Veröffentlicht: 01.08.2023
Heute einmal kein Nachtrag, sondern eine Vorrede – quasi ein "Vorwort":
Manche Texte gehen mir leicht von der Hand. Die vielen Begegnungen, die Arbeit in den Archiven, das Unterwegssein. Ich habe eine Idee, einen Anfang für einen Text, mache ein paar Notizen und schreibe mal eben schnell auf meinem Handy; es dauert nicht lang und der Text ist fertig – oder zumindest eine Rohfassung.
Doch über den folgenden Beitrag habe ich lange nachgedacht, nachdenken müssen; habe ihn immer wieder umgeschrieben, einige Freund:innen gefragt, ob sie mal lesen könnten; habe das Veröffentlichen immer wieder etwas verschoben, da ich (immer noch nicht) wirklich gut damit bin. Will sagen: Dieser Beitrag fiel mehr schwerer.
Warum? Vieles arbeitet in mir. Zu dem, was ich mir hier für Dokumente anschaue, was ich lese und höre, die vielen Gespräche, auch persönlichen Begegnungen und gleichzeitig die wissenschaftlichen Texte, die ich dazu lese; zum Kontext, zur ukrainischen Diaspora, zu den von mir untersuchten Personen. Texte, die ich nun ein weiteres Mal lese, vielleicht anders als zuvor?
In vielen Teilen ist das auch sehr verwirrend. Vor ein paar Tagen gab es hier eine Tornadowarnung. Ich hatte sofort die Bilder von riesigen Windhosen und zerstörter Landschaft im Kopf. Hier ist glücklicherweise nichts passiert – doch der Sturm war zu spüren und hat einiges durcheinandergebracht – auch symbolisch vielleicht in meinem Kopf.
Daher sei der folgende Text eine veröffentliche Rohfassung, die womöglich in nächster Zeit auch mal überarbeitet, bearbeitet, verändert, umgestellt oder vielleicht sogar einmal gelöscht wird. Das klingt irgendwie dramatisch. :D Es zeigt aber eher: work in progress, hier ist etwas in Arbeit, im Prozess. Und dann dachte ich mir, dass das ja irgendwie auch derzeit gut einmal passt und so sein sollte. Also damit: willkommen im historischen Chaos.
Ich frage mich manchmal, wie das wohl so wäre: da kommt jemand Fremdes um die Ecke und fragt nach der Geschichte meiner Eltern oder Großeltern, ist interessiert an Dokumenten, persönlichen Aufzeichnungen, Fotos; möchte mit mir sprechen.
Ich kann mir vorstellen, dass das auch komisch wäre.
Würde ich mit der Person sprechen, mir die Zeit nehmen? Vermutlich schon. Aber auch, wenn ich vielleicht selbst darüber gar nicht so viel weiß, wie ich denke, wissen zu müssen? Das könnte auch unangenehm sein. Und vielleicht käme dabei etwas heraus, das ich vielleicht selbst nicht wissen wollen würde, was auch vielleicht lange beschwiegen wurde.
Ich habe den Eindruck, das geht und ging zumindest einigen durch den Kopf, als so eine Anfrage von mir in den letzten Jahren gekommen ist. Vor allem dürften meine Fragen ungewöhnlich sein. Bei manchen weiß ich auch sicher, dass sie Unbehagen ausgelöst haben, bei anderen habe ich die Vermutung.
Die meisten Menschen – so meine Wahrnehmung - fragen wohl erst nach den (eigenen) Geschichten und Leben ihrer Vorfahren, wenn diese bereits tot sind. Dann ist es oft zu spät und wenn überhaupt eine sehr mühsame Arbeit. Oft gibt es gar keinen richtigen Anfang bei sowas, denn wo soll man eigentlich beginnen?
Und dann verstreicht die Zeit noch weiter. Die nachfragende Person wird älter und vielleicht fragen irgendwann die Enkel, dann beginnt das eigene Nachfragen vielleicht wieder von vorn.
Für einige sind diese alten Geschichten auch egal, wieder andere finden es sehr spannend, wenn sie nur das Nachforschen nicht selbst übernehmen (müssen). Das hat oft wenig mit Bequemlichkeit zu tun; vielmehr damit, dass einfach manche Dinge schwer zu finden sind, auch schwer zu verstehen, gerade wenn es um persönliche, individuelle Geschichten geht.
Familienarchive können da ein regelrechter Schatz sein, doch wenn so etwas überliefert ist, dann gab es bereits mindestens eine Person in der Familie, die sich dafür interessiert und angefangen zu sammeln hat. Aber auch da, als jemand Fremdes hineinschauen zu können, erfordert Vertrauen.
Eine andere Möglichkeit ist, wenn denn vorhanden, Community Archive, also nichtstaatliche Archive von einzelnen Gruppen. Auch darin zu arbeiten erfordert Vertrauen; vor allem einen Vertrauensvorschuss der forschenden Person gegenüber. Das ist nicht selbstverständlich. Genauso wie es nicht selbstverständlich ist, dass Nachkommen oder auch Überlebende (mir) ihre Geschichte(n) erzählen. Die Frage ist oft zumindest auch, was ich denn damit mache. Wie interpretiere ich die Sachen? Wie stelle ich diese und somit auch die damit zusammenhängenden Personen dann auch später dar? Habe ich irgendeine zurückgehaltene Agenda? Werde ich im Auftrag von jemanden für meine Arbeit bezahlt? Manchmal ist die Skepsis groß. Viel öfter spüre und spürte ich in den letzten Jahren das aber, viel mehr in Zwischentönen.
Vor allem die ukrainische Diaspora und besonders auch die in Kanada sieht sich oft - aus ihrer Sicht fast immer - mit einem enormen Antisemitismus-Vorwurf belegt, mit dem Vorwurf, dass alle Nationalsozialisten, Ultranationalisten, Nazikollaborateure gewesen seien. Und wenn nicht alle, dann die große Mehrheit. Gleiches gilt oft für die litauische, lettische und estnische Disapora. Gerade ab den 1980er Jahren verstärkten diesen Eindruck internationale Gerichtsprozesse gegen tatsächliche und vermeintliche Kollaborateure mit den Nationalsozialisten. In den letzten Jahren – nun schon eigentlich Jahrzehnten - befeuerte die russische Propaganda dieses Bild noch zunehmend.
In Bezug auf die Ukraine: Wie mit Stepan Bandera - dem besonders umstrittenen, antisemitischen, ultranationalistischen Anführer – und seinen Anhängern umzugehen sei, umzugehen ist, ist bis heute oft umstritten und bleibt ein ständiges Thema; in der Ukraine, in der Diaspora, im Ausland; in Polen und Israel. Für die einen ist die OUN - die Organisation Ukrainischer Nationalisten - eine Massenmörderbande, die mit den deutschen Nationalsozialisten kooperierte, Juden und Polen ermordete; für die anderen waren deren Mitglieder (auch) Freiheitskämpfer für eine unabhängige Ukraine. Wieder andere plädieren darauf nicht nur schwarz oder weiß zu sehen, sondern die vielen Grautöne dazwischen. Schwierig, sehr sogar.
Dazu hat sich die Brisanz dieser Themen seit der russischen Vollinvasion in der Ukraine nochmals verstärkt. Es gibt Themen - historisch wie aktuell - die für viele noch schwieriger zu besprechen scheinen als sie es ohnehin schon waren.
Ich bewege mich somit in meiner Forschung in sehr unsicherem Terrain, fasse sehr delikate, sensible Themen an. Und für viele Ältere scheint sich gerade die Geschichte des 20. Jahrhunderts zumindest in Teilen zu wiederholen. Das ist nicht ohne.
Auch ich merke die Schwierigkeit des Sprechens immer mal wieder bei der Arbeit in dem Archiv in Toronto. Ich habe auch mit durchaus problematischen Quellen zu tun, Selbstzeugnissen und Erzählungen, die nicht mit der/den gängigen Erzählung(en) zum Zweiten Weltkrieg im östlichen Europa übereinstimmen, vorsichtig ausgedürckt: anderen Narrativen folgen. Damit umzugehen, ist nicht einfach und an dieser Stelle sei lediglich darauf hingewiesen, dass ich mit einigen derzeitigen wie künftigen Aufgaben kämpfe. In diesem Wust ist das Sprachliche da eher eine untergeordnete Herausforderung.
Eine enorme Hilfe bei der Suche im Ukrainian Canadian Documentation and Research Center (UCDRC) war mir Kalyna. Sie ist selbst Kind von zwei DPs. Geboren wurde sie in Innsbruck, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Als sie in Rente ging, suchte sie nach einer neuen Aufgabe. In Museen in Toronto war sie ohnehin viele Jahre als Rundgangsleiterin und Freiwillige beschäftigt. Gleichzeitig hatte sie Erinnerungsberichte ihrer Eltern, die sie in ein Archiv geben wollte. "Da ist es besser aufgehoben", sagte sie und da kam sie auf das UCDRC. Sie kannte es zuvor nicht, obwohl sie in der ukrainischen Diaspora hier in Toronto aufgewachsen ist.
Ihre Eltern erzählten auch nicht wirklich viel von der NS-Zeit, von der DP-Zeit; die Geschichte begann erst wirklich, wie sie sagte, nach der Emigration nach Kanada. Rückblickend sagt sie aber auch, dass sie nie wirklich nachgefragt hatte. Die Fragen kamen ihr erst als die Eltern schon tot waren und sie viel älter war. Was ihre Eltern erlebt hatten, weiß sie nur bruchstückhaft. In der ihr erinnerlichen Familiengeschichte klaffte eine große Lücke. Ihre Mutter war im Gefängnis, kam auf einen Transport. Der geschriebene Erinnerungsbericht endet dort. Das Einzige, was Kalyna noch gut erinnert, ist die Geschichte von alten Lappen und Stofffetzen, die die Frauen nutzten, als sie im Gefängnis ihre Periode hatten. Das erzählte ihr ihre Mutter eher nebenbei, als Kalyna in jugendlichem Alter war. Kalyna erinnert sich, wie irritiert sie von dieser Geschichte war. Das ist eigentlich alles, was sie von der Gefangenschaft ihrer Mutter wisse. Wo das war, wie lange? Unbekannt.
Kalyna übernahm als Freiwillige ein Projekt im UCDRC. Ein Projekt zu weiblichen Häftlingen aus der Ukraine im KZ Ravensbrück. Alles was sie weiß über KZs, über die NS-Zeit, über das danach, wisse sie vor allem darüber und über die Recherche zum Projekt, erzählt sie mir.
Sie hat eine Datenbank erstellt und versucht, so viele Namen und Geschichten wie möglich zusammenzutragen. Ähnlich wie ich arbeitete sie v.a. daran während der Covid-Lockdowns. Nun ist sie langsam am Projektende angelangt. Es soll ein Buch entstehen, eine Online- Veranstaltung gab es bereits, die Interviews sollen online zugänglich gemacht werden.
Kalynas Arbeit war für meine Arbeit hier eine sehr wichtige Grundlage zum Weiterrecherchieren, Sich-Weiterhangeln, hier vor Ort. Und sie kennt die Materialien zu KZs und dem hiesigen Archiv gut. Das hilft und sie bereitete mir einiges vor, unternahm in ihren Aufzeichnungen eine Suche nach für mich interessanten Dingen.
Seitdem sie an dem Projekt arbeitet - einmal wöchentlich als Freiwillige - gibt es auch mehr digitalisiert. Das ermöglicht mir nun von meinem vorübergehenden Zuhause in Toronto mit dem Durcharbeiten schneller zu sein - so bin ich nicht von den Öffnungszeiten abhängig.
Die Ausstellung: Meine DP-Geschichte – My DP-Story
Vor Kurzem gab es eine Ausstellung im UCDRC zu DPs, nur noch ein kleiner Teil steht. Der Rest ist seit ein paar Wochen verpackt in vier große Kisten; ich durfte sie wieder auspacken.
Im Grunde genommen war es eine kleine Ausstellung zu Nachkommen von DPs. Viele von ihnen sind in den letzten Jahren in die Orte zurückgekehrt, wo einst die Camps waren, in denen sie geboren wurden oder ihre Eltern eine Zeit lang lebten. Diese eher aktuellen Fotos, die bei den Besuchen der Nachkommen entstanden sind, sind gespickt mit historischen Abbildungen, Dokumenten und Lebensgeschichten Einzelner. Vor allem die Privatfotos sind spannend und geben gute Einblicke in deren DP-Leben. Interessant war es dabei für mich, dass die Protagonistinnen der Ausstellung für mich direkt ansprechbar waren, denn es sind vor allem die Freiwilligen, die im UCDRC einmal wöchentlich arbeiten.