Veröffentlicht: 30.10.2017
Was ein Tag heute: Bislang wohl einer der intensivsten und krassesten meiner Reise. Und NEIN, das nicht, weil ich so verkatert nach der Halloweenparty gestern war :D. Vielmehr deshalb, weil ich in dem Nationalpark war, den ich wohl am sehnlichsten in den USA erkunden wollte: Im Rocky Mountains National Park in Colorado. Ich kann euch sagen, ein absoluter Traum, mein absolutes Highlight und unbegreifliche Schönheit.
Doch wie bin ich überhaupt dort gelandet, so ganz ohne Auto?
Gestern auf der Halloweenparty hatte ich das Glück Lush kennenzulernen. Lush wurde in Indien geboren, lebt jedoch seit seiner Collegezeit in den USA. Da meine beiden Couchsurfinghosts wegen ihrer Schwangerschaft nicht unbedingt in die Rocky Mountains wollten, war Lush so unglaublich nett mir anzubieten, heute mit mir dorthinzufahren. Und ich bin unendlich froh, dass es geklappt hat! Bei herrlich sonnigen 20 Grad starteten wir von Boulder aus in die Rockys!
Bei der ca. 90-minütigen Panoramafahrt passierten wir dabei zunächst Estes Park. Estes Park ist ein unglaublich süßes Städtchen, das direkt in den Rocky Mountains liegt. Die Häuser sind wirklich direkt in die Berge herein gebaut, die Landschaft wird zusätzlich von Flüssen und Seen geprägt. Es gibt zahlreiche Cafés und Restaurants, natürlich auch entsprechend der Schönheit des Örtchens zahlreiche Touristen. Wäre eine Unterkunft dort nicht so unfassbar teuer gewesen, wäre ich sofort dort geblieben. Sollte ich mal im Lotto gewinnen und verschwunden sein, die Chancen stehen recht gut, dass ihr mich in Estes Park wiederfindet ;).
Schon der Anblick von Estes Park war für mich einfach atemberaubend. Diese Naturschönheit ist schwer in Bildern oder Worten festzuhalten...ich hoffe, ich kann sie mit meinen Fotos ein wenig vermitteln.
Und auch das Wildleben war unglaublich: Wir trafen tatsächlich auf wild lebende Elche in Estes Park, die sich in den umlegenden Seen vergnügten und sich keineswegs von uns verscheuchen ließen. Magische Tiere diese Elche, sie strahlen eine solche Ruhe& Schönheit aus. Man kann sich nicht vorstellen, wie anders es ist, solche Tiere in freier, idyllischer Natur statt im Zoo zu erleben. Für mich ist unbegreiflich, wie Menschen diese schönen Tiere in den umliegenden Kneipen als Delikatesse verspeisen können.
Einfach herrlich dieser kleine, idyllische Ort. Hätten die Rocky Mountains mich nicht schon seit geraumer Zeit so enorm angelockt, ich glaube, ich hätte gar nicht weiterfahren wollen.
Aber der Anblick, der uns bei der Weiterfahrt in den Rockys Nationalpark erwartete, war das Aufbrechen mehr als wert.
Ich glaube, ich habe nie in meinem Leben eine beeindruckendere Naturkulisse erlebt als in diesem Park: Die Berge, die in unterschiedlichsten Farben und Formationen strahlten. Die Wasserfälle und Seen, die Tiere, die Ruhe, die unglaubliche Macht der Natur.
Leider bin ich ein Mensch, der sich sehr schwer fallen lassen kann und selten alles um sich herum vergisst. Beim Erkunden dieses Parkes jedoch, konnte ich ganz andere Seiten an mir entdecken. Unfassbar, diese verändernde, starke Kraft der Natur, die uns Menschen so stark beeinflussen kann. Diese Idylle hat mich wirklich zu Tränen gerührt, es war ein Moment, der mir gezeigt hat, wofür es wert ist zu leben und was wirklich zählt. Ich war mehr bei mir selbst als in den meisten anderen Momenten meines Lebens. Und Lush war der perfekte Begleiter für diesen Trip: Er ist noch viel naturerfahrener als ich und hat mir im Park zahlreiche Klettertechniken beigebracht. Wir waren einfach total in unserem Element, sind durch den Park gelaufen und geklettert wie kleine Kinder, die nichts außer purer Lebensfreude kennen. Dieser Moment ist einfach nicht in Worte zu fassen...
Ich weiß, viele halten mich für verrückt mit meiner Natur- und Bewegungsbesessenheit. Aber ich kann nur jedem empfehlen, der sich im Alltagsstress gefangen sieht und sich immer wieder selbst darin verliert: Geht raus! Schaut in die Natur, lasst euch fallen! Meditiert, spaziert, rennt, setzt euch hin, beobachtet, seid ganz bei euch und der Natur. Das kann hilfreicher sein als jede Therapie!
Verzeiht mir, oder überspringt diesen Teil einfach, wenn ich heute den Moralapostel, bzw. die Moralapostolin ;) spiele. Aber der Tag heute hat mir nochmal ganz klar vor Augen geführt, wie verrückt unsere westliche Welt eigentlich ist...und was für nichtige Dinge unser, oder zumindest mein Leben determinieren. Ich habe mich während unserer Ausflugs sehr tiefgehend mit Lush unterhalten. Wie gesagt, Lush kommt aus Indien, einem Land, in dem eine für uns unvorstellbar riesige Menge an Menschen lebt. Theoretisch hat Lush Glück, er kommt aus reicherem Hause in Indien und seine Eltern haben das dort auf dem Land noch übliche "Cast-System" (Leute werden in Klassen aufgeteilt nach soz. Status/ unterschiedliche Privilegien für Personen je nach Cast/ kein Kontakt zwischen Menschen verschiedener Casts) aufgegeben. Da es aber so viele Inder gibt, herrscht ein unglaubliches Konkurrenzdenken unter denjenigen, die etwas erreichen wollen. Ähnlich wie z.B. in China werden die Schüler unglaublich gedrillt, allerbeste Leistungen zu zeigen und nach Möglichkeit das Land zu verlassen, um im Ausland Karriere zu machen. Ich dachte, in Deutschland sei das Leistungsdenken schon verrückt. Aber wisst ihr, wie Lushs Alltag als Schüler und Student aussah? Seine Eltern meldeten ihn an 3 Privatschulen gleichzeitig an, um möglichst viel Bildung mitzunehmen. Seine erste Schule startete morgens um 4 Uhr, um vor der obligatorischen Schule schon Bildung mitzunehmen. Seine letzte Schule endete abends um 22 Uhr, um auch abends noch das volle Spektrum an Bildung mitzunehmen. Schüler, die in Indien etwas erreichen wollen, können pro Nacht max. 3 Stunden schlafen, um all die Bildung mitzunehmen. Der Preis ist nicht nur eine fehlende Kindheit und Jugend...Lush hat mir erzählt, er habe mit 60 anderen reicheren Schülern dieses System der 3 Schulen pro Tag durchlaufen. 11 von diesen jungen, eigentlich kerngesunden Menschen sind unter diesem Druck zusammengebrochen und GESTORBEN. Vor dem 18. Lebensjahr gestorben!! Vorher den Eltern sagen, man hält dem Druck nicht stand und muss die Schule abbrechen?! Das gibt es dort nicht, denn es zählt nur Leistung.
Lush hatte Glück...er war clever, konnte gut lernen und zählte zu den besten seines Landes. Wegen seines Ingenieurstudiums und fehlender Fachkräfte in den USA hat er eine Stelle hier bekommen. Und bei seiner ersten Stelle unfassbar viel Geld verdient.
Sein Resultat? Einsamkeit, Unglück, Depression, kein bisschen mehr Zufriedenheit als als kaum Geld verdienender Mensch. Lush hat perfekt ins System gepasst, er hat alles erreicht, wovon viele Inder nur träumen: Hohe Bildung, viel Geld, auswandern in das tolle Amerika. Doch als er da angekommen war, was die Gesellschaft als Idealbild ansah, war er leer und unglücklich, einsam und verloren. Was er tat? Lush zeigte mir Bilder, wie er sein Geld verbrannt hat. Er kündigte seinen Job, nahm sich Zeit für sich selbst, reiste, suchte sich Hilfe. Was hat das verändert in seinem Leben?
Er suchte sich danach einen anderen Job, bei dem er wesentlich weniger verdient, aber mehr Zeit zum Leben hat. Er hat Freude an seinem aktuellen Job, weniger Druck, er kann oft einen Tag frei nehmen, dadurch lange Wochenenden nehmen und verreisen und mit weniger Geld sehr glücklich leben.
Seine Familie und Menschen in seinem Land verachten ihn jedoch dafür. Er passt nicht mehr in das ach-so tolle Schema Leistung und Effektivität über alles. Für das System ist er ein "böser Ausbrecher". Auch wenn man Lushs Schmerz über die Missachtung seiner Familie spüren kann: Ich habe selten einen glücklicheren und lebenslustigeren Menschen getroffen, der jeden Augenblick so sehr genießt.
Warum ich euch von diesem Einzelschicksal erzähle? Mich hat es unglaublich bewegt und ich habe so viele Parallelen zu unserer deutschen Kultur erkannt. Klar, in Indien mag das Konkurrenzdenken noch viel stärker sein als bei uns. Aber geht es in unserem System nicht auch ständig um beste Noten, beste Leistungen und das meiste Geld? Wollen nicht viele von uns auch einfach die gesellschaftliche Anerkennung, wie viel Geld wir verdienen und wie brav fleißig wir viele Stunden arbeiten? Zeit zum Reisen, Entspannen, Leben, Zeit einander zuzuhören und vor allem sich selber zu hören, wie oft bleibt das in unserer Gesellschaft? Wie sehr hängen wir an materiellen Dingen, statt uns auf das Wesentliche zu fokussieren? Gott sei Dank sterben bei uns wenige nach Leistung strebende Menschen physisch durch den Druck des Systems. Aber wenn wir mal ehrlich zu uns sind, wie viele von uns funktionieren einfach nur im System und sind dabei innerlich tot?
Lush hat mir die Challenge auferlegt, selbst einmal wenige Dollar zu verbrennen, einfach um loszulassen. Ich war schockiert über mich selbst, wie schwer mir das fiel und wie sehr ich selbst an materialistischen Nichtigkeiten hänge. Dabei habe ich heute in der Natur wieder einmal spüren dürfen, was eigentlich glücklich macht und was wir eigentlich sind. Mir ist heute klarer denn je geworden: Es gibt einige Dinge, die ich verändern möchte. Klar, es ist unglaublich hart, gegen das gesellschaftliche Idealbild zu wirken und einen alternativen Weg zu gehen. Aber ich bin mir sicher, es ist das mehr als wert sich darin zu üben!
Genug weltverändernder Input für heute ;)