Veröffentlicht: 11.11.2023
Samstag, 15 Uhr, die Bar im Opernhaus, Sydney: Treffpunkt mit Agnieszka*.
"Du bist neu in der Stadt und von dort hat man einen der besten Blicke auf die Hafenbrücke", schrieb sie mir bei WhatsApp. Das Opernhaus ist nicht nur der zentrale Ort in Sydney, nahe Circular Quay, dem großen Fähranleger, sondern auch ziemlich genau in der Mitte zwischen meiner und Agnieszkas Wohnung.
Aufgewachsen in Canberra, der australischen Hauptstadt, lebt die heute etwa Anfang 40-Jährige in Sydney. Die Sonne strahlt, es ist leicht windig, 25 Grad; die Bar ist voll. Ich erkenne sie gleich an ihren langen blonden Haaren, ihr Gesicht ähnelt dem ihres Vaters. Den kenne ich zumindest von Fotos, von ziemlich vielen sogar. Agnieszka und ich sind uns noch vor dem Bestellen einig: Sydney ist wohl eine der schönsten Städte der Welt. Wir unterhalten uns übers Reisen, über Australien, über ihre Familiengeschichte. Noch vor dem ersten Getränk sind wir tief im Thema: ihr Vater Bolek, dessen erste Frau Stanisława und ihr Sohn Marek*, deren Zeit in Deutschland und Österreich. Über Agnieszkas Mutter und wie sie Bolek kennengelernt hat, nach dem Tod Stanisławas. Wir springen dabei von einem Gesprächsstoff in den nächsten, vor und zurück: wie sie anfing zu recherchieren, was sie weiß und vor allem, was sie alles nicht weiß und gern wissen würde, über ihre Arbeit in Canberra. Den Pendelweg zum Büro mit etwa drei Stunden Fahrt pro Strecke nimmt sie gern in Kauf. Sydney sei die Reise einfach immer wieder wert. Im australischen Verständnis sind drei Stunden Fahrt nichts. Das ist halt nebenan. Sie kann zudem oft von zuhause aus arbeiten, da beschränkt sich das Pendeln auf ein paar wenige Tage im Monat. Agnieszka stammt aus einem polnischsprachigen Haushalt. Sie versteht die Sprache, antwortet ihrer Mutter aber viel lieber auf Englisch. „Warum hast du eigentlich Polnisch gelernt?”
Vor nicht ganz zehn Jahren bat Agnieszka die KZ-Gedenkstätte Mauthausen um Auskunft zum Schicksal ihres Vaters. Bolek starb als sie sieben Jahre alt war. Irgendwas mit Konzentrationslager hatte sie auch mal nach seinem Tod gehört, aber das war alles. Irgendwann sprach sie einmal mit ihrem damaligen Partner darüber; der fragte erstaunt, ob sie dann jüdisch sei. KZ, Jude, die Verknüpfung haben viele. „Ähm, nein, also, Pole, also… Ich weiß nicht"', habe sie geantwortet.
Und angefangen zu recherchieren.
Ihr Vater Bolek war bei Agnieszkas Geburt schon weit über 50, ihre Mutter 17 Jahre jünger. Sie war Boleks zweite Frau. Kennengelernt haben sich beide über eine Zeitungsanzeige. Agnieszka sitzt mir in einem langen, hellen Kleid gegenüber und lacht. „Das war bestimmt das damalige Tinder.“ Wir lachen beide. Ja, das stimmt!
Boleks Name, den seiner ersten Ehefrau Stanisława und ihres Sohnes Marek habe ich auf Listen aus dem DP-Camp Flossenbürg gefunden. Ich fand heraus, dass er in Auschwitz und Mauthausen gefangen war; nach der Befreiung, in einem DP-Camp in Österreich lernte er Stanisława und deren etwa fünfjährigen Sohn kennen. Sie heirateten, er adoptierte Marek. Vor allem die Adoption war für die kleine Familie wichtig, denn sie wollten nach Übersee. Eigentlich wollten sie in die USA, doch das Visum für Australien kam schneller. Gut, dann eben dahin. Australien war aber nicht nur weit weg, sondern hatte einen weiteren Nachteil: hier mussten sich die Neuankömmlinge für einen zweijährigen Arbeitseinsatz verpflichten. Oft waren es Tätigkeiten, schwere Arbeit, die ansonsten niemand machen wollte: auf Zuckerrohrplantagen in tropischen Gebieten, Staudämme bauen oder irgendwelche Arbeiten im Outback. Oft wurden die Familien dafür voneinander getrennt und oft bedeutete dies alles wieder ein Leben in Sammelunterkünften.
Das junge Ehepaar wollte auf die besser erscheinende, dafür aber ungewisse Visaentscheidung der USA nicht warten. Bolek, Stanisława und Marek kamen so 1950 nach Italien und bestiegen von dort ein Schiff nach Melbourne.
Jahrzehnte später wollte Agnieszka mehr verstehen von der Geschichte ihres Vaters. Ende 2020 fragte ich zu Bolek im Mauthausen Archiv in Wien an. Peter, der Archivar, fand nicht nur ein paar Infos zu ihm, sondern auch den damaligen Mailverkehr nach Australien, zu Agnieszka. Er schrieb mir, dass er versuchen könnte, ob die Mailadresse noch funktioniert. „Soll ich es versuchen?“
„Unbedingt!“
Wenige Tage später in einem der Lockdowns 2020 hatte ich also Kontakt nach Sydney. Agnieszka wusste bereits einiges über ihren Vater und dessen erste Familie, hatte bereits länger recherchiert, war sogar 2014 für eine Reise in Europa, in Polen und Österreich auf den Spuren ihres Vaters. Von Auschwitz habe sie gar keine Rückmeldung erhalten, erinnerte sie sich, dafür hatte sie aber eine sehr gute und herzliche Rundgangsleiterin in Mauthausen. Sie fuhr auch an den Geburtsort ihres Vaters, nach Krakau, recherchierte in Zeitungen in Australien und war in Canberra im Nationalarchiv. Sie schrieb mir was sie wusste;
von Flossenbürg hatte sie noch nie gehört. So richtig hatte sie sich über die Zeit nach der Befreiung und den Jahren vor der Ankunft in Australien auch noch keine Gedanken gemacht. Wo sollte man da auch anfragen?
Wir schrieben uns damals viel. Schnell erhielt ich auf meine Fragen Emails zurück. Agnieszka erinnerte sich auch an Freunde ihres Vaters, die in Sydney lebten. Wenn sie sich richtig erinnere, meinte sie damals, dann kannten sie sich aus Europa. Wachacz* sei ihr Name. Es gäbe auch noch eine Tochter und sie schickte mir einen Kontakt bei LinkedIn, eine Art professionelles Facebook.
Ich suchte auch Wachacz in meiner DP-Datenbank.
Zwei Treffer.
Auch dieses Ehepaar war in Flossenbürg, alle fünf, also das Ehepaar Wachacz sowie Bolek, Stanisława und Marek kannten sich auch schon aus der Zeit vor Flossenbürg. Sie blieben zusammen und erhielten zwar zu unterschiedlichen Zeitpunkten Visa für Australien, blieben aber in Kontakt - und bis an ihr Lebensende befreundet. „Im Anhang auch ein Foto“, schrieb mir Agnieszka 2021. Sie selbst hat zwar keinen Kontakt zu Marek, Boleks Adoptivsohn, doch sie hat seine Adresse. Sie bittet mich, sie bei der Anfrage dorthin nicht zu erwähnen. Eine schwierige und auch tragische Geschichte. Sie könnte aber meinen Brief ausdrucken und in die australische Post geben, das wäre vielleicht schneller und günstiger. Einige Zeit später telefonierte ich auch mit Marek bzw. viel mehr mit seiner Frau. Marek war damals bereits schwer krank. Er wiederholte vor allem einige Male, dass alles verbrannt sei, was er gehabt habe. „Nothing left! - Nichts mehr da!“ Ich sprach ein wenig mit seiner Frau, bei ihnen 12 Uhr mittags, bei mir in Hamburg mitten in der Nacht. Wir einigten uns darauf, dass sie sich meldet, sollte sie was finden. Ob Marek heute noch lebt, weiß ich nicht. Vielleicht melde ich mich demnächst noch einmal bei der Familie. Sie leben „nur“ vier Stunden mit dem Auto von Sydney entfernt.
Ganz klar ist es nicht, was da Ende der 1950er Jahre passiert ist, erzählt mir Agnieszka erneut, doch sehr wahrscheinlich beging Stanisława, Boleks erste Frau, Selbstmord. Zu diesem Zeitpunkt waren sie etwa acht Jahre in Australien. Das Verhältnis zwischen Marek und Bolek sei nicht besonders gut gewesen. Als Stanisława nicht mehr da war, brach deren Kontakt ab. Warum Stanisława vermutlich entschied, nicht mehr leben zu wollen, lässt sich heute kaum noch sagen. Vielleicht war ein Gerichtsverfahren zu dieser Zeit und der Stress darum ein Auslöser, könnte sich Agnieszka vorstellen. So richtig viel, weiß sie dazu jedoch auch nicht. Es gab keinen offenen Umgang damit in ihrer Familie. Er herrschte eher Schweigen.
Aus Recherchen zu Displaced Persons (DPs) weiß ich, dass Suizide bei (ehemaligen) DPs überproportional häufig auftraten. Die vielen Jahre des weiteren Lagerlebens nach dem Überleben als Kriegsgefangene, KZ-Häftlinge oder zivile Zwangsarbeitende, die große Unwissenheit, was aus einem wird, werden soll und wie es der Familie geht, war für viele Menschen zusätzlich traumatisch. Das jahrelange Warten, Hoffnungslosigkeit, Zukunftspläne und die Enttäuschung darüber stürzten viele in tiefe Depressionen - auch wenn dies zum damaligen Zeitpunkt noch nicht so genannt - oder gar gekannt wurde. In den Sammelunterkünften der DP-Camps im Übergangszustand konnte zudem nur schwer ein neues oder sogar erstmaliges wirklich ziviles Leben aufgebaut werden. Bolek und Stanisława waren in ihrer Zeit in Flossenbürg 1946 noch eher jung: sie mit um die 30 Jahre war dabei etwas älter als er. Stanisławas Schicksal während des Zweiten Weltkrieges ist nicht klar. Ich weiß nur, dass Warschau als ihr letzter Wohnort in Polen galt. Den Namen der kleinen Ortschaft, in der sie geboren wurde, gibt es mehrere Male. Ich vermute, ihr Geburtsort ist der zwischen Olsztyn und Białystok, etwa 200 Kilometer nordöstlich von Warschau. Auf den Emigrationsunterlagen ist vermerkt, dass sie eine eher kleine Frau war: 153cm; dazu: schwarze Haare, grüne Augen. Auf dem Foto daneben: leicht wellige, schulterlange Haare. Als Beruf gab sie Bäuerin an. Bei der Beantragung des Visums nach Australien legte sie auch ein Zertifikat bei: sie hatte als Displaced Person einen Kurs als Landarbeiterin belegt; Bolek einen als Automechaniker.
Wo das Paar und ihr Sohn Marek nach der Ankunft in Australien arbeiteten, weiß Agnieszka nicht, ich habe dazu auch (noch) nichts gefunden.
Bolek war nach der Befreiung Mitte 20, zwei Jahre davon in KZ-Haft. Die Nationalsozialisten hatten ihm Sabotage vorgeworfen.
In einer seiner Entschädigungsakten, schrieb er selbst: „Ich wurde aus dem Hause verhaftet durch die GESTAPO (...) wegen Zugehörigkeit zur Untergrundbewegung“. Als Nachweis legte er mehre Briefe aus dem KZ bei, darunter einen einer Freundin Zofia aus Krakau, vielleicht seiner ersten Freundin. Die SS gab vor, dass jeglicher KZ-Postverkehr in deutscher Sprache sein musste. Alles andere wurde nicht zugestellt. Ob Zofia etwas Deutsch konnte und somit selbst an Bolek schrieb oder jemanden zum Übersetzen brauchte, ist unklar. Auf einer der Karten heißt es liebevoll: „Lieber Bolku!
(…) ich denke doch so viel zu Dich, heute ich habe so schön von Dir geträumt. Das du zu mir gekommen bist und (…?) gefragt, ob ich Dich immer so gern habe wie in der Schule? Träumst du auch von mir, weil es hat mir sich schon oft von Dir geträumt und denke viel an dich. Bitte schreib mir ob Dich (?) schicken kann Zigaretten oder (?) zu essen. Dass für mich wird eine große Freude. Ich kann alles machen. Ich bin gesund und geht mir sonst gut. (…) Ich möchte Dir (?) mir ein Bild schicken aber ich weiß nicht ob ich kann? (…) Wenn nächste Brief schreibst, dann aber fiel mehr von mir ob hastu mir noch immer so lieb wie ich Dich? Ich wünsche Dich alles gutes in diesem Jahr hoffentlich wird beser für uns. Vielams Grüß Dich Zocha“.
Daneben ein Brief seiner Eltern vom 26. Dezember 1944:
„Lieber Sohn! (..) Weihnachtsfest war sehr traurig. Du fählst uns immer. (…)”.
Nach den Unterlagen, die ich zu Bolek kenne, kehrte er nach der Befreiung nicht nach Polen zurück. Erst in den 1960er Jahren, nachdem er die australische Staatsbürgerschaft angenommen hatte, war er für eine längere Reise wieder in Europa und in Polen.
Ich habe Agnieszka die Akte übersetzt und geschickt, schon bei unserem ersten Email-Kontakt. Anschauen möchte sie dies aber noch nicht. „Das wäre irgendwie ein Abschluss, vielleicht sogar der Abschluss meiner Suche. Das ist irgendwie sehr persönlich und es ist mein Vater.“ Die Entschädigungsakte bleibt also vorerst von ihr unangeschaut.
Kurz bevor wir unsere Margaritas ausgetrunken haben und es selbst im Schatten heiß wird, erzählt Agnieszka, dass sie auch irgendwo noch weitere Fotos hat, von Bolek und Marek bei einer Art Kranzniederlegung und von der Zeit bevor sie das Schiff nach Australien bestiegen.
Am frühen Abend eine WhatsApp, ich laufe gerade nach Hause, den Hafen im Blick, das Opernhaus hinter mir. Agnieszka: „Danke, dass du in die Stadt gekommen bist! Ich werde nach den Fotos suchen und Bescheid geben, wenn ich sie gefunden habe.“
* Name geändert.