You-Me and Marco Polo
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Bolivien

Veröffentlicht: 09.01.2023

Als wir Anfang 2019 durch Südamerika reisten, wollten wir eigentlich auch Bolivien besuchen, taten es schlussendlich aber nicht. Wir waren damals in Peru, genauer gesagt in den Anden auf 4000 Höhenmetern und nur wenige Kilometer von der bolivianischen Grenze entfernt. Wir googelten bereits Bilder von der Uyuni-Salzwüste und überlegten, wie wir am besten nach La Paz kommen. Allerdings hatten wir keine warmen Kleider dabei und mussten uns darum immer wieder mal Winterjacken, Wollmützen und Handschuhe von unseren peruanischen Airbnb-Gastgebern borgen – notabene mitten im südamerikanischen Sommer. Deshalb entschieden wir damals, nach Uruguay ans warme Meer zu reisen, statt mit dem Bus in der kalten bolivianischen Hochebene weiterzumachen.

Ziemlich genau vier Jahre später präsentiert sich die Situation etwas anders: Es ist Mitte November 2022, soeben hat der Winter in der Schweiz begonnen. Bedingt durch die Covid-19-Pandemie sind wir die letzten Jahre kaum gereist und entsprechend motiviert, wieder mal eine kleine Auszeit zu nehmen. Wir haben insgesamt zwei Monate Zeit und ziehen nun die Bolivien-Idee durch, packen von Anfang an Winterkleider ein und buchen einen Flug nach Santa Cruz, der mit Abstand grössten Stadt Boliviens. Dort kennen wir dank Yumis Mutter eine bolivianische Familie, die sich freut, uns ein paar Tage zu beherbergen und uns bei der Detailplanung unserer 3-wöchigen Bolivienreise zu helfen.

Dazu kommt es aber nicht. Denn in Santa Cruz herrscht seit einem Monat das totale Chaos: Die Einwohner der Stadt haben einen Generalstreik ausgerufen. Sprich: Alle Läden sind geschlossen, sämtliche Verkehrsknotenpunkte blockiert und die ganze Wirtschaft lahmgelegt. Bei den Auseinandersetzungen auf der Strasse gibt es sogar Tote und Verletzte. Stein des Anstosses ist die vermeintlich harmlose Entscheidung der nationalen Regierung, die nächste Volkszählung erst 2025 statt 2023 durchzuführen. Das Problem: Die letzte Volkszählung fand vor über 10 Jahren statt und in der Zwischenzeit ist die Bevölkerungszahl von Santa Cruz überproportional stark gestiegen. Dadurch ist der Kanton von Santa Cruz (man sagte hier früher tatsächlich Cantón) bei der Verteilung von Fördergeldern stark benachteiligt und bei politischen Wahlen durch veraltete Daten bei der Festlegung der Sitze massiv unterrepräsentiert. Später erfahren wir, dass Streiks, Demos und Strassenblockaden fast schon zum Alltag und zum «way of life» der Bolivianer gehören, weil ihre politischen Forderungen nur dann erhört werden, wenn sie auch wirklich gewillt sind, dafür zu kämpfen.

Aufgrund der Proteste in Santa Cruz müssen wir uns früher und vor allem selbständiger als gedacht mit unserer Reiseplanung befassen. Als erstes stellt Yumi dabei etwas überrascht fest: «Bolivien ist ja riesig!» Stimmt, nämlich über 3x so gross wie Deutschland. Und hätte Bolivien in den letzten 200 Jahren nicht ausnahmslos alle Kriege gegen seine Nachbarstaaten Chile, Argentinien, Brasilien und Paraguay verloren, wäre es heute sogar doppelt so gross und hätte noch Meeranschluss an den Pazifik. «Prima, das macht die Planung einfacher», meint Marco erfreut, während er den Lonely Planet und eine Bolivienkarte zückt. Rasch fällt uns auf, dass viele Orte in Bolivien herzig heissen, z.B. die Stadt Cochabamba oder der Nationalpark Torotoro – und natürlich der Titicaca-See. Auch bolivianische Speisen und Getränke tragen süsse Namen, z.B. Pique Macho oder Mocochinchi. Kurz nachdem wir in Bolivien ankommen, geht es weiter mit dem Jöh-Effekt: Einerseits sind die Bolivianer sehr klein (ein durchschnittlicher Erwachsener misst 162cm), andererseits nutzen sie in der Alltagssprache übermässig viele Diminutive. Sie sagen wie viele andere Latinos z.B. autito statt Auto, gehen aber so weit, dass sie uns beim Ausfüllen eines Formulars sogar um unser nombrecito (Nämelchen) und unsere firmita (Unterschriftchen) bitten :-) Ebenfalls süss und sympathisch ist das unkomplizierte Verhalten der Einwohner: Im Flugzeug beobachten wir z.B. eine allein reisende Mutter mit ihrem Baby, die an die Gepäckablage ranmuss und darum ihren Sohnemann der Flugbegleiterin in die Hände drückt, welche kurz darauf ihrerseits freie Hände braucht und es wiederum eine Reihe weitergibt usw., bis das Kind einige bolivianische Bekanntschaften später wieder auf dem Schoss der Mutter landet :-)

In Vorfreude auf weitere entspannte Momente ausserhalb von Santa Cruz reisen wir weiter nach Cochabamba, einer Studenten- und Foodie-Stadt, die auf 2500 Meter über Meer liegt und trotzdem 30 Grad vorweisen kann. Wir freuen uns auf die lokale Küche (die mindestens so gut wie in Peru sein soll), stürzen uns ins kulinarische Getümmel und probieren alle möglichen Spezialitäten aus. Vier Stunden später wechseln wir uns 3 Tage lang gegenseitig auf der Toilette ab und fluchen über den fiesen Reisedurchfall, den wir uns soeben eingefangen haben. So viel zum Thema erfahrene Traveller. Denn in jedem Bolivien-Reiseführer steht auf Seite 1, dass das Wasser hier dermassen kontaminiert ist, dass man ohne medizinische Prophylaxe nie vom Grundsatz «Cook it, peel it or leave it» abweichen darf. Später erfahren wir, dass sogar Bolivianer, die in der Schweiz leben und regelmässig nach Bolivien reisen, jedes Mal von neuem Reisedurchfall bekommen.

Zum Glück verpassen wir in Cochabamba nicht allzu viel, denn es ist eine – wie sich später herausstellt – typische und somit nicht besonders sehenswerte bolivianische Stadt, wo unfertige Backstein-Hausfassaden, Stacheldrähte und überirdische Stromleitungen dominieren, während man die hübschen Kolonialbauten im Zentrum an einer Hand abzählen kann. Unser trister erster Eindruck wird passenderweise mit dem mangelnden Umweltbewusstsein der Bolivianer ergänzt, die ihren Abfall beim Spazieren oder Autofahren achtlos auf die Strasse werfen, während die industriellen Abfälle ungefiltert in den Flüssen landen. Auch wenn Bolivien über reiche Bodenschätze verfügt, kann man nicht übersehen, dass es seit seiner Unabhängigkeit ununterbrochen das mit Abstand ärmste Land Südamerikas war (die rote Laterne wurde erst vor ein paar Jahren an Venezuela abgegeben) und darum bis heute die tiefste Lebenserwartung aller Länder in der Region aufweist (63,6 Jahre). Von der starken Armut zeugen auch die vielen Mütter, welche mit ihren Kindern auf der Strasse leben, dort Snacks, Süssigkeiten und Zigaretten verkaufen – oder einfach nur betteln und ihre Kinder als «Satelliten» einsetzen. Selbst der verhältnismässig gut bezahlte Wachmann in unserem Wohnblock bittet uns gleich am ersten Tag unseres Aufenthalts um eine milde Gabe, weil er gerade knapp bei Kasse ist und Geld für seine 4-jährige Tochter braucht.

Nachdem wir unsere ersten Eindrücke verdaut und uns von unseren Magen-Darm-Problemen erholt haben, geht es mit gestärktem Immunsystem weiter nach Sucre, der offiziellen Hauptstadt Boliviens. Sie gilt als die am besten erhaltene Kolonialstadt Südamerikas und wird aufgrund ihrer strahlenden Hausfassaden auch «die weisse Stadt» genannt. Spätestens jetzt kommen wir richtig in Bolivien an, legen die Reiseapotheke zugunsten der Fotokamera beiseite und tauchen in die Schönheit des Landes ein. Dazu gehören auch die traditionell gekleideten, indigenen Frauen (cholitas) mit ihren farbenfrohen Umhängen und den typischen Melonenhüten. Im Gegensatz zu Peru bilden die Indigenen in Bolivien keine Minderheit, sondern eine Mehrheit. Über 50% der Bevölkerung bezeichnen sich als indígenas, sehen auch wirklich wie die direkten Nachfahren der Inkas aus und reden sogar genauso wie sie (Quechua oder Aymara). Obwohl Sucre auf 2800 Meter über Meer liegt, herrschen tagsüber angenehme 26 Grad, weshalb wir uns hier von Anfang an pudelwohl fühlen. Auch unabhängig vom Wetter ist die Stimmung gut, denn soeben hat die Fussball-WM in Katar begonnen und die Spiele werden überall live gezeigt. Jedes Café, jede Bar, jeder Glacéstand, jedes Edel-Restaurant uns sogar jedes Busterminal macht mit. Lionel Messi und Cristiano Ronaldo sind omnipräsent – und im Gegensatz zu Westeuropa interessieren sich hier alle einfach nur für die Spiele und nicht für das Drumherum. Weder der WM-Austragungsort in der Wüste, noch der Zeitpunkt im Winter oder die Ausbeutungs- und Diskriminierungsthemen werden hier kritisch diskutiert. Nicht einmal die Arroganz von Cristiano Ronaldo, der bereits 2013 (nach 11 Jahren als aktiver Profi) in seinem Geburtsort ein Museum über sich selbst eröffnete. Die Bolivianer scheinen sich solches Gebaren gewohnt zu sein, denn der langjährige Präsident Evo Morales tat 2017 (nach 11 Jahren in Folge an der Macht) genau dasselbe, einfach mit Steuergeldern :-)

Wir fahren weiter nach Potosí, eine berüchtigte Silberstadt auf 4000 Meter über Meer. Wir besuchen zusammen mit einheimischen Bergarbeitern eine Silbermine im Hausberg Cerro Rico und kommen dort immer wieder auf die grossen Bodenschätze und die kleine Bevölkerungszahl Boliviens zu sprechen (das Land zählt nur knapp 12 Millionen). Bei der Frage, wo denn all die Menschen und der ganze Reichtum hinfliessen, lautet die Antwort: Die Spanier haben sich beides unter die Nägel gerissen. Als die conquistadores im 16. Jahrhundert die üppigen Silbervorkommen in der Region entdeckten, war dies der Anfang vom Ende. Während 300 Jahren beuteten die Spanier die Bodenschätze aus und finanzierten damit die Welteroberung der spanischen Krone. Bei den (bis heute) hochgefährlichen Arbeiten in den Minen starben die indigenen Zwangsarbeiter rasch, und selbst der grosse Nachschub an afrikanischen Sklaven reichte nicht aus, um den Bedarf an Arbeitskräften zu decken. Während der spanischen Kolonialzeit starben unglaubliche 8 bis 9 Mio. Menschen in Potosí bei der Ausbeutung eines einzigen Bergs (etwa gleich viele Soldaten starben im gesamten ersten Weltkrieg). Seit Bolivien 1825 unabhängig wurde und die Spanier das Land verlassen mussten, ist sprichwörtlich nicht mehr viel von diesem Hausberg übrig: Er sank bedingt durch die vielen Grubeneinstürze um 400 Meter und verfügt nur noch über kleinere Erzadern. Dennoch wird auch heute noch fleissig Silber, Zink und Blei abgebaut, weil die Minenarbeiter im Durchschnitt doppelt so viel wie den bolivianischen Mindestlohn verdienen (300 Franken im Monat). Der Preis dafür ist eine unheilbare Atemwegserkrankung, welche die meisten Minenarbeiter nach wenigen Jahren heimsucht und sie erst arbeitsunfähig und kurz darauf mausetot macht. Unser Bergführer und Ex-Minenarbeiter Wilson meint dazu lakonisch: «Weil es eh nichts bringt, einen gesunden Lebensstil zu führen, rauchen und betrinken sich die Minenarbeiter hier permanent.» Und: Sie kauen Cocablätter wie die Weltmeister! Mit golfballgrossen Knäueln unter ihren Backen betäuben sie ihre Schmerzen, stillen den Hunger und steigern die Atemleistung ihrer lädierten Lungen in der ohnehin schon dünnen Bergluft. Weil Cocablätter in Bolivien legal, günstig und überall erhältlich sind – und sogar vor der Höhenkrankheit schützen sollen – kaufen auch wir eine Packung für 75 Rappen, werden beim Kauen der Blätter leicht high und schlafen an diesem Abend wie ein Stein voller Blei.

Kurz darauf lernen wir erstmals die touristische Seite Boliviens kennen, denn wir sind unterwegs zur weltberühmten Salzwüste von Uyuni. Sie erstreckt sich über ein Gebiet, das ein Drittel so gross wie die Schweiz ist und jährlich 60'000 Besucher anzieht – zumindest war das vor Corona noch der Fall. Von unserem Fahrer Juan Carlos, der in Uyuni aufgewachsen ist, erfahren wir, dass aktuell nur etwa 10% der normalen Besucherzahlen wieder den Weg hierhin finden. Und wir lernen, dass während seiner Kindheit in den 80er-Jahren der Tourismus völlig inexistent war. Damals war die gleichnamige Touristenstadt Uyuni am Rande der Salzwüste ein reiner Militärstützpunkt mit ein paar Hundert Einwohnern und einer Schule. Juan Carlos erzählt uns, dass es damals äusserst selten war, einem Gringo (weissen Ausländer) zu begegnen, und dass alle einheimischen Kinder darum Angst vor den ersten Backpackern hatten. Die Eltern wussten dies zu nutzen und drohten ihren Kindern: «Iss deine Suppe auf, sonst steckt dich ein Gringo in seinen Rucksack und nimmt dich mit!» Inzwischen sind Gringos in Uyuni allgegenwärtig und die Kinder laufen entspannt neben ihnen auf der Strasse herum, so dass es mittlerweile die Touristen sind, die Angst haben müssen, dass die Kinder ihnen die Rucksäcke wegnehmen :-) Während unserer mehrtägigen Tour durch die Salzwüste sind wir schwer beeindruckt von der Weite und der Schönheit dieser Gegend, obwohl im Prinzip alles um uns herum einfach nur weiss wie der Boden und blau wie der Himmel ist. Zum Glück ist Juan Carlos nicht nur unser Chauffeur, sondern nebenbei auch noch Koch, Mechaniker und Elektroniker, so dass wir nirgends mit dem Jeep stecken bleiben und weder verhungern noch verdursten.

Während unseres Aufenthalts in Uyuni (wir übernachten selbstverständlich in einem komplett aus Salz gebauten Hotel) erfahren wir, dass der Generalstreik in Santa Cruz für beendet erklärt wurde! Also buchen wir spontan einen Inland-Flug dorthin (die Busfahrt hätte 18 Stunden gedauert) und besuchen ein paar Tage später die bolivianische Familie, die sehr happy über die aufgelöste Blockade und das mildere Wetter ist, denn während des Streiks stieg das Thermometer auf über 40 Grad. Wie praktisch, dass während dieser Zeit fast niemand arbeiten musste :-) Wir geniessen erstmals einen längeren Aufenthalt (4 Nächte) im gleichen Bett, die Gastfreundschaft von Rosa, die Grillkünste ihres Neffen Alex und die Hilfsbereitschaft ihrer Schwägerin Cecilia. Sie erzählen uns spannende Geschichten, was während des Generalstreiks in der Stadt abging. Neben den traurigen Stories gibt es auch schöne Episoden, zum Beispiel haben viele heiratswillige Paare aufgrund der geschlossenen Standesämter und Festsäle entschieden, an ihrem Hochzeitsdatum festzuhalten und ihre Feier draussen auf einem der vielen gesperrten Kreisel durchzuführen, wo sowieso jeden Abend ein halbes Volksfest stattfand.

Mit Partylaune geht unsere Reise weiter nach Tarija, einer bekannten (aber für argentinische Verhältnisse nur Möchtegern-) Weinregion in Südamerika. Das Weinklima und die Qualität der Trauben sind hier zwar top, dummerweise trinken die Bolivianer aber am liebsten süsse und sogar aromatisierte (!) Weine. Marco wird es bei der Degustation des lokalen Schokoladen-Weins halb schlecht, dafür machen wir mit dem Nationalschnaps Boliviens, einem Cognac-ähnlichen Weinbrand namens Singani, eine veritable Entdeckung. Während die Bolivianer punkto Weinkultur noch einiges vom benachbarten Argentinien lernen können, haben sie dafür etwas anderes von ihnen vorbildlich übernommen und perfektioniert: Grillfleisch! So essen wir in Tarija die besten Steaks, die wir je in Südamerika hatten (und das will etwas heissen, da wir mal 6 Wochen in Argentinien unterwegs waren).

Zum Abschluss unserer Bolivien-Rundreise kommt ganz kurz sogar etwas Brasilien-Feeling auf, denn wir Reisen nach Copacabana. Leider hat dieser bolivianisch-peruanische Grenzort am Titicaca-See abgesehen vom Namen nichts mit dem schönen Sandstrand in Rio de Janeiro gemeinsam. Übrigens wurde der Strand in Rio nach der berühmten bolivianischen Jungfrau von Copacabana benannt :-) Wir verbringen zwei entspannte Tage auf der heiligen Isla del Sol (die Inka-Vorfahren glaubten, dass die Sonne hier entstanden sei). Auf der Insel und in der Region rund um den Titicaca-See ist der Anteil der indigenen Bevölkerung in Bolivien mit Abstand am grössten. Jahrhundertelang wurden sie erst von den spanischen Besatzern und später von ihren weissen Nachfahren gesellschaftlich ausgeschlossen, obwohl die Indigenen damals wie heute die ethnische Mehrheit in Bolivien ausmachen. Ihre politische Benachteiligung änderte sich schlagartig im Jahr 2006, als mit Evo Morales der erste indigene Präsident Boliviens (und ganz Lateinamerikas) an die Macht kam. Der ehemalige Coca-Bauer und Gewerkschaftsführer konnte sich bis 2019 rund 13 Jahre lang an der Macht halten und krempelte mit seinen sozialistischen Reformen das ganze Land um. Er verstaatlichte zahlreiche Industriezweige, verteilte das Land von Grossgrundbesitzern an kleine Bauernbetriebe, führte politische Quoten für indigene Vertreter ein und liess eine neue sozialistische Verfassung für das Land schreiben (über die das bolivianische Volk erstmals abstimmen konnte und sie mit 67% Ja-Stimmen durchwinkte).

Während der antikapitalistische Kurs von Evo Morales und die engen Freundschaften zu schillernden Gestalten wie Fidel Castro und Hugo Chávez in der westlichen Welt zu Sorgenfalten führten, sprechen die Zahlen und Fakten rückblickend klar für die Politik von Morales: Während seiner Amtszeit verfünffachte sich das Bruttoinlandprodukt Boliviens und der Anteil der Bevölkerung, der unter der Armutsgrenze lebt, sank von 70% auf 25%. Auch der Analphabetismus ging in der Zwischenzeit stark zurück, obwohl man ihn im Alltag immer noch spürt, z.B. als Yumi bei einer Busreise von ihrer indigenen Sitznachbarin darum gebeten wird, ihren eigenen Namen auf die Passagierliste zu schreiben. Hinter der beeindruckenden Entwicklung Boliviens steckt das Grundprinzip von Evo Morales, dass die Steuergelder vom reichen Osten des Landes, wo viele Weisse wohnen, in den armen Westen transferiert werden, wo die meisten der insgesamt 34 indigenen Völker leben. In La Paz und El Alto, den beiden benachbarten Epizentren der indigenen Bevölkerung, sieht man das Ergebnis auf atemberaubende Art: Seit 2014 ist hier das grösste städtische Seilbahnnetz der Welt in Betrieb. Bisherige Baukosten: 750 Millionen US-Dollar! Vom ersten Tag an sind wir von der Seilbahn und der Aussicht begeistert, denn La Paz liegt in einem grossen, kreisförmigen Talkessel, der an jedem Hang dicht bebaut ist und spektakuläre Aussichten bietet. Wir fahren darum mit allen verfügbaren Linien fast das gesamte Streckennetz ab und sind ein wenig stolz darauf, dass die Seilbahnkabinen aus der Schweiz stammen :-) Der einzige Wermutstropfen ist, dass es in La Paz aufgrund der Höhe von rund 4000 Meter über Meer wie in der Schweiz ziemlich kalt werden kann und unsere Pullis und Jacken öfter zum Einsatz kommen, als uns lieb ist.

Übrigens: Trotz oder gerade wegen den vielen Erfolgen von Evo Morales endete seine politische Karriere 2019 ziemlich unrühmlich. Wie bei vielen langjährigen Machthabern, ist ihm diese irgendwann in den Kopf gestiegen und er wollte in guter alter Diktatoren-Manier die verfassungsmässige Amtszeitbeschränkung für Präsidenten aufheben, was das Volk (vor allem der Osten) in einem vielbeachteten Referendum ablehnte. Weil er und seine Gefolgsleute im Parlament dieses Verdikt nicht akzeptierten, erreichte er über die Hintertür, dass das Verfassungsgericht kurzerhand den Artikel über die Amtszeitbeschränkung trotzdem aus der Verfassung warf und er erneut kandidieren durfte. Nach Unregelmässigkeiten bei der Auszählung der ohnehin schon fragwürdigen Präsidentenwahl 2019 kam es dann zu so grossen Protesten, dass er fluchtartig das Land verlassen musste – natürlich mit dem nötigen Kleingeld der bolivianischen Nationalbank im Gepäck :-)

Nach drei kühlen, ereignisreichen und spannenden Wochen in Bolivien freuen wir uns nun auf die tropischen Temperaturen im politisch hochstabilen Costa Rica!

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