Mit Geschichte(n) um die Welt
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Wieder am/im Zug! Ein Weg nach Edmonton durch die Prärien

Veröffentlicht: 29.08.2023


Es ist die Weite, die mich fasziniert. Das volle Nichts bis an den Horizont.

Es ist wie Meer ohne Wasser; eine Fläche, scheinbar ohne Ende, soweit das Auge reicht.

Irgendwo in den Provinzen Manitoba oder Saskatchewan.

Wieder kein Handyempfang, kein Internet, dafür ein Platz im Skyliner, im voll verglasten zweiten Stock des Bordbistros. Diesmal ist die Landschaft vor dem Fenster aber anders.

Ein Platz im Skyliner ist einfach super!

Die Strecke Winnipeg-Edmonton beträgt mehr als 1.300 Kilometer und führt vorbei an Feldern, Wiesen und Brachflächen;

ein paar Büsche,

ein paar kleinere Seen, Flüsse;

wieder Felder,

Ansammlungen von Bäumen, oft Birken. 

Vor allem Schotterstraßen.

Es gibt ein paar Hügel, das war’s.

Irgendwie erinnert mich die Landschaft an Schlesien/Sląsk oder noch mehr an die Ukraine und Belarus. Ich wollte auch erst Uckermark schreiben, aber dort sind die Felder zu gleichförmig und zu viel bewirtschaftet. Monokultur und riesige Kornfelder ohne jegliche Anzeichen von Unkraut und Wildwuchs gibt es auch hier, dazwischen kommen aber auch immer wieder und ebenso riesige, eher unbewirtschaftete Flächen. Letzteres sieht man in Deutschland selten, in Polen etwas mehr und noch mal häufiger weiter gen europäischen Osten. Ich habe (und hatte) dort oft das Gefühl, dass es wesentlich mehr Leben, Natur, Vielfalt gibt; nicht alles so festgelegt und vorgefertigt und irgendwie eingehegt erscheint (ist?) wie auf deutschen Feldern. Irgendwie empfand ich die eher unberührte Natur und somit Wildwuchs und Brachflächen als Freiheit.

Hier mit Blick auf die Weite und vor allem am frühen Morgen zwischen den kanadischen Provinzen Manitoba und Saskatchewan habe ich dieses Gefühl ebenfalls.

Doch im Laufe des Tages merke ich, dass diese scheinbar etwas stärkere Unberührtheit eher ein Trugschluss zu sein scheint: Die Flächen hier zu bewirtschaften ist enorme Arbeit, massive Maschinen kommen zum Einsatz um die Felder zu beackern; Agrarflugzeuge 'erkunden' die Ernte und/oder Düngen. Nur Ortschaften sieht man selten. Ab Alberta, der nächsten Provinz und nochmal weiter nach Westen, verändert sich die Landschaft etwas. Es wird hügeliger, es gibt wieder mehr Zivilisation, Ortschaften liegen wieder näher aneinander.

Für den Weg in die zweitnächstgelegene Stadt von Winnipeg entfernt, nach Edmonton, nehme ich natürlich wieder den Zug. Das dauert. Etwa 24 Stunden.

Diese Distanzen! Ich bin und war stets von Landkarten und Globen fasziniert. Ich weiß somit, dass Kanada sehr groß ist. Die Er-Fahrung ist jedoch etwas Anderes. Mittlerweile glaube ich es auch ganz wirklich. Das ist eine riesige Fläche, dieses Kanada. Die Landkarten scheinen zu stimmen.

Die Landschaft hat sich hier, wurde hier, seit der Kolonisierung enorm verändert und nicht selten kommt mir die Frage, wie es wohl vor 200, 300 Jahren ausgesehen haben mag; ich habe die Nachbildungen aus dem Manitoba Museum in Winnipeg zu Prärien im Kopf. Kein übermäßig hoher Bewuchs, dafür Pflanzen mit enormer Wurzelgröße im Boden. Bisonherden, Vögel, Insekten ohne Ende, auch riesige bunte Schmetterlinge.

Schon für mich sind die Strecken heute weit und kaum ein/e Kanadier/in würde für diesen Weg ernsthaft auf die Idee kommen, den Zug zu nehmen.

Wie sich das so bei google maps darstellt! :D

Gerade die landwirtschaftlich genutzten Gebiete von Manitoba und Saskatchewan waren Regionen, in denen sich Menschen aus dem östlichen Europa ansiedelten, ansiedeln ließen, die die Gebiete mitkolonisierten. Menschen aller Religionen aus Polen, der Ukraine, der Sowjetunion. Sie kamen vor allem ab dem Ende des 19. Jahrhunderts wie auch nach dem Zweiten Weltkrieg in dieses Land.

Die Reise in diese Gebiete muss überwältigend gewesen sein. Was für ein langer Weg!

"In einer neuen Etappe" - die Textüberschrift passt!

Ein Großteil der als Displaced Persons eingewanderten Menschen kam vor allem ab 1948, viele auch erst später. Nach Jahren in DP-Camps in den westlichen Besatzungszonen im deutschsprachigen Raum ging es zumeist einige Wochen nach Bremerhaven. Dies war wohl der wichtigste Hafen für diejenigen, die nach Nordamerika wollten.

Eine schwierige Hürde hatten sie bereits genommen: sie hatten ein Visum.

Die USA war für viele der Traum, Kanada war zwar zunächst eher weniger bekannt, doch war es (im Vergleich zu anderen Ländern!) schneller bereit, die Türen für bestimmte Einwanderungsgruppen zu öffnen.

Karikatur aus der ukrainischen DP-Zeitung Ukraïns'ka trybuna, 4.9.47 aus München: "Wohin werden wir fahren?" Das fragt sich in Europa ein DP und der amerikanische Kongress ebenfalls - nur Letzterer, wohin in den Urlaub.

Für die ukrainischen DPs setzte sich vor allem die "alte" ukrainische Diaspora in Kanada ein. Etwa 30.000 bis 40.000 Ukrainer:innen wanderten ab Ende der 1940er Jahre als "Neuankömmlinge" in Kanada ein.

Auf britischer und US-amerikanischer Seite hatten während des Zweiten Weltkrieges weit über hunderttausende polnische Staatsbürger:innen gekämpft. Auch viele dieser ehemaligen Soldaten verblieben zunächst in Europa. Auch bei ihnen stellte sich die Frage, wohin sie sollten, denn für viele war die Rückkehr in ein kommunistisches Polen oder die Sowjetunion gänzlich ausgeschlossen. Viele dieser ehemaligen polnischen Soldaten auf westalliierter Seite emigrierte später nach Kanada. (Kanada ist Teil des britischen Commonwealth.)

Die Überfahrt in ein neues Emigrationsland, egal wohin, übernahm die IRO, die International Refugee Organisation, eine international getragene Organisation zur Unterstützung von Flüchtlingen und Heimatlosgewordenen. Die IRO organisierte v.a. deren Auswanderung aus Europa . Ein enormes Unterfangen: Mehr als einer Million Menschen, ehemaligen DPs, half die IRO zwischen 1947 und 1951 bei der Emigration.

Wer genau ins jeweilige Emigrationsland kommen durfte, entschieden die Aufnahmeländer selbst. Besonders beliebt waren junge, gesunde Menschen, Paare mit wenig Kindern, christliche Europäer:innen und diejenigen, die Berufe hatten, die in den jeweiligen Ländern gebraucht wurden.

"Die Zukunft in Übersee" Neue Tätigkeiten für Professoren, in der ukrainischen DP-Zeitung Ukraïns'ka trybuna, 4.9.47

Einige waren klug genug, diese Berufe einfach anzugeben. In vielen Fällen halfen auch Religionsgemeinschaften beim Erlangen von Visa. Nicht wenige erkannten, dass die Angabe einer (anderen) Glaubensgemeinschaft, z.B. orthodox statt katholisch oder vice versa, der Weg sein konnte, um schneller zu emigrieren, da es so zu einem bestimmten Zeitpunkt Untersützung gab. Gleiches lässt sich bei ethnischen Angaben erkennen, auch diese Gruppen unterstützen ihre jeweiligen Landsleute beim An- und Weiterkommen. Ohnehin kamen die Menschen aus ethnisch und religiös sehr gemischten Herkunftsregionen im östlichen Europa. Für viele war eine oft - vor allem aus Verwaltungssicht - gewünschte eindeutige Festlegung auf eine Gruppenzugehörigkeit ohnehin nur schwer möglich. (Vgl. dazu meinen Blogbeitrag zum belarusischen London)

Kanada als ein Land mit viel Fläche, weit entfernt vom zerstörten Europa und v.a. auch mit Arbeitskräftebedarf in der Landwirtschaft galt da als attraktiv. Es wurde immer mehr zum Wunschland vieler europäischer Auswanderungswilliger.

Displaced Persons, die alle Dokumente, Gesundheitschecks, Impfungen etc. hinter sich hatten, kamen zumeist mit dem Zug nach Bremen-Grohn (einem Stadteil Bremens im Norden), wo es einen erneuten Gesundheitscheck gab. Wer als gesund galt, durfte etwa zwei Wochen später auf ein Schiff nach Nordamerika.

Bis zum Abriss vor einiger Zeit war dies der Ort in Bremerhaven von dem aus viele DPs nach Nordamerika auf die Schiffe stiegen. (Foto von 2020 oder 2021.)

Den Hafen zum Anlanden im kanadischen Halifax erreichte das Schiff nach etwa 12 bis 14 Tagen. Nach weiteren Checks der Dokumente und Gesundheit fuhren die nun frisch Eingewanderten an ihre jeweiligen Bestimmungsorte vor allem mit dem Zug. Eine Reise damals nach Manitoba oder Saskatchewan dürfte vermutlich wieder etwa eine Woche gedauert haben. Sie nahmen dabei nach Westen die wohl gleiche Strecke wie heute der Zug Nr. 1, eben den, den auch ich nehme.

Was ging diesen nun 'New Immigrants', neuen Immigranten, wohl damals auf dem Weg durch den Kopf?

War es eher Neugierde und Erleichterung oder doch Melancholie und Sehnsucht nach Zuhause, wenn es auch seit Jahren schon kein Zuhause mehr gab?

Gerade für die ukrainische Diaspora in Kanada ist bekannt, dass es schon nach kurzer Zeit enorme Spannungen zwischen den alten und neuen Immigrant:innen gab. Ganze Bücher wurden dazu geschrieben. Auch zur polnischen Einwanderung gibt es viel. Häufig bleiben diese Untersuchungen auf die jeweiligen Gruppen beschränkt. Oft sind und waren die Autoren und Autorinnen dieser Untersuchungen selbst Teil der jeweiligen Community. Begegnungen untereinander mit anderen ethnischen oder religiösen Gruppen oder auch Indigenen werden darin eher wenig bis gar nicht beleuchtet, jedenfalls soweit ich das sehe. Fehlt es an Quellen dazu? Oder an der Perspektive? Oder beides?

In Winnipeg habe ich versucht dem nachzugehen. Zwei umtriebige Personen, die ich in meiner Arbeit genauer anschaue, der eine verstand sich als Pole, der andere als Ukrainer, sind fast zeitgleich hierher ausgewandert. Beide überlebten verschiedene deutsche Konzentrationslager. Beide sind sich in Bayern vermutlich nicht nur einmal über den Weg gelaufen. Beide lebten und arbeiteten in den 1970er/80er Jahren - wenn die Adressen, die ich habe, stimmen - 1,9 Kilometer voneinander entfernt. Zu Fuß dauert der Weg keine 20, mit dem Fahrrad gerade einmal sechs Minuten. Deren Kirchen - der eine ging in die römisch-katholische, der andere in die ukrainisch-katholische - liegen keine 1,4 Kilometer auseinander.

Zufall?

Läuft man sich nicht auch mal einfach über den Weg? Beim Spazieren, beim Einkaufen, bei was auch immer? Ich halte es nicht für unwahrscheinlich, dass sich auch beide später einmal wieder trafen. In den vielen Archivboxen und bei meiner ersten Durchsicht der Materialien konnte ich dazu nichts finden. Vielleicht wäre etwas in den vielen(!) anderen Kartons, die weder nummeriert, indexiert noch bisher jemals von jemanden ausgewertet wurden? Und manche sozialen Kontakte lassen sich auch nur schwer durch schriftliche Quellen nachweisen. Anfang der 2000er hätte man zumindest den einen noch fragen können. Heute, über 20 Jahre später, lässt sich die Frage kaum beantworten.

Interessant fand ich, dass meine Fragen dahingehend heute bei der einen wie bei der anderen Community zwar auf Interesse stieß, doch ich eher hörte, dass die Verbindungen der jeweiligen Gruppen nicht so stark ausgeprägt seien. Selbst führende Mitarbeitende der einen Kultureinrichtung waren noch nicht im Museum der anderen. Beide Institutionen befinden sich nur etwa drei Kilometer voneinander entfernt, sie sind in der gleichen Straße.

Ich hatte den Eindruck, man kennt sich, einige persönliche Kontakte gibt es, doch ansonsten bleibt man eher für sich. Die ethnisch wie religiösen Grenzen sind eher hart als weich gezogen. Ein wirklich größeres Interesse für institutionelle Zusammenarbeit, so erschien es mir, gibt es scheinbar (noch) nicht, gab es noch nie oder ist irgendwann einmal verloren gegangen.

Nachtrag:

Sollte jemand eine Idee haben, wie ich zu meiner obigen Fragestellung zum Nachvollziehen von möglichen Kontakten auch nach der Emigration und über ethnische Grenzen hinweg weiterkommen könnte, freue ich mich über jegliche Gedanken!

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