Grün am Wegesrand
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Die hohe Kunst der Gleichgültigkeit

Veröffentlicht: 19.09.2019

Mittlerweile sind wir schon 2 Monate durch den Kaukasus gereist. Wir haben uns angepasst, an uns selbst gerieben und viel beobachtet. Und nach 2 Monaten ist ein wenig Verliebtheit (Oooh, ist das alles so toll hier!) abhanden gekommen. Stattdessen offenbart sich das, was wir alle wissen, aber nicht spüren wollen: Dass wir aus einer anderen Kultur kommen und nun mal in ihr gefangen sind. Und wir kommen aus einer Kultur der 

Effizienz und Ordnung.


In Deutschland oder der Schweiz mag es fast ein Volkssport sein. Das Kopfschütteln über ineffiziente Behörden, die Beschwerde über jemanden, der zu schnell Auto fährt, und die vielen kreativen Vorschläge, wie die Mülltrennung besser zu machen sei. Es scheint uns im Blut zu liegen, ständig zu optimieren, immer bessere Lösungen zu finden, aufzuräumen, zu renovieren, zu meckern. Auch unter jungen Leuten gibt es den Zwang, seine Zeit möglichst sinnvoll zu nutzen: Immer etwas zu tun, sich immer zu verbessern, bloss nicht versiffen.

Nun, wir hatten eigentlich gedacht, dass wir in so ein pauschales Schema gar nicht hineinpassen. Wer uns kennt, der weiss, dass wir sehr gut mit unperfekten Zuständen leben können. Wir müssen nicht alles neu und renoviert haben. Wir haben keinen 10-Jahresplan. Und wir waren in der Schweiz und in Deutschland einfach immer dankbar, in so reichen und gut funktionierenden Systemen zu leben, dass uns manchmal die Motivation fehlte, uns zu beschweren.


Und doch - wie das auf Reisen so ist - haben wir uns neu kennengelernt. Und festgestellt: Im Gegensatz zu den Menschen hier sind wir noch Anfänger im Gechillt-Sein. Denn sie haben den orientalischen Fatalismus, das Ich-kann-sowieso-nichts-ändern, und damit auch Ich-bin-zufrieden-mit-dem-wie-es-ist, quasi perfektioniert.


Das fällt besonders auf, wenn man Menschen in ihren Häusern besucht. Da wir eigentlich nur bei Einheimischen unterkommen, machen wir das ja jeden Tag. Keines der Häuser, die wir bis jetzt von innen gesehen haben, entspricht europäischem Standard. Man kann das Trinkwasser nicht trinken. Man wirft kein Toilettenpapier in das WC, weil es sonst verstopfen würde. Es gibt viele Strukturen, von denen die Menschen abhängig sind - Kanalisation, Stromversorgung, Gasleitung - und die fehlerhaft sind. Nur leider können sie diese nicht beeinflussen. Was hilft es also, über Alternativen nachzudenken? Es lässt sich damit leben. In einigen Städten stapeln sich mit Wasser gefüllte Behälter in den Badezimmern der Einwohner für den Fall der Fälle, dass mal kein Wasser mehr aus dem Hahn kommt.


Dazu kommt die Armut. Renovieren kostet Geld. Und Baumaterial auch. Wenn wir jetzt überlegen, wie hochwertig die Baumaterialien sind, die unsere Schweizer Freunde in ihren Wohnungen haben! Makellosigkeit ist ein Zeichen von Wohlstand. Davon können die Menschen hier in Armenien nur träumen. Viele Dinge gehen hier einfach schneller kaputt - Kloschüsseln, Gardinenstangen, Matratzen, Küchenzeilen, Sofas. Sie sind entweder billig produziert, oder einfach schon super alt. Und das Geld fehlt, sie wegen der kleinsten Macke zu ersetzen. Manchmal zahlt es sich sogar aus, mit alten Gegenständen auszukommen. In ländlichen Regionen fahren sehr viele Menschen noch russische Ladas - das ist wahrscheinlich DAS Auto der Sowjetunion. Und die Sowjetunion gibt es schon nicht mehr, seit wir Grüns auf der Welt sind. Da könnt ihr mal ausrechnen, wie lange diese Karren schon herumfahren. Anscheinend kommen sie aber immer noch besser mit schlechten Strassen, tiefen Pfützen und steilen Anstiegen aus als jeder moderne Toyota - und sind dazu noch billiger und können selbst repariert werden.


Was aber in jedem Haushalt auffällt, sind Dinge, die man mal eben schnell flicken könnte. Der Wasserhahn tropft. In den Vorhängen sind Löcher. Wenn man die Dusche anschmeisst, pfeift es im Nachbarzimmer. Lauter solche Dinge, die ein ordentlicher Heimwerker im Nu wahrscheinlich im Griff hätte (nicht, dass wir solche Heimwerker wären...). Und da kommt unser Deutsch-Sein zum Vorschein:

Es fällt uns auf. Wir machen innerlich Listen von undichten Rohren und wackeligen Möbeln. Wir überlegen uns vielleicht sogar Lösungen und machen dann Witze darüber, dass wir uns damit beschäftigen. Aber wir tun es trotzdem.

Challenge - bastel dir eine Bank!

Im Gegensatz dazu strahlen unsere Gastgeber und Mitmenschen eine Seelenruhe aus. Sie haben sich mit den Umständen arrangiert. Das soll nicht heissen, dass es hier keine reinlichen Hausfrauen oder hart arbeitenden Handwerker gibt. Manchmal bekommen wir auch mit, dass die Leute sich vor uns schämen, wenn etwas kaputt ist. Aber irgendwie ist die allgemeine Grenze von dem, was optimierbar ist, und dem, was als akzeptabel durchgeht, einfach eine andere.

Wenn man keine Heizung hat, kann man ja einfach das Gas aufdrehen...

Noch krasser wird der Gegensatz zwischen uns und ihnen, wenn man das Haus verlässt. In Georgien hatten wir das Gefühl, dass die Infrastruktur roh und wild war. Lebendig wuselnde Kreuzungen, undurchsichtige Regeln, Stromkabel kreuz und quer. In der Hauptstadt Aserbaidschans hatten wir im Zentrum das Gefühl, dass man versucht hat, Systeme einzuführen - aber vorher nicht nachgedacht hat. Die Folge: Neue Strassen, die beim kleinsten Regen überflutet werden, Ampelsysteme, die den deutschen Fussgänger zu Sprinten veranlasst. 

Erst hier in Armenien sind wir erstaunt, wie durchdacht und wohlüberlegt so manche Kreuzung daherkommt. Hier gibt es auch Supermarktketten und Ketten-Restaurants, die gut besucht sind und ordentlich aussehen - für uns ein Zeichen von Organisationstalent. Und trotzdem nagt es an uns. Manchmal spielen wir Spiele wie "Finde den Fehler" oder "Finde eine Lösung". Und da unterscheiden wir uns wahrscheinlich von den vielen Einheimischen, die über holprige Strassen spazieren und manchmal mit Bürokratie zu tun haben, die nervt. Denn auf Dauer ist die Einstellung des Ich-weiss-es-besser einfach zu anstrengend.


Und so sind wir an einem Punkt, an dem wir von ihnen lernen können. Natürlich ist es schön, wenn Dinge funktionieren. Wenn man immer auf Abruf heisses Wasser hat und sich auf Gesetze und Regeln verlassen kann. Und es nicht überall Bauruinen gibt.

Aber das Leben im Kaukasus ist kein Ponyhof.

Und damit findet man sich besser ab. Sonst wird man verbittert.

Hier in Armenien haben sich die Menschen aber mit einer bestimmten Sache nicht mehr abgefunden - mit ihren korrupten Politikern. Letztes Jahr hat es ihnen  gereicht, und nach friedlichen Protesten mussten die Machthaber, die 20 Jahre lang das Land ausgenommen haben, ihren Posten räumen. Wir reden mit Menschen, die ganz begeistert von der Euphorie und dem Zusammenhalt der ersten Tage als neue Nation schwärmen. Ihre Augen leuchten, wenn sie von ihrem frisch und demokratisch gewählten Premierminister erzählen. Er hat viel Gutes getan, Geld in Infrastruktur und Bildung investiert, und ist per Facebook Lifechannel anscheinend für die Fragen und Nöte der Bürger persönlich ansprechbar. Was für ein Held! Sie erzählen uns, dass sie sich zum ersten Mal trauen, frei ihre Meinung zu sagen. Es ist schön, diese Aufbruchsstimmung mitzuerleben. Und es zeigt, dass es sich lohnen kann, das Bestehende ändern zu wollen. 

Und vielleicht ist es eben die Kunst, auf den richtigen Moment zu warten.


Der Wanderweg ist ein See? Kein Problem für uns!


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