Veröffentlicht: 03.05.2019
Szenenwechsel: Bei Dien Bien Phu reisen wir nach Vietnam ein und sind überwältigt. Von den Ausmaßen der Stadt, von den breiten Straßen und den riesigen Prachtbauten. Sofort fallen uns auch die vielen Uniformierten auf. Klischee des Sozialismus? Sicherlich liegt dies auch an der historischen Bedeutung von Dien Bien Phu. Hier erlitt die Kolonialmacht Frankreich im Jahr 1954 die entscheidende Niederlage, die in der Folge die Unabhängigkeit und die Teilung Vietnams einleitete. Der Stolz der Vietnamesen auf diesen Sieg wird nicht nur im Dien-Bien-Phu-Victory-Museum deutlich: Hier wird eine Gruppe dekorierter Veteranen nach der anderen durchgeführt. Auch die Werbeplakate am Kino sprechen eine deutliche Sprache, die wir auch ohne Vietnamesisch-Kenntnisse verstehen. Hier wird der glorreiche Sieg in mehreren Filmen auf die Leinwand gebracht.
Im Restaurant wird es dagegen ohne Vietnamesisch-Kenntnisse schwierig. Es gibt keine englische Speisekarte und auch die Bedienungen sprechen kein Englisch. Wir treten also etwas zögerlich an den Tisch der anderen Gäste und zeigen auf deren Speisen, um der Bedienung deutlich zu machen, was wir bestellen möchten. Prompt greifen unsere Tischnachbarn zu einem frischen Löffel und halten uns Kostproben ihrer Speisen zum Probieren hin. Im nächsten Restaurant bittet uns der Koch direkt in die Küche, damit wir dort unser Essen auswählen können. Und wenn kein Zettel zur Hand ist wird die Rechnungssumme auch mal auf die Hand geschrieben. Wir fühlen uns sehr willkommen und sind begeistert ob der Hilfsbereitschaft und Offenheit der Vietnamesen.
Auch unser nächster Stopp scheint abseits der Pfade westlicher Touristen zu sein. In Lai Chau übernachten wir, um die lange Busfahrt etwas aufzuteilen. Offensichtlich haben sich unsere Erwartungen noch immer nicht an vietnamesische Verhältnisse angepasst: Statt eines romantischen Bambusstelzen-Städtchens landen wir in einer modernen Großstadt. Auch hier fällt uns die Freundlichkeit der Menschen auf und so klappt die Verständigung wieder ohne gemeinsame Sprache.
Es sind die großen und kleinen Besonderheiten Vietnams, die das Reisen für uns hier spannend machen. So ist es für uns interessant am Ort der Geschehnisse mehr über die beiden Vietnamkriege zu lernen und das Leben in einem der wenigen sozialistischen und wirtschaftlich erfolgreichen Ein-Parteien-Staaten der Welt zu beobachten. Und nicht zuletzt wundern wir uns über solch kleinen Dinge, wie Pissoirs ohne Trennwand auf der Frauen(!)-Toilette und dass, wenn viel los ist und es schnell gehen muss, Frauen auf der Toilette schon mal die Hose runter lassen, bevor sie in die Kabine gehen. Außerdem freuen wir uns darüber endlich Millionär zu sein: 40 € sind 1 Million Dong.
Schließlich geht es weiter zu unserem eigentlichen Ziel: Die Stadt Sapa auf 1.600 m, nahe der Grenze zu China. Östlich der Wetterscheide gelegen ist es im Winter der kälteste Ort Vietnams und auch zur aktuellen Jahreszeit sollen angenehme Temperaturen herrschen. Wir schmunzeln über das Schild an der Passstraße, das vor Straßenglätte warnt. Die Frage nach Winterreifen stellen wir uns erst gar nicht. Tatsächlich ist es in Sapa ein wenig kühler und wir freuen uns auf unsere mehrtätige Trekking-Tour in die umliegenden Dörfer. Ein wenig fühlen wir uns nach Kathmandu zurückversetzt: Die Straßen sind staubig, die Bürgersteige aufgerissen und ein Outdoor-Geschäft reiht sich an das andere.
Diesmal sind wir mit einer Frau als Guide unterwegs. Sam gehört zum Volksstamm der H’mong und arbeitet für die Agentur Sapa Sisters, bei der nur Frauen arbeiten. Anliegen dieser Agentur ist es, die Stellung der Frauen in ihren Familien zu stärken. Traditionell wird Land nur an Söhne vererbt, arrangierte Ehen sind noch an der Tagesordnung, verheiratete Frauen ziehen zur Familie ihres Ehemannes, Scheidungen sind praktisch unmöglich. Bis vor einigen Jahres war es sogar noch üblich, dass Mädchen keine Schulbildung erhalten. Auch Sam ist nie zur Schule gegangen und hat sich ihr Englisch selbst beigebracht. Die Arbeit der Frauen als Guide stärkt ihr Selbstbewusstsein und ihre finanzielle Unabhängigkeit. Während auch andere Agenturen mit Frauen zusammenarbeiten werden sie, laut der Aussage von Sam, bei den Sapa Sisters aber deutlich besser bezahlt, da der Mittelsmann wegfällt.
Sam zeigt uns einige der umliegenden Dörfer, in denen unterschiedliche ethnische Minderheiten leben: H’mong, Dzao, Tay. Aufgrund der traditionellen Kleidung, die vor allem die Frauen und Kinder tragen, können wir die Volksgruppen schnell unterscheiden. Durch Sam erfahren wir viel über das Leben der Menschen im vietnamesischen Hochland. Eine Nacht dürfen wir in ihrem Elternhaus übernachten. Dort lebt ihr Vater, ihr Bruder mit seiner Frau und deren Kinder während Sam zu ihrem Mann ins Nachbardorf gezogen ist. Die einfachen Lebensumstände der Familie überraschen uns. In Nepal hatten wir das erwartet, aber in Vietnam haben wir nicht mit so einfachen Wohnverhältnissen gerechnet.
Wir finden es bewundernswert, dass manche Traditionen noch so gelebt werden, wie zum Beispiel die traditionelle Kleidung und deren selbstständige Herstellung. Erschreckend ist dagegen, dass es aufgrund der miserablen Gesundheits- und Geburtsversorgung und dem starken Misstrauen gegenüber Ärzten üblich ist, auch bei schweren Krankheiten den Schamanen zu rufen und dass Kinder traditionell nur im Beisein der Mutter der Gebärenden zur Welt kommen – von Geburtsvorsorge gar nicht zu sprechen. Eine weitere fragwürdige Tradition ist uns glücklicherweise nicht in die Quere gekommen. Vor einiger Zeit ist ein anderes Touristen-Paar nämlich ohne ihre Guide nach Sapa zurückgekehrt, da diese unterwegs entführt wurde. Traditionell wird eine Frau von einem Heiratswilligen, der ein Auge auf sie geworfen hat, entführt und muss vier Tage bei ihm und seiner Familie leben. Danach entscheidet ihre Familie, ob es zur Hochzeit kommt – oftmals ohne überhaupt mit der Frau darüber zu sprechen.
Wir sind zufrieden und reich an vielen Eindrücken von unserer viertätigen Trekking-Tour zurückgekommen. Nun lassen wir unsere Zeit in Vietnam in der Hauptstadt Hanoi ausklingen. So wie in Dien Bien Phu ist auch in Hanoi die durch Kriege geprägte jüngere Geschichte vielerorts greifbar. In Museen, in Form von Statuen und Plakaten begegnet man ihr. Jeder Mensch über 44 hat den Krieg gegen die USA selbst miterlebt, die 55-jährigen auch den gegen die Franzosen. Es gibt keine Familie, die nicht Angehörige verloren hat. Und noch heute sind die Nachwirkungen fatal: Ausgelöst durch die damals von den Amerikanern versprühte Entlaubungschemikalie „Agent Orange“ hat Vietnam die höchste Rate an Fehlgeburten und Geburten behinderter Menschen in Südostasien – vier Generationen nach Kriegsende. Um so mehr sind wir von der Gastfreundlichkeit und Gutmütigkeit der Menschen begeistert. Auch derer, die nicht vom Tourismus leben.
In Hanoi sind mehr als fünf Millionen Motorroller unterwegs. Vor allem in den engen Straßen der Altstadt stellen sie das flotteste Verkehrsmittel dar. Die wagemutige Fahrweise sorgt allerdings für eine völlig chaotische Verkehrssituation. Dass sich immer mehr große Geländewagen und Limousinen daruntermischen, macht die Straßen nicht unbedingt sicherer. Aber was erwartet man von einer südostasiatischen Hauptstadt? Doch genau so ein Verkehrschaos par excellence! Sich nicht zu viele Gedanken machen, Blickkontakt zu den Fahrern halten und mutig los und weiter laufen. So klappt das mit der Straßenüberquerung. Doch mal schauen, wie lange das noch notwendig ist. Denn ab 2030 sollen in Hanois Innenstadt Motorroller verboten werden. Stattdessen soll die Bevölkerung auf ein ausgebautes Netz an öffentlichen Verkehrsmitteln umsteigen. Angesichts der schlechten Luftqualität sicherlich eine sinnvolle Maßnahme. Ob die 7,6 Millionen Einwohner das auch so sehen wird sich zeigen. Verschwindet das quirlige Verkehrsgewühl, würde Hanoi definitiv auch etwas von seiner Identität verlieren. Es sei denn alle steigen wieder um aufs Fahrrad.
Wir bedauern ein wenig nicht mehr von diesem Land erkunden zu können. Daher lautet unsere Parolle: Tạm biệt việt nam. Auf Wiedersehen Vietnam.