Mit Geschichte(n) um die Welt
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"Nie czekaj na mnie, bo już nie wrócę." Oder: Monika, Franz und ein Familiengeheimnis

Veröffentlicht: 09.07.2023

Im Herbst 2020 habe ich Monika gefunden. Sie lebt seit vielen Jahren in Großbritannien, geboren wurde sie in Polen. Sie ist ausgebildete Englischlehrerin, heute arbeitet sie im Büro einer Fahrzeugvermietung. Als sie vor 17 Jahren in Polen immer nur kurze Verträge an Schulen erhielt und dann kein Anschlussvertrag kam, wollte sie es in England versuchen. Mal London sehen, das wollte sie ohnehin irgendwann einmal. Kein neuer Vertrag und mal eben schauen, wie es da so ist, zurück geht ja immer. “Mal eben ein Jahr auf der Insel.” Als Lehrerin konnte sie dort zwar nicht mehr arbeiten, dafür sprach sie jeden Tag Englisch. Sie lernte ihren damaligen Partner kennen und bald kam eine Tochter. Sie blieb.

Treffpunkt mit Monika.

Sie spricht mit wunderbarem britisch-englischen Akzent, bemerke ich, als wir uns einen Kaffee bestellen und aus dem Polnischen ins Englische wechseln. Ich hatte ihren genauen Wohnort nicht mehr ganz parat, irgendwo in der Nähe von London. Ich schrieb ihr, ohne vorher in meine Notizen zu schauen. Ich wusste nur noch, dass sie vor einiger Zeit umgezogen war.

Kurz nach meiner Anfrage, ob wir uns nicht treffen wollen, kam sofort ein “Ja” zurück. Und auch, dass sie gern die 1,5 Stunden mit dem Zug nach London kommt; sie hätte eben Lust mich zu treffen. 

Auf meine Antwort, dass ich auch gern zu ihr komme, wandte sie ein, dass ich sie und ihre Familie nun schon genug in Raum und Zeit gesucht und gefunden hätte, da wäre der Aufwand für sie schon voll ok.

Monikas (Familien-)Geschichte ist spannend. Und noch mehr, wie diese im Laufe der Recherchen sich verändert hat; irgendwie aufgedeckt, fast schon entrümpelt und irgendwie enttarnt wurde.

Der Beginn war der Tod ihrer Oma, 1988, vor etwa 35 Jahren, ein Jahr bevor ich geboren wurde. Monika war damals etwa 16 Jahre alt.

Sie fand Dokumente zu ihrer Oma eher zufällig, Monika half ihrer Mutter bei der Beantragung der Sterbeurkunde. Sie trug dazu die Daten zusammen, Geburtsort, Datum, Ehepartner, was man eben braucht zum Erledigen des Papierkrams, wenn ein Mensch geht. Monika fand dabei eine Heiratsurkunde ihrer Oma mit Franz, ihrem ersten Mann.

Sie schrieb alle Daten ab, einfach mal so, sie war neugierig geworden. Monika wusste - und so auch ihre Verwandten -, dass der erste Mann ihrer Großmutter 1945 in Auschwitz von den Deutschen ermordet worden war.

So die Erzählung.

Monika stellte verschiedene Suchanfragen nach Franz, diesem ersten Ehemann ihrer Oma. Aus dem Archiv der Gedenkstätte Auschwitz erfuhr sie schnell, dass es keine Aufzeichnungen zu dem gesuchten Namen gäbe. Sie versuchte es beim Polnischen Roten Kreuz. Nach etwa einem Jahr kam die Antwort: Auch hier Fehlanzeige, aber zumindest die Antwort, dass sie sich bei ihr melden würden, sollten sie einmal etwas zu diesem Franz finden. Das war Anfang der 1990er Jahre.

Es dauerte lange, Jahre, bis 2001, bis Monika wieder eine weitere Antwort erhielt, diesmal vom Internationalen Suchdienst in Bad Arolsen, enge Kooperationspartner des Polnischen Roten Kreuzes.

Geschrieben war die Auskunft zu Franz auf Englisch und (noch viel mehr) auf Deutsch; auf Polnisch nichts. Viel verstehen konnte Monika somit nicht. Es gab auch niemanden, den sie hätte bitten können die deutschen Teile zu übersetzen. Der Brief blieb liegen, für irgendwann, geriet in Vergessenheit.

Monika dachte lange nicht mehr daran. Irgendwann gab es dann innerhalb der Familie ein Gespräch über ihre Oma, über Franz und da fiel ihr wieder ein, dass da ja mal was war. Wo lag nochmal dieses deutsch-englische Antwortschreiben?

Zu dem Zeitpunkt war sie schon lange in England. Mal danach suchen beim nächsten Besuch in Polen. Und mitnehmen nach England. Mittlerweile gab es die Google Übersetzung, das könnte helfen, zumindest etwas. Monikas damaliger Partner hatte eine Zeitlang in Deutschland gearbeitet, zumindest „Friedhof“ konnte er übersetzen, cmentarz. Seltsam. Warum ein Friedhof in Deutschland?

Google half zwar, doch da waren so viele Abkürzungen, dass es immer noch unverständlich war. Nur eines war klar: Franz war nicht 1945 in Auschwitz gestorben. Er war auch nie in Auschwitz gefangen gewesen. Und er hatte die NS-Zeit überlebt.

Er verblieb in Deutschland, heiratete - obwohl schon und noch verheiratet - ein zweites Mal. 

Ausgerechnet eine Deutsche! Er lebte ab etwa 1947 in Oberfranken. Franz war als Displaced Person in verschiedenen DP Camps registriert, auch in Flossenbürg. So kam ich auf ihn, seinen Namen und eben auch auf Monika.

Ich “kannte” ihn vor allem als Franciszek und fand ihn aufgrund mehrfacher Dinge interessant. Die Deutschen nahmen den damals 34-Jährigen bereits kurz nach der Besetzung fest, im November 1939. Ab 1940 war der dreifache Familienvater in mehreren Gefängnissen und Konzentrationslagern, befreit wurde er im oberösterreichischen Ebensee.

Die SS hatte ihn im KZ als “S.V.-Häftling”, als sogenannten “Sicherungsverwahrten” festgehalten. Das war eine Häftlingskategorie in den Konzentrationslagern über die es weniger Forschung und auch Erinnerungsberichte von diesen Personen selbst gibt, denn ihnen haftete das Stigma von Kriminalität und Asozialität an, auch nach 1945. Lange Zeit interessierte sich kaum jemand für diesen Personenkreis und die Überlebenden selbst meldeten sich nur selten zu Wort, konnten und wollten es auch nicht, denn oft blieb die negative Kennzeichnung und Einordnung weiter an ihnen kleben.

Dabei stimmte diese Kategorie der Nationalsozialisten und SS oft nicht.

Wie ich mal in einem Artikel schrieb: “Bereits in den 1970er-Jahren informierte der Internationale Suchdienst darüber, dass im KZ-Komplex Mauthausen [wo auch Franz war] Polen, die als »Sicherungsverwahrte« oder »Berufsverbrecher« registriert worden waren, überwiegend nicht »kriminelle Mehrfachtäter« gewesen seien: »Die Bezeichnung war ihnen gegeben worden, weil sie vorher in Zuchthäusern beziehungsweise Gefängnissen aus politischen Gründen wie Abhören feindlicher Rundfunksendungen, Vorbereitung zum Hochverrat, Verstößen gegen Kriegswirtschaftsverordnungen und auch wegen nicht-politischer Strafen einsaßen.«” 

[Vgl. Antwort auf Antrag, ITS an Bronisław K., 2.11.1976, Arolsen Archives, ITS Digital Archive, 6.3.3.2/110018796. sowie mehr: Sarah Grandke, Moving memories – memories on the move? Erinnerungsinitiativen von Displaced Persons in Flossenbürg 1946/47, in: Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung (hg. KZ-Gedenkstätte Neuengamme), 2022, S. 45-64.]

Und auch das lässt sich zu Franz/Franciszek finden. Er wurde wegen Vorbereitung zum Hochverrat zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt. Danach folgten Gefängnisse, Straflager und Konzentrationslager. Nach seiner Befreiung durch die US-Amerikaner wurde er über verschiedene Stationen nach Bayern gebracht, das war im Frühjahr 1946, ein Jahr nach Kriegsende. Als ich herausfand, dass er Kinder hatte und bis zu seinem Tod in den 1990er Jahren noch in Bayern lebte, wollte ich es zumindest versuchen: hat er vielleicht doch irgendwelche Aufzeichnungen hinterlassen? Oder Fotos? Oder oder?

Ein Versuch war es wert.

Denn auch die Tatsache, dass er eine deutsche Frau nach dem Krieg geheiratet hatte, fand ich spannend. Oft wurde dies in der polnischen Nachkriegsgesellschaft (und oft auch unter den DPs) völlig verachtet. Sich mit dem Feind einzulassen, auch noch lange nach 1945 (wie auch bereits während des Krieges), war für viele ein absolutes Tabu.

Zu Franz' “deutscher” Familie fand ich zwar nichts weiter heraus, aber zu seiner polnischen und so kam ich zu Monika.

Warum in Monikas Familie und auch von ihrer Oma selbst erzählt wurde, dass Franz im KZ Auschwitz ermordet worden sei, ist auch für Monika unklar. Alles sind Vermutungen. Doch über viele Ecken und Nachfragen, konnte sie zumindest zu Tage fördern, dass sich doch noch eine ältere Verwandte erinnerte. Es habe mal einen Brief von Franz gegeben, so kurz nach dem Krieg und dieser sei nach dem Tod der Oma gefunden worden. Darin sei der Satz gewesen:

“Nie czekaj na mnie, bo już nie wrócę.”-

 “Warte nicht auf mich, denn ich komme nicht zurück.”

Den Brief gäbe es heute wohl nicht mehr, die Tante wollte nicht, dass er gelesen wird, auch nicht von Monika.

War es für Monikas Oma einfacher, Franz quasi für tot zu erklären, als mit der gewissen, vermeintlichen oder tatsächlichen Schande zu leben, dass ihr Ehemann nicht zurückkommen werde? Nicht zurück nach Polen, sich dagegen entschieden hatte? Und dann auch noch eine neue Frau, eine Deutsche, heiratete?

Möglich.

Vielleicht war es aber auch ganz anders. Nur wie können weder Monika noch ich sagen. Wir fragen zu spät. Und selbst wenn jemand vor 30, 35, 40 Jahren nachgefragt hätte, vielleicht hätte es auch damals keine Antworten mehr gegeben. Trotzdem: Monika war nah dran. Franz starb vier Jahre nach ihrer Oma, 1992. Begraben ist er auf einem Friedhof in Oberfranken, etwa 60 Kilometer vom ehemaligen DP Camp Flossenbürg entfernt.

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