Grün am Wegesrand
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Grenzgänger

Veröffentlicht: 19.09.2019

Wir sind schon seit über eine Woche in Armenien. Wir waren vor allem in der Hauptstadt, Jerewan, die uns europäisch und klassisch-kreativ erschien. 


Mittlerweile bewegen wir uns Richtung Norden, wo es schöne Wanderrouten und weitere Klöster gibt. Viele Beobachtungen - wie sich die Armenier kleiden, wie sie sprechen, was sie machen - und unsere bisherigen Erfahrungen - die Begegnungen in dem kleinen Hostel, in dem wir geschlafen haben, die kurzen Gespräche auf der Strasse - stossen immer wieder eine Frage an: Wo ist die Grenze?


Anscheinend neigen wir Menschen dazu, unsere Umwelt in zwei Haufen aufzuteilen und dazwischen eine Linie zu ziehen. Es gibt gut und schlecht. Schön und hässlich. Meins und deins. Richtig und falsch. Und eben: normal und nicht normal.

Bewegen wir uns in unserem gewöhnlichen Setting, in unserer Kultur und unter den Menschen, mit denen wir aufgewachsen sind, so fällt uns vielleicht gar nicht auf, wo wir eine Grenze zwischen gut und böse ziehen. Wir denken nicht darüber nach, es geschieht automatisch. Doch wenn wir reisen, ist das eine andere Geschichte.

Wir sind Fremdkörper.


Wir haben keine Ahnung von den lokalen Linien und Trennungen.

Aber wir lernen sie kennen. Und da kann etwas in Gang gesetzt werden, was uns hilft, diese Grenzen bewusster zu ziehen. Oder auch eben nicht.

Wir sind mit kleinen Kindern unterwegs. Das heisst, wir werden automatisch zum gesellschaftlichen Allgemeingut. Die Grenzen der Privatsphäre werden regelmässig von unseren Kindern missachtet, wenn sie auf andere Leute zugehen, ihnen den Weg abschneiden und in sie hineinrennen, oder wenn sie so laut im Bus schreien, dass keiner Musik hören kann. Aber auch für die Menschen um uns herum ist es ein Zeichen, dass sie auf uns zukommen sollen - weil sie unsere Kids in die Backe kneifen wollen, uns unbedingt eine Wochenration Brot schenken müssen, oder einfach nur ein Gespräch oder ein Foto möchten. 


Unsere Kinder werden auch regelmässig von Fremden vor dem vermeintlichen sicheren Tod gerettet, auf Treppen und an Mauern. Auch, wenn wir Eltern daneben stehen. Für die Menschen im Kaukasus sind die Grenzen der Kinder wohl andere - kleine Kinder dürfen sich weniger frei bewegen ausserhalb der eigenen vier Wände.

Eine weitere kulturelle Grenzüberschreitung begehen wir täglich mit unseren Schuhen. Hier sind Schuhe sehr wichtig. Da es in den Ländern, die wir bis jetzt bereist haben, sehr staubig ist, legen die Menschen besonderen Wert darauf, makellos geputztes Schuhwerk zu tragen. Ist logisch. Da fallen wir natürlich mit unseren ausgelatschten Flipflops auf. Wir tragen unsere Flipflops mittlerweile von morgens bis abends. Wir haben zwar feste Schuhe dabei, doch die sind zum Wandern oder für kalte Tage. Und da es bis jetzt kaum kalte Tage gab, laufen wir in den dreckigen Latschen herum, die die Augenbrauen jeder armenischen Oma wahrscheinlich schon aus einem Kilometer Entfernung zucken lassen. Flipflops. 


Wir wissen, dass wir damit eine Grenze überschreiten. Und es wird noch dramatischer: Denn in diesen Ländern (wohlgemerkt: Staub) geht niemand barfuss. Nie. Und nirgendwo. Das heisst, draussen trägt man schöne Schuhe, und drinnen trägt man irgendwas Leichtes - oh, Flipflops. Damit stossen wir an ein Limit mit unserem Schuhvorrat. Wir haben uns deshalb entschlossen, unsere Schuhe entweder einfach überall zu tragen, und wenn niemand schaut, dann im Haus barfuss zu sein. Und irgendwie können wir diese Regel unseren Kindern einfach nicht beibringen. Sie vermissen es, barfuss über Gras zu laufen. Bei jeder Gelegenheit reissen sie sich die Sandalen vom Leib und stürmen los. Der Schock jeder armenischen Mutter. An den Reaktionen merken wir, dass wir die Grenze des Anstands und der psychischen und physiologischen Gesundheit unserer Mitmenschen damit reizen - aus ihrer Sicht eben. Und da beginnt ein interessanter Prozess, denn wir fragen uns: Was ist normal? Ist es ungesund, wenn ein Kind im Sommer auf kalten Fliessen spielt? Ist es gesund oder angebracht, barfuss zu laufen? Wo ist die Grenze zwischen Das-wollen-wir-unbedingt-machen und Das-sollten-wir-besser-sein-lassen? Wir als Familie kommen ins Grübeln - und merken, wie wir von unserer Kultur und Herkunft geprägt sind.

Wir begegnen hier in Armenien sehr, sehr gastfreundlichen Menschen. Egal, wo wir sind, Fremde auf der Strasse beschenken uns, zeigen uns Wertschätzung und helfen uns. Zum Beispiel waren wir in einem Ort ausserhalb von Jerewan unterwegs. Nach einer langen Wanderung kamen wir an der Hauptstrasse an und hofften, dass noch ein Bus in die nahe Hauptstadt fährt. Ein etwas fahrig aussehender, älterer Mann setzte sich zu uns und erklärte uns, dass kein Bus mehr kommen würde. Er war uns aber suspekt, auch wenn er uns direkt mit frischen Walnüssen versorgte. Was wollte er von uns? Gehört er zu den guten Menschen oder zu der schlechten Sorte? Kurze Zeit später tauchte ein wesentlich vertrauenserweckender Mann auf, der uns in sein Haus einlud, um dort auf ein Taxi zu warten. Wir gingen mit, da auch wir mittlerweile restlos davon überzeugt waren, dass wir den letzten Bus verpasst hatten. Was uns in Europa wahrscheinlich niemals passiert wäre, geschah jetzt umso verblüffender: Als wildfremde Touristen wurden wir spontan eingeladen, sassen auf einem niegelnagelneuen Sofa, wurden mit frischem Obst gemästet und freundlich ausgefragt. Wo wahrscheinlich jeder in Deutschland oder in der Schweiz eine Grenze gezogen hätte (Ich helfe dir, aber nur mit einer kurzen Auskunft), so schien diese Art der Gastfreundschaft hier völlig natürlich und angebracht. Schliesslich erschien der Bruder unseres neuen Freundes, der uns dann für ein kleines Trinkgeld in die Stadt fuhr. Wir waren sehr, sehr dankbar für diese Begegnung und dass wir von diesem Verständnis von Gastfreundschaft so profitieren dürfen. Wir möchten auch davon lernen.

Dass Grenzen hier in Armenien aber auch physisch erfahrbar sind, das sehen wir, wenn wir in die Weite blicken. 


Von der Hauptstadt aus sieht man den imposanten Berg Ararat. Der liegt aber dummerweise in der Türkei. Die Grenzen für die Armenier wurden im Laufe der Geschichte immer enger, denn früher lebten sie über ganz Kleinasien verstreut - und betrachteten den Berg Ararat als ihren Berg. Armenien ist ein kleines Land, das heute von seinen Nachbarn eingekesselt erscheint. Leider ist es keine gute Nachbarschaft. Auf der einen Seite die Türkei, die in ihrer Geschichte leider kein gutes Miteinander mit den Armeniern pflegte (den einen oder anderen Genozid - es lohnt sich, darüber zu lesen! Wir können aus dieser Geschichte nur lernen). Auf der anderen Seite Aserbaidschan, die ein gutes kulturelles und wirtschaftliches Verhältnis mit den Türken pflegen und - oh Wunder - mit den Armeniern im Krieg sind. Wie kommts? Das kommt drauf an, welche Seite man fragt. Es geht um ein Gebiet, wunderschön in den Bergen gelegen, das offiziell zu Aserbaidschan gehört, aber grösstenteils von Armeniern bewohnt wurde und immer noch bewohnt ist. Das armenische Militär hat dieses Gebiet besetzt und seit mehreren Jahrzehnten herrscht ein Zustand zwischen Schusswechseln und Stille. Was uns so traurig macht: Dieser Konflikt scheint kaum lösbar. Er hat sich entwickelt, weil im Kaukasus, wo so viele Gruppen wild durcheinander gemischt lebten und leben, nunmal Grenzen fehl am Platz scheinen. Und doch wurden sie gezogen: Von Gremien und Politikern irgendwo in Berlin oder Moskau, von Kolonialmächten und von Herrschern. Es sind nicht die eigenen Grenzen, sondern die der Grenzenbestimmer. 


Das hat fatale Auswirkungen auf die Menschen, die dort wohnen. Armenien ist unter anderem deshalb so ein armes Land, weil ein Grossteil des Staatsbudgets für die ständige Aufrüstung draufgeht. Damit bleibt weniger für Strassen und Schulen, Krankenhäuser und Universitäten übrig. Und es hat fatale Folgen für das Denken der Menschen: Sie müssen ein Feindbild haben, und das Feindbild sind - ganz klar - die auf der anderen Seite der Grenze. Hier in Armenien wird über die fiesen Aserbaidschaner geschimpft, und in Aserbaidschan durften wir kaum über Armenien sprechen, weil wir emotionale Ausbrüche fürchteten (an der Grenze wurde mehrmals im Pass geblättert, um zu überprüfen, ob wir schon einen armenischen Stempel drin hatten). Zäune und Mauern machen etwas mit dem Menschen - und es ist nicht zum Guten.


Wir wollen die Grenzen anderer respektieren. Wir wollen sie danach fragen und sie in dem verstehen.

Wir wollen aber auch unsere eigenen Grenzen spüren und uns erlauben, auch in einem fremden Umfeld eine Grenze zu ziehen.

Das wichtige ist eigentlich, herauszufinden, was die eigenen Grenzen sind. Nicht die irgendwelcher Mächte oder Kulturen. Wo man selbst die Linie zwischen gut und böse, zwischen mein und dein, zwischen normal und nicht normal zieht.

Und das lernen wir gerade.



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