Veröffentlicht: 01.07.2023
Das Sikorski Institute in London ist eines der großen polnischen Exilarchive und zugleich ein Museum.
Sikorski – man spricht das anfängliche „S“ eher als eine sanfte Variante von „Sch“ aus – war zwischen 1939 und 1943 Ministerpräsident der polnischen Exilregierung. Er kam bei einem Flugzeugabsturz auf dem Rückweg von einer Reise zu polnischen Soldaten im Nahen Osten ums Leben. Sein Tod und darüber, ob es nun ein Unfall gewesen sei oder von den Sowjets initiiert, bleibt bis heute in der polnischen Gesellschaft umstritten. Sikorski ist zu einer Symbolfigur geworden, einem Mythos des polnischen Leidens, aber auch des Heldentums. Viele DP Camps – auch das in Flossenbürg 1946/47, zu dem ich arbeite – benannten sich sehr bewusst nach General Władysław Sikorski – das kurz zum Namensgeber des Instituts.
An meinem zweiten Tag im Sikorski Institut habe ich den privaten Nachlass einer der zentralen DPs gefunden, zu denen ich arbeite. Ich traute meinen Augen erst nicht, nachdem ich über Stunden die Findbücher durchwühlt hatte. Blättern, lesen, lesen, lesen, blättern, blättern, überfliegen, lesen, überfliegen.
Digitalisiert ist hier (noch?) nicht so viel, auch hier ist viel 'Handarbeit' von Nöten. Im wahrsten Sinne des Wortes: lesen, lesen, blättern, überfliegen, lesen, blättern und nochmal zurück: war das nicht ein Name, der mir bekannt vorkommt?
Also überprüfen in meiner Forschungsdatenbank ---- dauert etwas, eingeben, suchen, nachschauen; Fehlanzeige, war doch nur ein ähnlicher Name.
Wieder im Findbuch, wieder blättern, lesen, lesen, blättern, überfliegen, nochmal lesen.
Und dann: Doch, es stimmt S. P., nennen wir ihn: Stanisław, der zeitweilige DP-Kommandant von Flossenbürg, also der Chef der polnischen DP-Selbstverwaltung. Die DP Camps - camp englisch für Lager - standen unter der Aufsicht der jeweiligen Militärverwaltung. Flossenbürg ist in Bayern, dort war es die US-amerikanische Militärregierung. Für alle DP Camps war die internationale Hilfsorganisation UNRRA zuständig: UNRRA – englisch für „United Nations Relief and Rehabilitation Administration“, auf Deutsch in etwa “Nothilfe- und Wiederaufbauverwaltung der Vereinten Nationen”. Diese bestimmten, dass die innere Verwaltung der DP Camps von “eigenen Leuten”, also den DPs selbst ausgehen sollte. So sollte eine reibungslose(re) Zusammenarbeit zwischen den UNRRA-Mitarbeitenden wie der Militärregierung und den jeweiligen DPs gewährleistet werden, sprachlich wie auch kulturell. Zu Missverständnissen, Streitigkeiten und Auseinandersetzungen kam es aber trotzdem oft.
Also: Der Nachlass von Stanisław - mega!
Bestellen.
Und unbedingt die Archivarin Paulina bitten, dies doch bitte noch heute mir vorzulegen und nicht erst bei meinem nächsten Besuch, denn das Wochenende kommt.
Auf die Akten warten.
Dauert.
Was da wohl drin ist? Und wie groß wird der Nachlass sein? Aus dem Findbuch nicht ersichtlich. Abwarten also.
Für die Wartezeit habe ich mir noch einfach aus Interesse ein paar andere Akten beiseitegelegt, darunter über polnische Kinder, die 1944 über die Sowjetunion und Persien nach Neuseeland kamen. Nein, mit meiner Diss hat das nur äußerst wenig, um ehrlich zu sein, gar nichts zu tun. Irgendwie schloss sich für mich aber ein Kreis:
Beim Work&Travel 2008 in Neuseeland fiel mir in einem Hostel im Tauschregal ein englischsprachiges Buch über die “Polish children of Pahīatua”, wie die polnischen Kinder in Neuseeland genannt werden, in die Hände. Im Hafen von Wellington gibt es sogar ein Denkmal und ein kleines Museum.
Leider weiß ich nicht mehr, wie das Buch, das mich so beeindruckt hatte, hieß. Ich war damals so begeistert davon, dass ich es einer Mitreisenden, ich glaube, einer angehenden Lehrerin aus Regensburg geschenkt habe und den Gedanken noch hatte: „Diesen Buchtitel vergesse ich sicher nicht!“
Nun, ich habe ihn vergessen.
Auch den Namen, der damals kurzzeitig mit mir Reisenden aus Regensburg und in Kontakt sind wir auch nicht mehr. Mit dem Ende von StudiVZ – hieß es so? – endete auch die lose Verbindung zu ihr. Sehr gern hätte ich ihr jetzt geschrieben. Was sie wohl derzeit macht? Und hatte sie das Buch von damals eigentlich überhaupt gelesen?
Das Thema aber blieb, zumindest mir. Und wenn ich nun ganz hoch greifen möchte, könnte ich sagen, dass ich auch deswegen nun über Displaced Persons promoviere. Und auch wieder nach Down Under unterwegs bin. Das hört sich wahnsinnig geradlinig an – manche würden sagen "schön". Ich bin jedoch Historikerin genug, um diese Geradlinigkeit mit Skepsis zu betrachten: ich kenne alle Abzweigungen und Nebenschauplätze. So einfach war und ist es dann doch nicht. Trotzdem, die obere Geschichte ist irgendwie auch nett, gerade da mir erst beim Überlegen darüber, wie doch dieses Buch hieß und ich so vor diesen Akten im Sikorski Institut saß, auffiel, dass ich nun an der Uni Regensburg, Doktorandin bin. Irgendwie verrückte und lustige Zufälle, mich brachte es zum Schmunzeln.
Aber zurück zu Stanisław!
Sein Nachlass besteht aus Englischlernheften und Abschriften von polnischen Exilzeitungen. Er war ein Intellektueller, am politischen Geschehen extrem interessiert, auch und vielleicht gerade in der Emigration, auch schon vor und während der deutschen Besatzung Polens war er politisch aktiv. Er blieb es auch danach, im Londoner Exil.
Englisch lernte er wohl auch noch nach über 30 Jahren in Großbritannien; er lernte auch die englischen Übersetzungen von Fischarten - vielleicht war er Angler? Polen blieb ihm offensichtlich ein Sehnsuchtsort: Abschriften von Busfahrplänen und andere Verbindungen zwischen London und Polen Anfang der 70er Jahre. Ob er je wieder dort war? Das ist mir nicht bekannt.
Und was gibt es im Nachlass zu seiner Zeit als DP?
Zero, nichts!
Eine gewisse Enttäuschung setzte ein, das gibt es doch gar nicht!
Mit etwas Abstand: Klar. Das gehört dazu und kennt jeder/jede, der/die in dem Feld unterwegs ist. Ich habe dafür andere spannende Sachen gefunden, zu anderen Personen, zu anderen Themen, die mit meiner Arbeit verbunden sind. Alles kann ich jedoch hier (noch) nicht verraten - in einigen Jahren in meinem Buch.
Woher weißt du überhaupt, wo du Sachen zu diesen Personen findest?
Auch das kann ich an dieser Stelle nicht schreiben und bleibt vorerst mein „Betriebsgeheimnis“.
Nur so viel: ich konnte die Covid-Lockdowns nutzen um zu etwa 2300 Personen zu recherchieren, die im DP Camp Flossenbürg registriert waren. Ja, ich hatte in dieser Zeit nicht so viel zu tun und hatte mit Tag eins des Lockdowns den Gedanken: jetzt oder nie. Und fing an jeden einzelnen Namen, den ich zum DP Camp Flossenbürg gefunden hatte zu recherchieren und eben jene Wege konnte ich dann recht gut nachvollziehen, zu manchen fand ich sehr viel und ich konnte Kontakt zu Nachkommen aufnehmen. Auch viele von ihnen hatten während des Lockdowns mit einmal Zeit und waren interessiert mir zu helfen. Einige räumten ohnehin gerade die Dachböden auf, da kam meine Anfrage irgendwie richtig.
2021 hatte ich mit sieben Nachkommen, die zwischen den USA, England, Deutschland, Australien und Polen leben ein kleines Online-Treffen. – Nebenbei: die Terminfindung! Der Wahnsinn! :D Bei den einen früh am Morgen, bei den anderen spät am Abend und wir in Europa so seltsam dazwischen. Trotzdem zumindest eine Stunde waren wir zusammen und wer wollte, zeigte Familienfotos oder was gerade da war. Es war lustig, schön und zu Beginn – auch sprachlich – leicht seltsam: Welche Sprache nutzen wir überhaupt? Einige konnten nur (noch) wenig Polnisch, manche sprachen zwar etwas Deutsch als Fremdsprache, aber kein oder nur kaum Englisch. Mit etwas Lachen und gegenseitiges Übersetzen, funktionierte es aber dann doch und irgendwann war es ein Polnisch-Englisch-Mischmasch. Dabei war damals auch Monika, eine Enkelin, die mittlerweile in der Nähe von London lebt. Und zu ihr bin ich nun auf dem Weg.
Nachtrag zum Museum:
Wenn ich es richtig verstanden habe, besuchen das Museum des Sikorski Insitut etwa 13 000 Leute im Jahr. Dem Besucher:innenbuch nach v.a. Menschen aus Polen oder Polinnen und Polen, die gerade in London sind. Während meines Aufenthaltes war auch ein größere Motorradtruppe dort, die eine Gedenkfahrt im Namen von Sikorski unternehmen. Interessant ist ein Besuch dort schon, besonders, wenn man viele Uniformen, Waffen, Standarten und Flaggen anschauen möchte.
Eigentlich würden sie das Museum überarbeiten, modernisieren wollen, doch dafür gebe es kein Geld, auch nicht aus Polen, wie mir vor Ort gesagt wurde. Und so wirkt das Museum etwas aus der Zeit gefallen. Angeschaut habe ich es mir aber (natürlich) trotzdem mit großem Interesse. Seitdem ich mich mit DPs aus Polen beschäftige interessiert mich auch die polnische Armee und besonders die polnischen Einheiten, die an der Seite der Westalliierten gekämpft haben.
Mit Stolz wurden mir die Highlights des Museums gezeigt: die Originalflagge, die über Monte Cassino geweht haben soll, der Tisch an dem die polnische Exilregierung in London tagte und der Arbeitsplatz von Władysław Anders. Zu Monte Cassino und Władysław Anders müsste ich noch viel mehr sagen, doch dann wird dieser Beitrag hier zu lang - und ich möchte nun zu Monika.