich unsere AirBnB-Vermieterin Leticia kennt, die uns seinen Kontakt weitergeleitet hatte. «Sie war mal mein Tinder-Date, wir haben uns aber nur ein einziges Mal getroffen.» Oha, da hat er beim ersten Date wohl etwas gar viel über Fussball geredet :-). Beim ersten Barbecue-Znacht mit Leticia lachen wir mit ihr über diese Story, während wir uns über das servierte Grillfleisch wundern. Es sieht zwar superlecker aus, aber schmeckt irgendwie nach nichts. Leticia erklärt: «Sie servieren hier das Fleisch immer ungesalzen, weil die Gesundheitsbehörde Alarm geschlagen hat. Wer so viel Fleisch konsumiert wie wir, nimmt eben auch zu viel Salz zu sich und wird häufiger krank.» Wir reagieren etwas verdutzt mit einem «Aha, OK kein Problem…» und suchen einen Salzstreuer, um das edle Stück auf dem Teller zu retten. Aber weder auf unserem, noch auf einem anderen Tisch, noch überhaupt irgendwo im Restaurant liegt ein Salzstreuer herum. Leticia muss erneut erklären: «Wer in einem Restaurant einen Salzstreuer will, muss diesen gemäss Verordnung explizit beim Personal bestellen, sonst riskiert das Restaurant eine Busse.» Alles klar: Kiffen ist legal, aber das Steak zu salzen, ist verboten! Wir machen uns ernsthaft Sorgen um die Gesundheit der uruguayischen Gesundheitsbehörde… vor allem auch, weil wir in vielen Restaurants beobachten, wie Uruguayer während der Mittagspause ein (nachgesalzenes) Steak mit fettigen Pommes verdrücken, das Ganze mit einer 1,5-Liter-Flasche Cola mit Zucker runterspülen und danach noch ein Dessert verputzen. Fett und Zucker scheinen hier weniger verteufelt als Salz zu sein…
Nach 1,5 Wochen verlassen wir Uruguay mit ein paar Fragezeichen und steuern auf dem Wasserweg den Hafen von Buenos Aires an. Der Name der Stadt («gute Luft») ist Programm: Denn obwohl der Grossraum der argentinischen Hauptstadt ca. 14 Mio. Einwohner zählt, ist die Luft hier erstaunlich klar und sauber (das pure Gegenteil von Lima oder Santiago de Chile). Zur guten Atmosphäre tragen auch zahlreiche Parks und Baumalleen, sowie pompöse Paläste und stilvolle Cafés aus der Belle Epoque bei. Die prachtvollen Bauten aus dem frühen 20. Jahrhundert lassen erahnen, dass Argentinien in jener Zeit zu den reichsten Ländern der Welt gehörte und z.B. das gleiche Pro-Kopf-Einkommen wie Frankreich aufwies. Auch ohne dieses Reiseführer-Wissen dauert es nicht lange, bis wir das Gefühl haben, mitten in Paris zu stehen. Gesprochen wird allerdings nicht Französisch, sondern Spanisch (und gegenüber Touristen gerne Englisch) – und zwar von Menschen, die fast zu 50% italienische Vorfahren haben und italienische Familiennamen tragen. Es herrscht hier also so etwas wie europäisches Latino-Multikulti. Kein Wunder beschrieb der berühmte argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges seine Landsleute mal scherzhaft so: «Argentinier sind Italiener, die Spanisch sprechen und gerne Engländer wären, die glauben, in Paris zu leben.»
Die Küche ist hier aber eindeutig traditionell-argentinisch und nicht trendy-europäisch: Smoothies, vegane Sandwiches und Goji-Beeren sucht man vergebens. Dafür gibt’s wie schon in Uruguay an jeder Ecke dreigängige Grillmenüs mit Pommes, Cola und Dessert. Umso erstaunlicher, dass die Einwohner in unserem Alter mehrheitlich schlank und rank sind. Nach unserem ersten Grill- und Rotweinabend folgt für uns tags darauf die simple Erklärung: Auf der Suche nach einem Fitnesscenter in unserem Quartier rennt nämlich ständig irgendwer irgendwo in Joggingkleidern an uns vorbei. Und nach 10 Minuten Herumspazieren haben wir bereits 5 verschiedene Fitnessclubs gefunden. Alle sind rappelvoll mit schweissgebadeten Männern und Frauen jeden Alters. So können wir während insgesamt 2 Wochen in Buenos Aires problemlos fast jeden Tag gratis irgendwo ins «Probetraining» und mitschwitzen… und uns ohne schlechtes Gewissen der argentinischen Küche widmen. :-)
So zum Beispiel, als wir uns in Buenos Aires mit Angelina und Tamara zum Grillplausch verabreden. Sie sind zwei Argentinierinnen, die wir während unserer Kuba-Reise in einem super-stereotypen Umfeld kennengelernt haben (sie waren am Mate-Tee trinken, während sie in den Bergen Kubas auf den Spuren des gebürtigen Argentiniers Che Guevara waren). Angelina erwähnt zu Beginn des Abends in einem Nebensatz, dass sie gerade von ihrem Psychologen kommt. Wir reagieren so, wie wohl die meisten in einer solchen Situation reagieren würden, und fragen besorgt nach, wie es ihr denn gehe. Sie kann uns aber schnell beruhigen, weil sich herausstellt, dass es für sie und für viele ihrer Landsleute einfach normal ist, nicht nur regelmässig ins Fitness, sondern auch regelmässig zum Psychologen zu gehen. So tue sie nicht nur etwas Gutes für den Körper, sondern seit Jahren auch für ihr Gemüt. Unsere Recherchen ergeben, dass Argentinien mit Abstand die höchste Psychiater- und Psychologendichte auf der Welt hat. Pro 100'000 Einwohner gibt es ca. 200 praktizierende Psychotherapeuten, das sind über 7x mehr als in den USA! Dass Yumi in Argentinien ihre Angst vor Hunden erfolgreich therapieren kann, liegt allerdings nicht am Besuch einer Sprechstunde (Kostenpunkt übrigens 20 Franken). Die Argentinier sind nämlich nicht nur Psycho-Weltmeister, sondern besitzen weltweit auch am meisten Hunde. Gemäss einer globalen Studie haben zwei von drei Argentiniern mindestens einen Hund zuhause. Zählt man noch alle Strassenköter dazu, dürften im Land locker mehr Hunde als Menschen leben. Was für Yumi’s Hundephobie besonders heilsam ist, ist die Tatsache, dass berufstätige Herrchen und Frauchen ihre Tiere oft nicht selbst Gassi führen, sondern so genannte Paseaperros (wörtlich «Hundeherumspazierer») engagieren, die mit bis zu 8-12 emotional aufgeladenen Hunden auf den Trottoirs unterwegs sind.
Abgesehen davon ist uns Buenos Aires sehr sympathisch und wir können die Vorurteile aus Uruguay nicht bestätigen. «Laut» sind höchstens die Hunde und «arrogant» vielleicht die outsourcenden Hundehalter. Wenn man bedenkt, dass wir uns hier in einer riesigen Metropole befinden, sind die Menschen ausgesprochen hilfsbereit, aufmerksam, offen und nett. Zudem wirkt die Stadt nicht wie ein unkontrolliert gewachsenes Monster, sondern eher wie eine Ansammlung gut vernetzter, unabhängiger Stadtquartiere mit jeweils eigenem Charakter. Das zeigt sich am deutlichsten beim Fussball: Ganze 15 der 26 Vereine in der höchsten argentinischen Fussballliga stammen aus dem Grossraum Buenos Aires und praktisch jedes Quartier und jeder Vorort hat sein eigenes Fussballstadion. Keine andere Stadt auf der Welt beherbergt mehr Profiteams. Jedes Wochenende gibt es zahlreiche Stadtderbys zu sehen und die Stadien sind immer gut gefüllt mit Fans, die ihr Team anfeuern und an einem Choripán (einem traditionellen Wurstbrötchen) kauen. Dieses «Freudeli» bzw. diese Unterhaltung in Form von Brot und Spielen haben die Argentinier auch bitter nötig, denn sie sind angesichts der instabilen Wirtschaft im Land nicht zu beneiden. Fast alle Leute, die wir treffen, jammern über die steigenden Preise, ihren stagnierenden Lohn und ihr leeres Portemonnaie. Der Wechselkurs des argentinischen Pesos gleicht tatsächlich einer Achterbahnfahrt – vor allem einer, die ungebremst mit 3-facher Schwerkraft in den Abgrund rast. Anfang 2018 bekam man für 1 Franken 20 argentinische Pesos. Als wir im März 2019 in Argentinien ankommen, bekommen wir bereits 43 Pesos dafür. Die Freude über unseren starken Franken und die vermeintlich günstigen Preise vor Ort währt aber nur kurz. Denn die lokalen Peso-Preise werden immer sehr schnell an die Inflation – sprich: nach oben – angepasst. Umso mehr sind wir erstaunt, dass die Restaurants und Bars immer gut besucht sind, denn die argentinischen Löhne werden nur verzögert und nie im gleichen Ausmass wie die Preise angehoben. Vielleicht haben die Argentinier aufgrund vergangener Krisen einfach gelernt, dass die Zukunft zu unsicher ist, um Geld zu sparen. Besser man gibt es mit beiden Händen aus und geniesst das Leben, solange man kann. Von allen Seiten wird uns erzählt, dass wir diese Lebenseinstellung der Argentinier nur verstehen können, wenn wir uns mit dem Staatsbankrott von 2001 befassen. Das machen wir und stellen fest: Die Geschichte liest sich selbst für Wirtschaftsmuffel wie ein spannender Thriller!
Die Geschichte geht so: Seit der Staatsgründung vor etwa 200 Jahren ging der argentinische Staat bereits 7 Mal (!) bankrott, zuletzt 1989, 2001 und 2014. Der drittletzte Bankrott von 1989 bleibt vor allem wegen der legendären Hyperinflation in Erinnerung. Innerhalb eines Monats verdreifachten sich die Preise für Güter des täglichen Bedarfs. Unser AirBnB-Gastgeber Raúl, Mitte 50 und in Mendoza wohnhaft, erzählt uns, dass er damals seiner Mutter im Tante-Emma-Laden aushelfen musste, um täglich die Preisschilder anzupassen – manchmal sogar mehrmals pro Tag, indem sie den Laden zwischendurch für eine Stunde dicht machten. Der letzte Bankrott von 2014 war interessanterweise für den Grossteil der Bevölkerung kaum spürbar, weil spätestens seit 2002 kein Drittstaat, keine Bank und auch kein Argentinier mehr auf die Idee gekommen wäre, dem argentinischen Staat auch nur einen Peso als Kredit zu verleihen – zu heftig war der Riesen-Kollaps Ende 2001, der sich bis heute in die argentinische Psyche eingebrannt hat. Denn Argentinien hatte zum damaligen Zeitpunkt Staatsschulden in der Höhe von 140 Milliarden US-Dollar und musste der Welt kurz nach der Weihnachtsfeier verkünden, dass das Land nicht mehr zahlungsfähig sei. Das war damals die weltweit grösste Staatspleite der Geschichte.
Bis kurz vor dem Kollaps war der argentinische Peso 1:1 mit dem US-Dollar gekoppelt und somit gleich viel wert. Als Sofortmassnahme zur Rettung der Wirtschaft dachte die Regierung Ende 2001 deshalb laut darüber nach, diese Koppelung aufzugeben und den Peso abzuwerten – was bedeutet hätte, dass alle Peso-Schulden (aber auch alle Peso-Ersparnisse) von heute auf morgen viel weniger wert gewesen wären. Mit ihrem gesunden Menschenverstand taten die argentinischen Bürger das, was jeder andere auch getan hätte, und plünderten ihre Bankkonten im Versuch, so viele Pesos wie möglich in US-Dollars umzutauschen, bevor der Peso künstlich abgewertet wird. Daraufhin fror die Regierung kurzerhand alle argentinischen Bankkonten ein bzw. beschränkte die erlaubte Geldbezug-Limite auf maximal 250 Pesos/Dollars pro Woche. Mit dieser radikalen Massnahme goss die Regierung Öl ins Feuer der bereits brodelnden Volksseele und brachte das Fass zum überlaufen. Es folgten Proteste und schlimme Ausschreitungen, bei denen 28 Menschen ums Leben kamen. Gleichzeitig flogen im Regierungspalast die Fetzen und es herrschte das blanke Chaos. Innert zwei Wochen wurden 5 (!) Staatspräsidenten abgesetzt bzw. 5 neue vereidigt. Der erste, der abgesetzt wurde, musste sogar im Helikopter vor dem wütenden Mob fliehen. Der letzte, der vereidigt wurde, tat dann das, was alle befürchtet hatten, aber letztlich unumgänglich war: Er entschied, den Peso «kontrolliert» abzuwerten. Auf einen Schlag war das Ersparte auf argentinischen Bankkonten nur noch die Hälfte wert und innert Wochen (aufgrund von «unkontrollierten» Peso-Panikverkäufen der Bevölkerung) sogar nur noch ein Viertel. Parallel stiegen natürlich inflationsbedingt die Preise für Mieten, Essen usw., während die Löhne kaum oder nur verzögert anstiegen. So verloren die meisten Menschen innert kürzester Zeit nicht nur einen Grossteil ihrer Ersparnisse, sondern sie verdienten inflationsbereinigt auch noch 25% weniger. Was dann kam, war sprichwörtlich der Todesstoss: Um die Peso-Panikverkäufe zu stoppen, entschied die Regierung von einem Tag auf den anderen, alle US-Dollar-Konten Argentiniens in Pesos zu konvertieren – wodurch selbst das «einzig rettende» Dollar-Sparbüchlein des ohnehin schon klammen Normalo-Argentiniers plötzlich nur noch einen Bruchteil wert war. Kein Wunder kollabierte spätestens jetzt ein grosser Teil der Mittelschicht. Innerhalb weniger Monate lebten plötzlich 57,5% der Bevölkerung unter der Armutsgrenze.
Während unserer Rundreise durchs Land lernen wir, dass nicht nur die Ex-Präsidenten Argentiniens immer wieder mal mit dem Feuer spielten, sondern auch die Ureinwohner des Landes. Der südlichste Zipfel Argentiniens heisst nämlich «Feuerland», weil die indigenen Menschen dort früher überall stets Feuer machten, um sich warmzuhalten – sogar beim Fischen auf ihren selbstgeschnitzten Holz-Kanus. Angesichts dieser Warmhaltetechnik verwundert es uns auch nicht weiter, dass die Ureinwohner im Süden mittlerweile ausgestorben sind. Seltsam ist aber, dass auch alle anderen indigenen Völker Argentiniens praktisch von der Bildfläche verschwunden sind. In ganz Argentinien leben heute 97% weisse Menschen mit europäischen Wurzeln. Nur noch ein kleiner Bevölkerungsanteil stammt mehrheitlich von der indigenen Urbevölkerung ab. Das liegt natürlich – wie immer in Südamerika – an der tödlichen Kombi aus aggressiven spanischen Kolonialherren und ihren eingeschleppten Krankheiten. Aber im Fall von Argentinien hat dies auch zu einem grossen Teil damit zu tun, dass das heutige Landesgebiet (abgesehen vom Nordwesten) zum Zeitpunkt der Ankunft der Spanier sowieso nur ziemlich dünn besiedelt war. Selbst heutzutage leuchtet es ein, dass man sich im Süden des Landes nicht unbedingt freiwillig niederlassen will: So müssen z.B. Eltern ihre Kinder zwecks Vitamin-D-Kur regelmässig zum Arzt vorbeibringen, weil es in den Wintermonaten zu wenig Tageslicht gibt und die menschlichen Körper wegen Sonnenmangel nicht genug natürliches Vitamin D produzieren können.
Umso dichter wird Südargentinien von einer artenreichen Tierwelt besiedelt, die nicht so sehr auf Sonne und Wärme angewiesen ist. So besuchen wir zum Beispiel riesige Pinguin-, Seelöwen- und Seeelefanten-Kolonien, sehen überall streunende Guanakos (auch Ur-Lamas genannt), sowie einige Wale und Delfine. Als wir in Ushuaia – der südlichsten Stadt der Welt – ankommen, entscheiden wir spontan, eine 5-tägige Kreuzfahrt zum Kap Horn und durch die Fjordlandschaften nach Chile zu buchen. Die Kreuzfahrt-Saison ist nämlich praktisch vorbei und wir können von einem attraktiven Last-Minute-Angebot auf einem All-Inclusive-Schiff profitieren. «Wow, hört sich nach Luxus an!», meint Yumi voller Vorfreude. Wir werden dann aber rasch aufgeklärt, dass es auf diesem «Kreuzfahrtschiff» weder verschiedene Restaurants, Bars, Swimming-Pools, und schon gar nicht ein Kino, ein Casino oder ein Fitnesscenter gibt. Das schwimmende Ding besteht einfach aus 3 Decks mit 100 Kabinen. Es gibt ein Restaurant, einen Aufenthaltsraum mit Bar und vor allem: 5 Tage lang kein Wifi und kein Fernsehen. «Auch nicht schlecht, dann können wir endlich mal unsere Bücher lesen, die wir seit 7 Monaten mit uns mitschleppen», sagt Marco und freut sich auf ein paar gemütliche Tage auf hoher See, denn von den knapp 200 Passagieren an Bord sind die meisten Rentner.
Wir unterschätzen aber den Umstand, dass viele dieser Rentner ihre Kreuzfahrt vor langer Zeit geplant und entsprechend teuer gebucht haben – und sich einige von ihnen jetzt auf die Reise ihres Lebens freuen. Da muss also auch einiges geboten werden! Und wie: Jeden Tag gibt es zwei Exkursionen, bei denen wir via Lautsprecherdurchsage in unserer Kabine aufgefordert werden, eine Schwimmwesten anzuziehen, uns zum Sammelpunkt zu begeben und per Gummiboot von Bord zu gehen, um irgendwo herumzuwandern oder einen Gletscher zu besuchen. Beim ersten Ausflug finden wir es noch lustig, dass wir morgens um 6:00 Uhr (natürlich via Lautsprecherdurchsage) geweckt werden, mit dem Hinweis, dass es jetzt erst mal in die Natur raus geht und es erst später Frühstück gibt. Bei dieser Exkursion werden wir patschnass, brauchen fast eine Stunde, um unsere Kleider wieder zu trocknen und verpassen fast das Frühstück. Zurück im Zimmer freuen wir uns dann auf ein wenig chillen und lesen... aber schon dröhnt der Lautsprecher an unserer Kabinendecke wieder: «Geschätzte Passagiere, bitte begeben sie sich in den Aufenthaltsraum, um über den Ablauf der nächsten Exkursion informiert zu werden.» Heinomal! So geht das Durchsage- und Exkursions-Spiel 3 Tage lang, bis wir irgendwann die Schnauze voll haben und einfach mehrere Ausflüge sausen lassen, um wenigstens mal ein paar Stunden Ruhe zu haben. Die nutzen wir dann meistens, um Schlaf nachzuholen (!) und wundern uns daher am Ende überhaupt nicht, dass wir bis zur Ankunft in Chile keine einzige Seite in irgendeinem Buch gelesen haben.
Nach einer Woche Wind-, Wasser- und Eis-Action bei antarktischen Temperaturen geniessen wir anschliessend die warmen und sonnigen Tage in der malerischen Landschaft von El Calafate (dort, wo der berühmte Perito-Moreno-Gletscher liegt) und das See- und Bergparadies von Bariloche. Am meisten freuen wir uns aber auf unsere Wein-Weiterbildungsferien in Mendoza, wo wir jeden Tag eine ganze Flasche Rotwein «probieren». Das liegt nicht primär an unserem Durst, sondern daran, dass man hier für ein Gläschen Wein fast gleich viel wie für eine 7dl-Flasche zahlen muss. D-das lass’n wir unsch na-nad-dürlich nich b-bieten! Damit wir beim Weinkonsum dennoch eine halbwegs gute Figur machen, besuchen wir natürlich erst mal einen Rotweinkurs und lernen dabei alles Mögliche vom Anbau, zur Produktion, über Gläserschwenken bis zu Vanillegeschmacksnoten. Mit der Zeit entwickeln wir wirklich so etwas wie Weinkompetenz und riechen, beäugen, schlürfen und probieren intensiv jeden neuen Wein, um herauszufinden, welche Machart und welche Trauben uns besonders gut gefallen. Als wir in einer berühmten Bodega wieder mal ein paar Weine zur Degustation bestellen, lässt Yumi allerdings durchblicken, dass wir immer noch ziemlich blutige Anfänger sind. An unserem Tisch nimmt sie ein Rotweinglas in die Hand, schwenkt es gekonnt, führt es an ihre Nase, schliesst die Augen, um besser daran riechen zu können, nimmt einen Schluck und resümiert nach einigen Sekunden Bedenkzeit: «Ich schmecke ganz klar Tabaknoten heraus…» Marco, der gerade auf einem neutralisierenden Stück Käse herumkaut, muss trotz vollem Mund laut loslachen und verschluckt sich beinahe. «Was denn?!», will die leicht beleidigte Yumi wissen. Als Marco wieder halbwegs genug Luft zum Atmen hat, zeigt er auf den Anstoss seines Lachanfalls: «Da steht ein grosser, voller Aschenbecher neben dir!» :-)
Nach einem knappen halben Jahr in Lateinamerika geht es für uns jetzt zum Abschluss unserer Weltreise zur Alkohol-Entzugskur nach Iran. Wir melden uns ca. in einem Monat wieder mit dem letzten Blog-Beitrag und freuen uns bereits jetzt auf die Fortsetzung der Sommertemperaturen in der Schweiz!