Veröffentlicht: 25.12.2018
Das Tsum-Tal im zentralen Himalaya befindet sich ca. 120 km nordwestlich von Kathmandu und führt bis zur tibetischen Grenze. Der Name des Hochtals bedeutet „verstecktes Tal“ und zwischen den Sieben- und Achttausendern, die es umgeben, ist es das auch. Die Bewohner des Tals sind vor einigen Jahrhunderten aus Tibet eingewandert und blieben lange Zeit von jeder modernen Entwicklung, ob aus Nepal, Indien oder dem angrenzenden China, unberührt. Bis heute leben sie weitgehend autark. Sie folgen dem tibetischen Buddhismus und haben sich verpflichtet, komplett auf Gewalt zu verzichten – sowohl gegenüber Menschen als auch Tieren.
Der Begriff „Shangri-La“ beschreibt in der tibetischen Mythologie einen fiktiven Ort, wo Menschen in Frieden und Harmonie leben. Dieser sagenhafte Ort steht als Synonym für das Paradies oder den idealen Rückzugsort aus dem Weltgeschehen. Aufgrund der friedfertigen und traditionellen Lebensweise der ansässigen Menschen wird er häufig im Zusammenhang mit dem Tsum-Tal verwendet.
Dies und insbesondere die Lage in Mitten der imposanten Bergwelt des Himalayas hörte sich sehr verlockend an. Erst seit 2011 ist das Tal für Touristen geöffnet. Noch heute braucht man ein spezielles Permit und darf das Tal nur in Begleitung eines staatlich geprüften Guides besuchen. Da für den Zugang kein hoher Pass zu überwinden ist, war es uns möglich mit Antonia dieses sagenumwobene Tal zu erkunden.
Ein Tag im Bus auf kurviger Straße, ein Tag im Geländewagen auf durchschüttelnder Fahrspur und eine Woche zu Fuß das enge Tal des Buri-Gandaki-Flusses hinauf. Man ist auch geistig in Nepal angekommen, wenn man den Talaufschluss des Tsum-Tals erreicht und erkennt, was Abgeschiedenheit tatsächlich bedeutet. Auch wenn mittlerweile Internetzugang Einzug gehalten hat, der das Tsum-Tal trotz fehlender Straßenanbindung über die natürlichen Mauern des Himalayas hinweg mit der restlichen Welt verbindet. Dieser teure Luxus ist bisher jedoch Lodgebetreibern und Wanderern vorbehalten, die es sich leisten wollen.
Bleibt die Frage, ob wir Antonia noch vor ihrem ersten Geburtstag das Paradies zeigen konnten. In vielerlei Hinsicht und aus unserer romantischen Sichtweise trifft dies zu. Offenherzige Menschen die ihr Dasein auf klimaneutrale Art und Weise in atemberaubender Landschaft bestreiten. Es gehört aber auch zur Realität, dass es nur eine sehr rudimentäre medizinische Versorgung gibt und sich den eventuell lebensrettenden Hubschrauberflug bei weitem nicht jeder leisten kann. Auch schicken viele Leute nicht ohne Grund ihre Kinder in die Schulen Kathmandus – teilweise schon im Grundschulalter. Das Geld dafür muss verdient werden und dazu nutzen auch die Bewohner des Tsum-Tals jede Gelegenheit. Mit allen negativen Begleiterscheinungen wie Neid und Konkurrenz. Billiger Alkohol aus China sorgt ebenfalls nicht für die Stärkung der geistigen und körperlichen Ausgeglichenheit der Menschen. Wir lernten eine Familie kennen, die ein junges Mädchen adoptiert hat, nachdem ihre Mutter aufgrund einer Familienfehde ermordet wurde.
Bei all diesen unromantischen Realitäten haben wir für unseren Teil – und nur für uns können wir es beurteilen – eine paradiesische Zeit im Tsum-Tal erlebt. Gemeinsam als junge Familie, in Begleitung eines guten Freundes, in dieser ursprünglichen und wunderschönen Region unterwegs zu sein war ein phantastisches Erlebnis. In Klöstern zu übernachten und dem Morgengebet der Nonnen oder Mönche beizuwohnen, beeindruckt tiefgehend. Aber auch der irdische Komfort der neu entstanden Unterkünfte sorgte maßgebend dafür, dass wir uns wohl fühlten. Nirgendwo wird einem dies bewusster als in einer Region, deren Lebensbedingungen schnell und vehement an einem zehren können. Und ja, es gibt nur vegetarische Speisen. Abgesehen von Gerichten mit Tunfisch, der abgepackt in Konserven eine ebenso weite Anreise wie wir hinter sich hat. Die Lodgebetreiber stillen die Nachfrage von uns Gästen in für sie moralisch vertretbarer Weise. Inwiefern diese in Einklang mit den Gegebenheiten und Lebensgewohnheiten steht, die wir an diesem besonderen Ort vorfinden wollen, muss jeder für sich selbst entscheiden. Und somit auch den Einfluss, den wir in diesem entlegenen Tal hinterlassen.