You-Me and Marco Polo
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Iran

Veröffentlicht: 29.05.2019

Fast alle Touristen, die den Iran bereisen, haben etwas gemeinsam: Sie haben Mütter, die sich Sorgen machen und versuchen, ihrem Kind von einer Reise in den Iran abzuraten – egal ob die Mutter aus Italien (Marco), aus Kuba (Yumi) oder wie im Fall unserer Hotel-Rezeptionistin in Dubai aus Kenia stammt. Die meisten Mütter wissen zwar nicht viel über den Iran, aber sie wissen genau, dass es dort gefährlich ist. Das schlechte Image Irans ist auch nicht weiter verwunderlich. Schliesslich hört, liest und sieht man in unserer Medienlandschaft eigentlich nur schlechte Dinge über das Land. Es fängt bereits mit den Nachbarstaaten an: Der Iran liegt eingebettet zwischen dem Irak, Afghanistan und Pakistan. Daneben ist die iranische Regierung in zahlreichen Krisenherden wie Syrien und Jemen militärisch aktiv. Und dann sind da noch das iranische Atomprogramm, die harten US-Sanktionen und die Tatsache, dass der Iran das Existenzrecht Israels aberkennt.

Unsere grösste Sorge vor der Ankunft im einzigen schiitischen Gottesstaat der Welt ist paradoxerweise gleichzeitig die grösste Hoffnung unserer Mütter. Denn es ist alles andere als sicher, dass wir überhaupt in den Iran einreisen können. Gemäss iranischen Einreisebestimmungen wird nämlich niemand ins Land gelassen, der mal in Israel war. Entsprechend werden alle Pässe bei der Visumsvergabe und bei der Einreise nach hebräischen Schriftzeichen durchforstet. Wir haben zwar trotz unseres Israel-Besuchs vor einem halben Jahr keinen israelischen Stempel im Pass (die Israelis wollen ja keine Touris «brandmarken» und händigen stattdessen separate Einreise-Zettel aus). Dummerweise sind wir aber damals von Israel aus über den Landweg nach Jordanien gereist und haben darum einen jordanischen Stempel im Pass – und zwar eindeutig einen Stempel vom israelisch-jordanischen Grenzübergang. In weiser Voraussicht besorgen wir deshalb unser Iran-Visum nicht erst am Flughafen von Teheran, sondern in der iranischen Botschaft von Buenos Aires. Vom ersten Antrag bis zur Aushändigung verstreichen zwar fünf Wochen, letztendlich bekommen wir das Visum aber höchstpersönlich vom iranischen Konsul überreicht, zusammen mit einer Packung Saffran, einem Händedruck und einem herzlichen «Welcome to our country!»

Einige Tage später sitzen wir im Flieger von Istanbul nach Teheran und freuen uns auf weitere Kostproben iranischer Gastfreundschaft. Der erste Eindruck im Flugzeug ist positiv und weltoffen: Die Iraner und vor allem die Iranerinnen in unserem Flieger sehen «normal» aus, sprich: 90% sind nicht verhüllt, nur ein paar wenige Frauen tragen einen schwarzen Umhang mitsamt Kopftuch. Eine Vollverhüllung in Form einer Burka oder eines Niqabs (das Augenschlitz-Ding) sehen wir aber nirgends. Kurze Zeit später werden wir jedoch alles andere als weltoffen am Flughafen von Teheran empfangen. Das Problem sind überraschenderweise nicht die Pass- oder Visums-Kontrollen, sondern die iranischen Kleidervorschriften. So müssen sich im Iran alle Frauen bzw. Mädchen ab 9 Jahren unabhängig von ihrer Herkunft und Religion in der Öffentlichkeit verhüllen. Das beginnt juristisch gesehen in dem Moment, als unser Flieger iranischen Boden berührt. Und tatsächlich: Schwupps, alle Iranerinnen, die vorher wie Yumi angezogen waren, haben plötzlich ein Kopftuch und langärmlige Sachen an. Auch Yumi packt nun ihr «Kopftuch» bzw. ihren zweckentfremdeten Schal und ihr schwarzes Jäckchen aus und verwandelt sich im Handumdrehen in eine fromme Muslimin. Wer sich als Frau im Iran nicht an die Bekleidungsvorschriften hält und von der iranischen Sittenpolizei erwischt wird, riskiert eine Gefängnisstrafe. Yumi verzichtet erst mal auf eine Protestaktion, weshalb wir bei der Immigration ohne Probleme durchkommen.

Die ersten paar Tage verbringen wir in der Hauptstadt Teheran, die rund 20 Mio. Einwohner zählt. Wir sind erstaunt, wie sauber und modern hier alles ist. Die Strassen sind in einem sehr guten Zustand, es liegt nirgends Abfall herum und überall stehen neue, helle Shops mit grossen Fensterfronten. Eine U-Bahn gibt’s hier auch, und zwar eine topmoderne mit blitzblanken Haltestellen. Auch viele junge Frauen sind auf Hochglanz poliert bzw. mit extrem viel Make-Up geschminkt – wahrscheinlich um zu kompensieren, dass sie sich nicht sexy anziehen dürfen. Neben künstlichen Wimpern und knallroten Lippen fällt uns vor allem ein drittes Gadget auf: Ziemlich viele Frauen laufen mit einem grossen Pflaster auf der Nase herum. Schnell erfahren wir, dass dies nichts mit häuslicher Gewalt oder einem religiösen Ritual zu tun hat, sondern damit, dass sich viele Einwohnerinnen ihre charakteristischen Hakennasen operieren und geradebiegen lassen, um europäischer und somit schöner auszusehen. Wir hören und staunen: Es gibt weltweit nirgends so viele Nasenoperationen wie im Iran! Die Frauen sind so stolz auf ihre Nasenkorrektur, dass sie freiwillig selbst Monate nach dem Eingriff noch mit einem Nasenpflaster herumlaufen. Damit wollen sie signalisieren, dass sie aus gutem Hause stammen und sich eine solche OP leisten können. Manche Frauen – so hören wir – kleben als Status-Symbol sogar dann ein Pflaster auf ihre Nase, wenn sie gar nicht operiert wurden.

Neben der Verhüllungspflicht gibt es im Iran zahlreiche andere Verhaltensregeln, die wir vom ersten Tag an beachten müssen. Zum Beispiel sollten unverheiratete Pärchen auf Händchenhalten verzichten und Männer dürfen Frauen zur Begrüssung die Hand nicht schütteln – ausser, die Frau bietet es von sich aus an. Das internationale OK-Zeichen (Daumen nach oben) sollte man möglichst vermeiden, denn es bedeutet hier ursprünglich: «Steck dir den Finger in den Hintern!» Genauso sollte man auf das Naseschnäuzen in der Öffentlichkeit verzichten, weil es hier etwa gleich schlimm ist, wie wenn man in seine Handtasche erbrechen würde.

Als wir kurz nach unserer Ankunft im Hostel standardmässig erst mal ein paar Flaschen Wasser besorgen möchten, werden wir darauf aufmerksam gemacht, dass man in ganz Teheran problemlos Leitungswasser trinken kann. «Wow, das hätte ich nicht gedacht!», meint Marco euphorisch. Das Hahnenburger schmeckt sogar ziemlich gut, denn es stammt aus den umliegenden Bergen, wo die Einwohner im Winter gerne Skifahren gehen. Die Parallelen zur Schweiz gehen sogar noch weiter: Das Bildungsniveau ist hoch, viele Einwohner in unserem Alter sprechen Englisch, sind neugierig und technologisch auf dem neusten Stand. Wer günstig von A nach B fahren will, bestellt via Smartphone ein «Snapp» – die iranische Version von Uber. Zudem fällt uns auf, dass die Iraner sehr anständig und zurückhaltend im Umgang miteinander sind. Im grossen Markt bzw. Bazar von Teheran ist es fast schon gespenstig ruhig und auf den notorisch überfüllten Strassen gibt es kein Herumgehupe wie in anderen Grossstädten. Gleich noch an unserem ersten Abend verabreden wir uns mit dem iranischen Pärchen Alireza (er) und Masha (sie) zum Abendessen, wo wir nicht nur mehr über den fortschrittlichen, sondern auch über den rückständigen Iran lernen. Das beginnt schon bei der Zeitrechnung. Denn seit der islamischen Revolution von 1979 gilt hier nicht mehr der normale, sondern der islamische Kalender. Wir bereisen das Land also nicht im Jahr 2019, sondern im Jahr 1398. Je mehr wir über die Hintergründe der Revolution erfahren, desto mehr fühlt es sich tatsächlich so an, als ob wir hier im Mittelalter gelandet wären.

Die Frage, wo wir hier eigentlich genau gelandet sind, ist durchaus berechtigt: Der Iran heisst nämlich erst seit 1935 Iran, früher hiess das Land Persien und war vor ca. 2500 Jahren das grösste Reich der Welt. Die Perser bzw. Iraner sind keine Araber, wurden aber mal von ihnen erobert, weshalb der Islam seit Langem Staatsreligion ist und fast alle Perser/Iraner Muslime sind. Vor ca. 100 Jahren kam es zu einer demokratischen Revolution, die von westlich orientierten Iranern angeführt und gewonnen wurde. Persien erhielt danach eine moderne Verfassung inkl. Gewaltenteilung und Parlament und wurde zwei Generationen lang von pro-westlichen «Schahs» (Königen) regiert. Diese modernisierten das Land und schränkten die Macht der islamischen Geistlichen ein. So wurde z.B. 1936 ein Verhüllungsverbot und 1963 (noch vor der Schweiz) das Frauenstimmrecht eingeführt. Die Schahs hatten aber auch ihre negativen Seiten, z.B. waren sie sehr korrupt und autoritär. Proteste gegen sie wurden konsequent niedergeschlagen und Andersdenkende eingesperrt, was letztlich zu einer zweiten Revolution führte – jener von 1979. Der letzte Schah von Persien musste das Land fluchtartig verlassen. Obwohl die Revolution von Studenten, Kommunisten und moderaten Religiösen angeführt wurde, riss sich danach überraschenderweise ein religiöser Hardliner die Macht unter die Nägel.

Dieser Mann hiess Ayatollah Chomeini und machte das Land mit seiner islamischen Revolution zu dem, was der Iran heute ist: Ein streng religiöser Gottesstaat, in welchem der Koran das Gesetz ist. Chomeini erklärte sich selbst zum «obersten Führer» bzw. Diktator, der überall das letzte Wort hat. Er machte als erste Amtshandlung sämtliche Reformen seiner Vorgänger rückgängig und verabschiedete eine Reihe neuer Gesetze, die auf der Scharia (den islamischen Rechtstexten) beruhen. Dort steht zum Beispiel, dass Mädchen ab 9 und Jungs ab 13 Jahren heiraten dürfen, wenn die Eltern einverstanden sind. Oder dass Ehemänner das Recht auf die sexuelle Verfügbarkeit ihrer Ehefrauen haben und es mit Gewalt durchsetzen können. Frauen dürfen zudem nur mit der Einwilligung des Mannes berufstätig sein, ihre eigenen Eltern besuchen, einen Reisepass besitzen oder sich scheiden lassen. Schläge oder sexuelle Gewalt durch den Mann sind dabei ausdrücklich kein Scheidungsgrund, umgekehrt kann der Mann seine Frau jedoch jederzeit ohne Angabe von Gründen verstossen und bekommt dann in der Regel das Sorgerecht für die Kinder. Ausserehelicher Geschlechtsverkehr ist zwar sowohl für Frauen wie auch für Männer unter Todesstrafe verboten, allerdings dürfen Männer parallel 4 Ehefrauen haben und können bei Seitensprung-Gelüsten ganz legal eine Zeitehe für 30 Minuten bis 99 Jahre abschliessen. «Wow, das hätte ich nicht gedacht!», hält Yumi konsterniert fest. Die Realität sieht im Iran zum Glück nicht ganz so krass aus, denn viele Gesetze aus der Scharia werden von der iranischen Gesellschaft nicht akzeptiert bzw. ignoriert. In Teheran sehen wir z.B. ab und zu junge Frauen, die kein Kopftuch tragen. Und seit vor Kurzem eine dieser Frauen von der Sittenpolizei geschnappt und zu einem Monat Gefängnis verdonnert wurde, zieht eine regelrechte Anti-Kopftuch-Protestwelle durchs Land: Jeden Mittwoch machen Hunderte von Frauen in der Öffentlichkeit, vor allem in Teheran, Selfies ohne Kopftuch und posten diese aus Solidarität auf Instagram.

Auch die Rechte und Pflichten in der Ehe sehen in Wirklichkeit etwas anders aus. «Es gibt nur wenige Männer, die mehr als eine Frau haben», meint zum Beispiel Alireza, «und das sind alles Araber, nicht Perser!». Um sicher zu gehen, liess seine Frau Masha, die nicht religiös ist, einfach wie viele andere Iranerinnen ihren Mann einen Ehevertrag unterschreiben, der ihr all jene Rechte einräumt, die ihr die Scharia verwehren würde. «Apropos nicht religiös», fragen wir interessiert nach, «wie viele Iraner haben denn mit Religion nichts am Hut?» Alireza und Masha nennen uns eine Zahl, die uns zunächst erstaunt, aber später immer wieder von unseren Bekanntschaften bestätigt wird: Mindestens 60% der Bevölkerung sind nicht religiös – aber tun in der Öffentlichkeit so, wie wenn sie es wären. Der Grund ist einfach: Im Iran kann man nicht einfach so wie bei uns aus der Kirche austreten, denn für die Abkehr vom Glauben droht Muslimen im Iran die Todesstrafe. Da ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass gemäss offiziellen Statistiken 99% der Einwohner Muslime sind :-) Schwule und Lesben gibt es offiziell genauso wenig wie Atheisten, denn auch Homosexualität ist verboten und homosexuelle Handlungen werden mit dem Tod bestraft. Das scharfe Strafgesetz wird leider nicht bloss als Drohung verstanden, sondern immer wieder in die Tat umgesetzt. Gemessen an der Bevölkerungszahl (und das sind immerhin 80 Millionen, also gleich viel wie in Deutschland) finden nirgendwo auf der Welt so viele Hinrichtungen wie im Iran statt. Auch deshalb hält der Iran paradoxerweise einen anderen Weltrekord, nämlich denjenigen der meisten Geschlechtsumwandlungen – pro Kopf und absolut. Weil der Staat nämlich nur heterosexuelle Paare akzeptiert, werden alle Iraner, die sich im falschen Geschlecht fühlen bzw. sich zum gleichen Geschlecht hingezogen fühlen, vom Staat finanziell unterstützt, um einen operativen Eingriff zu ermöglichen. Hauptsache, man hält sich an die Vorschriften der Scharia. Das gilt übrigens auch für heterosexuelle Paare. So existiert in der persischen Sprache nur der Begriff «Ehemann/-frau», um eine Beziehung zwischen Mann und Frau zu beschreiben. Eine Übersetzung des Worts «Freund/in» im Sinne von boyfriend & girlfriend existiert nicht, weil es dieses Wort gemäss islamischer Rechtslehre nicht braucht. Aussereheliche Beziehungen zwischen Mann und Frau sind verboten, weshalb Paare ohne zu heiraten nur illegal zusammenziehen können.

Yumi platzt zum ersten Mal der Kragen: «Statt zu regeln, wer was anziehen und wer mit wem schlafen darf, sollte sich die Regierung lieber mal um die bettelnden und arbeitenden Kinder kümmern!» Wo sie Recht hat, hat sie Recht: Jeden Tag sehen wir hier Strassenkinder. Gemäss Lonely Planet leben über 2 Millionen im Iran, die meisten arbeiten und betteln im Auftrag von kriminellen Banden, müssen ihnen am Ende des Tages alles abgeben und erhalten als Gegenleistung etwas zu Essen und ein Dach über dem Kopf. Oftmals landen Waisenkinder bei diesen Banden oder Kinder aus verarmten Familien werden an sie verkauft. Die Regierung ist mit der Situation überfordert und unternimmt nichts gegen den Missstand (mit der unzutreffenden Begründung, dass es sich dabei um Migrantenkinder und nicht um iranische Bürger handle). Dafür werden streunende Hunde in Teheran systematisch von städtischen Angestellten niedergeschossen, weil sie im Islam als unrein gelten. So sehen wir praktisch keine Hunde, dafür viele Strassenkinder und noch mehr streunende Katzen, die von Passanten entsprechend gehätschelt und gefüttert werden.

Je mehr wir in Richtung Süden reisen, desto mehr spüren wir die Präsenz der 40 (oder weniger) Prozent, die im Iran religiös sind. Die Vollverhüllungsquote und das Volumen der Minarett-Lautsprecher steigen in diesen Breitengraden – und dummerweise auch die Temperaturen. Die ohnehin schon nicht besonders hitzebeständige Yumi schlägt sich mit ihrem Kopftuch und der langen Kleidung aber tapfer durch und klappert zusammen mit Marco die Sehenswürdigkeiten im Land ab. Um niemanden zu beleidigen und nicht gegen irgendwelche Gesetze zu verstossen, achtet Yumi penibel darauf, dass ihr Kopftuch immer gut sitzt. Das einzig Positive an der Verhüllung ist, dass Yumi immer wieder mal für eine Iranerin gehalten und auf Persisch angesprochen wird. Dabei stellen wir uns zum ersten Mal die Frage, warum sich Musliminnen eigentlich überhaupt verhüllen und warum es jede ein bisschen anders macht. Die Antwort: Im Koran steht, dass Frauen sich verhüllen müssen; was oder wie viel sie verhüllen sollen, steht jedoch nicht drin und ist somit Auslegungssache. Darum gibt es in Afghanistan die Burka mit Gitterfenster, in Saudi-Arabien den Niqab mit Augenschlitz und im Iran den nonnenmässigen Tschador sowie das einfache Kopftuch. Im Koran steht an einer Stelle übrigens auch, warum sich Frauen verhüllen müssen, nämlich damit sie von den Männern nicht belästigt werden. Welch Ironie, dass heute im Iran vor allem die konservativen Grossmütter im Tschador herumlaufen, während die jungen Frauen alles unternehmen, um so viel Haut, Haare und Konturen wie möglich zu zeigen :-)

In der Wüstenstadt Yazd angekommen, windet es gerade ziemlich stark, als wir durch die Altstadt spazieren und Yumi ein paar Fotos von einer Moschee machen will. Dann passiert das Unvorstellbare: Yumis Kopftuch wird vom Winde verweht und entblösst ihre Haarpracht. Weil sie gerade mit fotografieren beschäftigt ist, merkt sie es aber nicht und korrigiert ihr Tenue nicht sofort. Da kommt plötzlich ein Mann auf Marco zu, fuchtelt mit den Händen über den Kopf und ruft: «Hijab! Hijab!» – will heissen: «Sag deiner Frau, sie soll ihr Kopftuch wieder anziehen!» Yumi platzt zum zweiten Mal der Kragen: «Hei ist das mühsam! Dieses Land verdient es einfach nicht, von Touristinnen besucht zu werden!» So wird Yumi schlagartig zur militanten Feministin, die überall nur noch islamische Unterdrücker und weibliche Unterdrückte sieht. Sie regt sich zum Beispiel darüber auf, dass in den Restaurants immer nur Marco eine Menü-Karte bekommt, während sie von den Kellnern eisern ignoriert wird. Die Locals erklären uns, dass (einmal mehr) nicht alles so ist, wie es scheint: Denn im Iran ist es schlicht unhöflich, als Mann direkt mit einer vergebenen Frau zu interagieren. Yumi wird also nicht respektlos wie Luft behandelt, sondern im Gegenteil als Zeichen des Respekts bewusst ignoriert! Der Schaden ist aber bereits angerichtet und Marco kann diesen nicht wieder reparieren, auch nicht wenig später, als er Yumi auf eine positive Strassenszene hinweist, die sie aufmuntern soll: «Schau mal, dort fährt eine Frau Auto und der Mann sitzt auf dem Beifahrersitz.» Yumi reagiert nicht gross, weshalb Marco nachschiebt: «Das ist doch fortschrittlich, oder?». Jetzt muss Yumi grinsen und ihre Reaktion erklären: «Achso, ich dachte gerade, dass die Männer hier einfach so verwöhnt sind, dass sie sich lieber von ihren Frauen herumchauffieren lassen, als selber zu fahren!». Alles was mit dem Thema Frauen im Iran zu tun hat, wird von Yumi nur noch negativ interpretiert...

Marco wundert sich dennoch, dass sich Yumi als gebürtige Kubanerin im Iran nicht wohler fühlt. Immerhin gibt es erstaunlich viele Parallelen zwischen Kuba und dem Iran. Beide Länder feierten im Jahr 2019 einen runden Revolutions-Geburtstag (Kuba 60 Jahre Fidel Castro und Iran 40 Jahre Ayatollah Chomeini). Beide Länder sind seit ihrer Revolution Todfeinde der USA, weshalb sie hart sanktioniert werden und keine internationalen Kredit- und Debitkarten im Land funktionieren. Wir müssen also für unsere gesamte Aufenthaltsdauer im Iran wie in Kuba genügend Bargeld mitnehmen und vor Ort in die lokale Währung umtauschen. Weil US-Präsident Trump vor einem Jahr aus dem Atom-Deal ausgestiegen ist und neue Sanktionen gegen den Iran verhängt hat, ist die lokale Währung dermassen eingebrochen, dass wir im Iran – im Gegensatz zu Kuba – von unglaublich günstigen Preisen profitieren können. Ein Bier oder ein Mojito kosten in einem iranischen Restaurant 30-60 Rappen, allerdings gibt es einen Haken: Die Getränke enthalten keinen Alkohol, weil dieser im Iran ebenfalls verboten ist. Trotzdem wird im Iran täglich Alkohol in rauen Mengen konsumiert, einfach nicht in der Öffentlichkeit. Auch hier integrieren wir uns vorbildlich, als wir in einem Campingzelt in der Wüste übernachten und vor dem Lagerfeuer bei einem Trinkspiel mitmachen. Der 21-jährige Hossein, der den selbstgebrannten Schnaps mitgebracht hat, erklärt uns, wie einfach es ist, an Alkohol zu kommen: «Wenn du die richtigen Leute kennst, bekommst du mit einem Telefonanruf innerhalb von 5 Minuten Alkohol, Cannabis und andere Drogen nach Hause geliefert. Wenn du niemanden kennst und kein Telefon hast, dauert es 10 Minuten.» Wir sind dennoch überrascht, als wir später erfahren, dass der Iran weltweit zu den Ländern mit den meisten Drogentoten gehört, denn für zahlreiche drogenbezogene Tatbestände ist hier zwingend die Todesstrafe vorgesehen, darunter sogar für den Anbau von Cannabis. «Etwa drei Viertel aller Hinrichtungen im Iran werden wegen Drogendelikten durchgeführt», erzählt Hossein seelenruhig, während er einen Joint raucht und diesen am Lagerfeuer in die Runde reicht.

Wer denkt, dass sich die iranische Verbotsliste nicht mehr ausweiten lässt, der hat den muslimischen Fastenmonat Ramadan vergessen. Während dieser Zeit darf man im Iran von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang unter anderem nichts essen, nichts trinken und nicht rauchen. So bleiben einen Monat lang sämtliche iranischen Restaurants tagsüber geschlossen und Essen/Trinken/Rauchen in der Öffentlichkeit ist ein absolutes Tabu. Die Mondkonstellation will es, dass ausgerechnet in unserer dritten Woche im Iran der Fastenmonat beginnt. Fromme Muslime müssen jeweils 30 Tage im Jahr fasten, um an den heiligen Monat zu erinnern, als ihr Prophet Mohammed die ersten Verse des Korans von Gott empfing. Mit dem Fasten sollen Muslime tagsüber allen irdischen Bedürfnissen entsagen, um so Allah näherzukommen. Glücklicherweise ist Nicht-Fasten im Iran etwa gleich verbreitet wie Nicht-Glauben oder Trotz-Verbot-trotzdem-Saufen-und-Kiffen, weshalb wir (natürlich nur hinter verschlossenen Türen) jeden Tag spät frühstücken und uns jederzeit innerhalb von 5 Minuten ein leckeres Mittagessen nach Hause bestellen können.

Je länger wir im Iran sind, desto besser verstehen wir, dass nicht die fehlende gesellschaftliche Freiheit das Hauptproblem der jungen Generation ist. Denn es gibt für praktisch jedes islamische Verbot einen Workaround. Das Hauptproblem ist wirtschaftlicher Natur, insbesondere seitdem die internationalen Sanktionen wieder aufgegriffen und verschärft wurden. Innerhalb von einem Jahr sank der Durchschnittslohn von 400 auf 100 Franken pro Monat, viele importierte Güter sind seither nicht mehr erschwinglich oder gar nicht mehr erhältlich. So können selbst heiratswillige Paare nicht mehr für ein Haus oder ein Auto sparen und Eltern aus der breiten iranischen Mittelschicht müssen beim Bildungsniveau ihrer Kinder sparen, weil sie sich keine guten Privatschulen mehr leisten können. Alireza und Masha, zwei Uni-Abgänger, die inzwischen beide 40 sind und ein 8-jähriges Kind haben, befinden sich in der glücklichen Lage, dass sie für schwierige Zeiten gespart haben, um das Land verlassen zu können. Sie haben vor Kurzem die Bewilligung erhalten, nach Schweden auszuwandern, wo sie nochmals ein Studium in Angriff nehmen und sich für die nächsten Jahre niederlassen können. Weil aber die meisten Iraner aus finanziellen Gründen dazu verdammt sind, im Land zu bleiben, meint Hamed, unser Gastgeber in Shiraz: «Es brodelt in der Bevölkerung. Nicht nur bei den Studenten und den liberalen Eliten, sondern erstmals auch bei der armen und religiösen Bevölkerung, die bisher immer der islamischen Regierung die Stange hielt.» Die Regierung versucht derweil krampfhaft, die Schuld an der Misere auf die Westmächte zu schieben. So staunen wir nicht schlecht, als wir eines Tages in Shiraz mitten in einer Grossdemo landen, wo Tausende vollverhüllte Frauen mit ihren Kindern an der Hand laut «Nieder mit den USA!» und «Nieder mit Israel!» skandieren. Hamed zuckt nur mit den Schultern und sagt, dass sich immer weniger Leute unter Druck setzen lassen, um an solchen staatlich organisierten Demos teilzunehmen – und dass viele von ihnen die Schuld für die Krise nicht bei der internationalen Gemeinschaft, sondern bei der iranischen Regierung sehen.

Nach 3 Wochen in der islamischen Republik und den unglaublich vielen Eindrücken und Einblicken sind wir ziemlich froh, dass wir die weitere Entwicklung im Iran bequem von der Schweiz aus beobachten können… und uns hierzulande mit anderen Problemen wie verspäteten Zügen oder Kühen ohne Hörner herumschlagen dürfen :-) Nach 9 Monaten und 70'000 Reisekilometern freuen wir uns jetzt darauf, wieder in der Schweiz sesshaft zu werden, nicht mehr aus einem Koffer leben zu müssen und zur Abwechslung wieder mal so etwas wie Alltag und Routine erleben zu dürfen!
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