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Wunderschönes Georgien

Veröffentlicht: 16.06.2023

So sehr uns die Türkei überrascht hat, so sehr berührt uns Georgien. Ein Land, das eine bewegende Geschichte hat, das sich durch das aktuelle Weltgeschehen weiterhin verändert. Das selbst nach Veränderung strebt.


Die Landschaft, durch die wir in diesen Maiwochen radeln ist vielfältig, meist üppig und immer wunderschön.

Bei Batumi verlassen wir das Schwarze Meer um langsam über die angrenzenden Hügel ins Landesinnere vorzudringen. Kleinbäuerliche Landwirtschaft prägt hier das Bild. Neben Kuhherden begegnen uns immer wieder auch Schweine, Hühner, Enten und Hunde am Straßenrand. Starke, kurze Regenfälle zwingen uns dann und wann zu Pausen. Große, fest gemauerte Bushäuschen bieten dafür trockenen Unterschlupf.

In Kutaissi treffen wir noch einmal unsere Catalanischen Freund:innen Camilla und Pol. Die Begegnung ist herzlich aber leider kurz. Die beiden suchen ihren weiteren Weg nach China vorerst über Armenien und Iran.

In dieser drittgrößten Stadt des Landes bleiben wir länger als geplant. Maik hat eine grausliche Magen Darm Grippe ausgefasst und braucht das Klo in seiner Nähe. Dieser Umstand soll uns noch einige Zeit beschäftigen. Einen Radeltag und eine Taxifahrt später ist er immer noch nicht gesund. Als er es irgendwann doch ist, bin ich es, die vom Klo nimmer weg kommt.

In Surami, einer Kleinstadt an der Grenze zwischen West- und Ostgeorgien bleiben wir aus diesem Grund eine weitere Woche. Unaufregend ist diese Gegend heute bekannt für ihre gute Luft und ihre Nadelwälder. Inländische Tourist:innen kommen hierher um bronchiale Erkrankungen zu kurieren - so sagt man mir. Ich frage mich, wo, außer in den Städten, es hier wohl schlechte Luft gibt. 

Wenn auch der Verkehr nicht so wenig ist wie erwartet, so merkt man beim Herumradeln das das Land wenig Einwohner:innen hat. Dann und wann fahren wir durch Dörfer, Siedlungen und Kleinstädte. In den ersteren sind meist wenig Menschen zu sehen.

Nachdem wir wieder gesund sind, beschließen wir, den Weg nach Tbilisi über die Berge des Kleinen Kaukasus zu nehmen.

Der Verkehr bis Ninozminda - hinauf auf etwa 2000 müM - ist zu Beginn mühsam und erstmals auch etwas furchteinflössend. Die Straßen sind eng, es gibt keine Seitenstreifen. Ist dies doch die kürzeste Strecke in die Türkei, wenn man nicht über Batumi fahren möchte. Dementsprechend viel Schwerverkehr ist unterwegs. Schließlich biegen wir in ein noch engeres Tal Richtung Osten ab. Die motorisierten Fahrzeuge dünnen etwas aus. 

Ganz langsam führt die Straße immer weiter in die Höhe. Die Steigung ist eine angenehme. 

Es fällt schwer, die Landschaft dieser Tage mit Worten zu beschreiben. Sie änderte sich immer wieder fast unmerklich, wenn ich vertieft in meine Gedanken dahinfahre. Doch wenn ich daraus wieder auftauche, ist vielleicht das Grün ein anderes, die blühenden Blumen haben ihre Farben, Größen und Formen gewechselt, die Hügel und Berge, die den Weg säumen, sind rauher oder weicher, näher oder ferner. 


Die Menschen in diesem für uns neuen Land, begegnen uns mit Freundlichkeit. Der Bitte um einen Schlafplatz wird immer statt gegeben. Sie begegnen uns nicht offensiv - aufs Erste scheinen sie ernst und unnahbar, dahinter steckt aber jedes Mal eine Freundlichkeit, die dann und wann in Herzlichkeit umschlägt.

Irgendwann auf unserem Weg in die Höhen - wir verlassen ein Tal und haben einen kurzen, steilen Anstieg hinter uns - durchqueren wir das Städtchen Akhalkalaki und erreichen eine gänzlich andere Welt. Das Wetter in diesen Tagen ist durchzogen. Der Frühling scheint sich nicht entscheiden zu können ob er kalt und regnerisch oder warm und sommerlich sein will. 

Ein weites Plateau erstreckt sich vor uns. Der Wind kommt kalt von Vorne. Immer wieder zwingt uns, zwingt mich das in die Knie. Der Wind fährt ein. Er fährt tief nach Innen und wirbelt alles herum. Das, zusammen mit einer trostlos und öde wirkenden Landschaft, verändert den Gemütszustand.

Das Städtchen Ninotsminda wirkt aufs Erste trostlos. Hier oben, in der Ecke zwischen Armenien und der Türkei. Ich komme mir vor irgendwo im Nirgendwo zu sein.

Auf den zweiten Blick ergibt sich ein ganz andres Bild. Hier bewegt sich viel. Es sind viele junge Menschen unterwegs - für mich immer ein gutes Zeichen für eine Gegend. Junge Menschen und Kinder geben einem Platz Hoffnung und Zukunft. Kinderlärm nimmt dem Ort seine Tristesse. Als wir zwei Tage später weiter ziehen, ist das Gras grüner, der Himmel blauer, die Umgebung weniger im Abseits. 




Das Plateau erstreckt sich noch einige Kilometer weiter nach Oben. Radeln in diesen Höhen ist kaum merklich anstrengender. Kurzatmigkeit und schwere Glieder lassen uns noch langsamer werden. Hier Oben spür ich Freiheit. Nach all den Monaten des Unterwegsseins, nach all den Eindrücken während unserer bisherigen Reise, merke ich in den vergangenen Wochen manchmal eine leichte Abgestumpftheit gegenüber dem Neuen. Diese fällt hier plötzlich von mir ab. Die Weite, die Berge, die Seen und der Himmel nehmen uns in sich auf und überwältigen uns mit ihrer rauen Schönheit.

Irgendwann kommen wir an einen Punkt von dem aus es bergab geht. Wir sausen wieder durch Siedlungen und Dörfer. Im Südosten Georgiens wirkt alles etwas ärmlicher. Die Gebäude scheinen älter, verfallener. 

An einem Tag, wir bewegen uns mittlerweile wieder eher auf um die 1500 müM, kommen uns etliche riesige Viehherden entgegen. Mehrere Schäfer zu Pferd und zu Fuß und bis zu 7 Hirtenhunde begleiten hunderte von Schafe, Ziegen und einige Kühe. Neben der Größe der Herde sind es die Hunde, die beeindrucken. Tiere, denen man nicht alleine begegnen möchte. Ich glaub mein Kopf hätte in so manchem der Mäuler Platz.

Weil wir schon beim Thema sind: Hunde gibt es auch in diesem Land genug. Mein Herz weint sich gelegentlich in den Schlaf. Es begegnen uns oft dürre, hinkende, verlassen und traurig wirkende Tiere. Wir fangen wieder an sie zu füttern. Bei jedem Einkauf geht ein Hunde-Brot mit, um im Falle eines dabei zu haben. Die Schlafplätzen dieser Tage sind meist das Territorium eines oder mehrerer Hunde. Sie streifen um uns, bewachen das Lager bis zum Morgen, manchmal holt sich der eine oder andere Streicheleinheiten - im Gegenzug teilen wir das Brot.


Wir nähern uns immer weiter der Hauptstadt Tbilisi (Tiflis). Gewitter lassen uns den Radeltag oft schon am frühen Nachmittag beenden. In uns hat sich eine Ruhe eingestellt - wir sind total im Flow. Mittlerweile genießen wir auch schon Frühlingstemperaturen und überhaupt dieses wunderbar entspannte Vagabundieren:))

Plötzlich geht’s schnell. Ein letzter Downhill. Ein letztes Dorf in den Bergen. Und schon ist der Sog der Stadt zu spüren. Die Temperatur liegt auf einmal 15 Grad höher als Stunden zuvor. Die Luft ist schwer. Die Umgebung laut. Die Menschen viel. Die Autos schnell.

Tbilisi liegt, umringt von nicht allzu hohen Bergen und Hügel in einem Kessel. Trotz vielen Bäumen staut sich die Luft und der Asphalt heizt sich auf.


Was uns in den kommenden 3 Wochen erwartet, ahnen wir an diesem Tag noch nicht. Tbilisi hält ganz neue Welten für uns bereit.

Unterschiedlichste Begegnungen geben uns Einblicke in Leben und Schicksale, die unseren westeuropäischen Denkrahmen sprengt. 


Da ist die Bar der jungen Russ:innen am Stadtrand, die ihr Land verlassen haben, weil sie gegen den Krieg, gegen das Regime sind. Sie veranstalten Charities für jene, die wie sie ihr Land oder die Ukraine verlassen wollen/müssen.

Da ist dieses belgische Ehepaar, das einen fancy Urlaub per Rangerover mit Dachzelt im abenteuerlichen Georgien macht und nach 2 Nächten am familiengeführten Campingplatz die Frechheit aufbringt, die Zeche zu prellen!!!

Da ist die Laufcommunity, die sich aus Menschen unterschiedlichster Nationen zusammensetzt. Menschen, die während der Kühle des frühen Morgens oder an den arbeitsfreien Wochenenden auf den Trails in und um die Stadt zu finden sind.

Da ist diese junge georgische Familie, die sich mit Fleiß und Eifer auf einen Umzug nach Westeuropa vorbereitet. Fokussiert auf die Zukunft und hoch motiviert.


Und dann ist da unser Hostel an der U-Bahn Station Marjanishvili. Eine Welt für sich. 

Ein Auffangbecken für Gestrandete, Ziel- und Hoffnungslose.

Mit Misstrauen und Vorbehalten werden wir langsam in dieser Gemeinschaft angenommen. Die Tragik der Auswirkungen Putins Angriffskriegs auf die Ukraine bekommen wir aus Perspektiven erzählt mit denen wir nicht gerechnet haben.

Die Menschen, die hier für längere Zeit leben sind in ihrem Vertrieben sein geeint.

Ein christlich-ortotoxer Alter besucht täglich die Kirche um für alle hier zu beten. Ein russisch-jüdisches queeres Paar wartet auf grünes Licht für den Umzug nach Israel. Junge russische Akademiker sind überfordert mit dem plötzlichen Abbruch ihrer Laufbahnen. Ein misstrauischer Kasache liebt das Leben und Parties wird aber immer wieder von Wut und Traurigkeit eingeholt.

Sie alle leben unterschiedlichste Lebenskonzepte, teilen für Monate ihr Zuhause miteinander in diesem trashigen Hostel. Ihre Kompenstationsstrategien reichen vom Putzzwang, der Sachen unauffindbar verschwinden lässt, über Gamen, Schreiben,Trinken und was auch immer sich reinziehen, zu, sich tätowieren und piercen lassen um die Zeit zu füllen und sich spüren zu können.

Am Ende des Tages treffen sich alle in der Küche und teilen das was sie haben. Einzig für einen antisemitischen verschwörungsideologischen Deutschen wird keine Akzeptanz aufgebracht, selbst wenn er offensichtlich ein Verlorener ist.

Maik fühlt sich hier erinnert an die Beschreibungen des Paris Henry Millers, des München von Oskar Maria Graf.

Tbilisi ist eine schöne Stadt. Tbilisi ist eine vielfältige Stadt. Tbilisi ist eine laute Stadt. Tbilisi hat viel zu bieten. Tbilisi nimmt auf. Nimmt alle auf und manche lässt sie nicht wieder aus.Wir bleiben hier vorerst drei Wochen. Treffen nochmal unsere französischen Reiseradlfreund:innen Malie und Yann, die sich von hier weiter Richtung Osten bewegen.

 Planen unsere Wanderung am Transcaucasian Trail, zu der wir im Juli aufbrechen und die Weiterreise im Herbst. Kümmern uns ums Service der Räder und des Equipments. Neben all der Checkereien bleibt gut Zeit zum Laufen und für ein bisschen Kultur. 

Und wir sind voller Vorfreude auf Besuch aus der Heimat!


Übrigens heute genau vor einem Jahr haben wir uns auf die Sattel gesetzt und sind los geradelt. Wir bereuen in keinem Moment, all das Gewohnte zurückgelassen zu haben. Es ist eine Freude zu sehen wie schön unsere Welt ist und wie viele wundervolle Menschen in ihr auf so unterschiedliche Weise leben! 


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