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Überwintern auf Madeira oder Homeoffice im Frühling

Veröffentlicht: 27.02.2021

Die ersten Menschen, die wir nach einem „Bom Dia“ auf Englisch nach dem Weg fragen, sind Deutsche. Sie ermahnen uns, unsere Masken auch auf der Straße anzuziehen. Wenn wir ohne erwischt werden, koste das 500 Euro. Wir unterhalten uns kurz. Wie lange wir denn blieben, werden wir gefragt. Fünf Wochen haben wir geplant, wir wollen hier quasi überwintern.  Und wie lange bleiben Sie? Nein sagt die Frau, wir sind hier nicht im Urlaub, wir wohnen hier seit drei Jahren. Wir sind neugierig, wie es ihnen denn damit so gehe. Die Antwort:

„Noch einmal würden wir das nicht machen.“

Oha! Was sich dahinter wohl für Dramen verstecken? Zuhause weg, weil es hier im Urlaub so schön war. Und jetzt ist hier Alltag  und der ist offenbar nicht so prickelnd wie sie es sich gedacht und vielleicht drei Wochen geprobt haben. Oder vielleicht drei Jahre lang jeweils drei Wochen. Wir vertiefen das Thema nicht. Es regnet furchtbar und wir haben keinen Schirm. Den kaufen wir jetzt und fliehen in unser Appartement. Schließlich befinden wir uns noch in Quarantäne.

Am Flughafen in Funchal waren wir mit unserer Online-Anmeldung direkt auf eine Corona-Teststrecke geleitet worden. Innerhalb von 30 Minuten waren wir durch, hatten einen PCR-Test gemacht und unser Taxi geentert. Das wurde nur wegen der Quarantäne gebucht, sonst sind wir Flughafen-Bus-Sparbrötchen. Wir kommen gut in unserer Bleibe an, aber niemand kontrolliert unsere Quarantäne bis zum Testergebnis. Ist auch nicht so schlimm. Wir kriegen schon acht Stunden später um 5.00 Uhr in der Nacht eine E-Mail: Negativ.

Arcadas Cozy Apartement

Wir wohnen im 6. Stock und beim ersten Eintreten ca. 2 Stunden vor unserer Auswanderer-Begegnung waren wir schlicht begeistert. „Wow, das sieht ja tatsächlich aus wie in der Booking.com-Anzeige.“ Alles ist hell, auf den ersten Blick modern und recht gefällig eingerichtet und wahnsinnig geräumig: 70 qm auf zwei Zimmer, zuhause haben wir grade mal 45qm. Dann noch drei Balkone und wir brauchen uns nicht den Hals verrenken, um das Meer zu sehen. Dann gibt es noch Kuchen, Kekse und ein kleine Flasche, na was schon, Madeira-Wein. Hallo!? Volltreffer!

Jetzt kommen wir zurück und unsere Bewertungen werden nüchterner. Auf einem der Balkons stehen grade einmal zwei uralte Monoblock-Stühle, von denen einer nicht mehr zu benutzen ist. Es gibt zwei Töpfe und eine Pfanne, das Geschirr ist zusammengewürfelt. Alles sieht so aus, als hätten wir es schon 1972 entsorgt. Die Möbel sind auf den zweiten Blick eher mittel.

Wir bleiben aber unterm Strich positiv gestimmt und das hält unsere ganze Urlaubszeit an. Wir haben schon wesentlich schlimmeres erlebt und dabei wesentlich mehr als 38 Euro pro Tag gezahlt. Unsere Bleibe stellt sich über fünf Wochen als praktische, echte zweite Heimat heraus, in der wir uns durchweg gut fühlen und sehr gut schlafen, weil es, wohl auch wegen der Ausgangssperre nachts sehr ruhig ist. Unser Aufenthalt hier ist auch eine Lehrstunde darüber, wie wenig Sachen wir eigentlich wirklich brauchen um gut zu leben. Naja, relativ wenige Sachen.

Wichtig für unser Wohlbefinden über ein solche lange Zeit ist (wir geben es zu), dass wir einen guten stabilen Internetanschluss und einen modernen Fernseher haben, mit dem wir über die deutschen Mediatheken unsere Nachrichtensendungen streamen und Netflix gucken können. Dazu kommt, dass wir von der Verwalterin und vom Besitzer gut betreut werden und einmal in der Woche zwei gute Geister kommen, die sauber machen, den Abfluss durchpusten, die Waschmaschine erklären und sich weigern, Trinkgeld anzunehmen.

Home sweet Home

Was gehört eigentlich dazu, sich irgendwo zuhause zu fühlen? Der Internetanschluss ist da schon wichtig, auch für andere, wie wir bald erfahren. Wir treffen einige Deutsche, die hier tatsächlich im „Homeoffice“ arbeiten. Drei Wochen später macht Spiegel-Online sogar einen Trend daraus.

Zum Heimatgefühl gehört das Wissen, wo es lang geht. Da heißt es Nägel mit Köpfen zu machen. Wir zum Beispiel haben auf Initiative von Gudrun eine Monatskarte für den ÖPNV mit Lichtbild. Eben ganz wie zuhause. Sie gilt für das Stadtgebiet Funchal, zu dem Sao Martino, der Stadtteil in dem wir residieren gehört. Bis zur Innenstadt sind es drei Kilometer und es geht ständig aufwärts, auch mal wieder abwärts, aber dann wieder sofort aufwärts. Wir müssen täglich in die Innenstadt, weil alle Busverbindungen zu unseren Wanderstrecken hier von einem der Busbahnhöfe in der Nähe der Markthalle losgehen.

Funchal ist aber auch ohne Programm eine Attraktion. Eine freundliche, sehr schöne Stadt mit vielen kleinen Parks. Überall wachsen schon Anfang Januar Pflanzen, die wir nur aus der Grünabteilung von Ikea kennen. Innerhalb unserer fünf Wochen entwickeln sich überall unglaubliche Blütenteppiche. Als Bewohner unserer Hauptstadt fällt uns auf, dass praktisch ständig überall gefegt, geputzt und zurückgeschnitten wird. Das trifft auf die ganze Insel zu, so als wäre 50% der Bevölkerung damit beschäftigt, alles in Schuss zu halten, während bei uns scheinbar 50% damit beschäftigt sind, alles zu vermüllen und die anderen 50% sich darum nicht kümmern.

In den Küstenregionen, vor allem im Süden wird jede Ecke, jede halbwegs grade Fläche entweder bebaut oder beackert. Es gibt große Anpflanzungen von Bananen und Zuckerrohr. Jedes handtuchgroße Stück Erde wird genutzt, um Gemüse und Obst anzubauen. In den Supermärkten gibt es selten etwas von der Insel zu kaufen, das meiste wird importiert. Das Angebot ist genauso groß und vielfältig wie in jedem europäischen Land. Das scheinbare Naturparadies hat bestimmt eine bescheidene Umweltbilanz.

Dabei ist fast alles genauso preisgünstig wie in Deutschland und deutlich billiger als zum Beispiel in Groß-Britannien oder Frankreich. Als Langzeit-Selbstversorger können wir hier gut und preiswert leben. Dementsprechend gibt es viele Appartementhäuser für Selbstversorger, viel mehr als im Moment gebraucht werden. Corona reißt riesige Lücken in die Auslastung und in jeder Straße gibt es Lehrstände bei Restaurants und Geschäften. Wir können uns leicht vorstellen, was das für das Leben der Menschen hier bedeutet. Eben keinen Urlaub, sondern Kampf ums Überleben, während wir froh sind, dass hier nicht der gewünschte Trubel herrscht.

Gorillas im Nebel

So dicht besiedelt die Küstenregion ist, so einsam kann es im Landesinneren werden, wie wir auf unseren Wanderungen feststellen. Unsere Wanderstrecken sind die Levadas. Das sind Bewässerungsrinnen, die seit dem 17. Jahrhundert dafür sorgen, dass in den Bergen reichlich vorhandenes Wasser auf die Felder an der Küste verteilt wird. Die Rinnen führen hunderte von Kilometer weit praktisch waagerecht um die Berge herum und werden immer von einem kleinen Weg begleitet. Eigentlich sind diese Wege für diejenigen da, die die Gräben in Ordnung halten. Für uns sind sie ideal, weil praktisch keine Steigungen zu bewältigen sind. Alle Einstiege, bis auf eine Ausnahme, erreichen wir mit dem öffentlichen Bussystem.

Unsere Wanderungen beginnen meistens inmitten von Städten und kleinen Orten. Wir gehen durch Felder und kleine Gärten, treffen hunderte Katzen und werden von Hunden angebellt, von Ziegen freundlich begrüßt. Männer und Frauen bepackt mit Einkäufen oder mit Ackergeräten begegnen uns.

Plötzlich ist das alles verschwunden und wir finden uns einem engen, einsamen Tal wieder, balancieren auf Felsenkanten, an denen das Wasser herunterläuft und durchqueren gruselige enge Tunnels. Wir sind umgeben von üppigen Grün und subtropischen Blumen, wir könnten uns auch in einem Dokumentarfilm über Ruanda befinden. Andere Touristen begegnen uns selten, aber das liegt offenbar an Corona. Wir treffen erfahrene Fans der Insel aus Quedlinburg in Sachsen-Anhalt. Die berichten uns, dass hier im Normalfall einige Touren total überlaufen sind und das Funchal auch eine Partyhochburg ist. Manche Wanderungen machen auch sie in diesem Jahr zum ersten Mal, weil sie bisher immer Massenaufläufen aus dem Weg gegangen sind.

Wir führen ein ruhiges zurückgezogenes Leben und haben nur wenig Kontakt. Dabei wird es einem leicht gemacht, ins Gespräch zu kommen. Wir werden überall sofort als Touristen erkannt und auf Englisch angesprochen, ohne dass wir uns groß um einen Einstieg auf Portugiesisch bemühen müssen. Am ersten Tag suchen wir nach einer Kaffeemaschine im Supermarkt Pingo Doce. Eine Verkäuferin zuckt zuerst bedauernd die Schultern. Dann wohl 30 Minuten später spürt sie uns in der Fleischabteilung auf und zeigt uns ihren Fund. Eine klassische Filtermaschine, die sie offensichtlich irgendwo „hinten“ gefunden hat. Wir sind verblüfft. Der Laden ist rappelvoll und es gibt viel zu tun und von dem Service hat sie nur Zusatzstress. Trotzdem hat sie sich auf die Jagd gemacht und das allerletzte Stück für uns gefunden. Wir kaufen es und es gehört jetzt zur Ferienwohnung.

Ähnliches passiert uns mit einem Busfahrer. Ich frage nach einer bestimmten Adresse und habe den Eindruck, dass er mich nicht versteht und eher genervt ist. Wir steigen irgendwo aus und gucken blöd herum. Er spricht uns dann an und empfiehlt uns einen alternativen Wanderweg. Wir gehen diesen Weg und es wird noch ein schöner Nachmittag. Am nächsten Tag werden wir beim Tomatenkaufen in der Stadt angesprochen. Es ist der Busfahrer. Er fragt, ob wir den Weg gegangen wären und wie es denn so war.

Erziehungsmaßnahmen

Eine andere Begegnung war am Anfang nicht so angenehm. Wir warten auf den Bus zu einer Wanderung. Es sitzen ca. 20 Menschen mit Einkauftaschen herum und warten mit uns. Der Bus kommt und die Tür öffnet sich unmittelbar vor Gudrun. Sie steigt als erste ein und sichert einen Platz, ich bin ein wenig abgehängt und einige der Einkäuferinnen gehen vor mir rein. Als ich den Bus endlich betrete, herrscht schlechte Stimmung. Ein alter Mann eröffnet auf Englisch das Gespräch. Hier würde man sich benehmen, hier hätte man eine Erziehung. Seine Frau nickt eifrig und bestätigt das auch auf Englisch. Offenbar waren Gudrun und auch ich zu forsch und hätten alle Wartenden erst einmal vorlassen müssen. Gudrun schwenkt sofort ein und entschuldigt sich, wir sagen beide, wir würden das nicht anderes kennen und bedauern. „Disculpa!“ krame ich aus meiner Erinnerung.

Darauf ändert sich schlagartig das Klima. Wir steigen zusammen mit dem Paar an der Endhaltestelle aus. Sie fragt, wo wir hin wollen. Wir erklären es. Oh, da hätten wir aber zwei Stationen vorher raus gemusst. Sie geht ein Stück mit uns und erzählt, dass sie 40 Jahre in England gelebt hätte. Sie zeigt uns ihr Haus und ihren BMW. Dann zeigt sie, wo wir lang müssen. Wir verabschieden uns und gehen los. Unterwegs werden wir von weit oben lautstark eingewiesen, bis wir den Einstieg in die Levada gefunden haben.

Wir sind überrascht, wie schnell die fünf Wochen vorbei gehen. Es lebt sich gut hier und wir fühlen uns sicher. Überall wird ständig Fieber gemessen, alle tragen überall Maske. Es gilt eine Ausgangssperre zwischen 19 Uhr und 5 Uhr, am Wochenende ist schon eine Stunde früher Schluss. Die letzten zwei Wochen allerding kommt dann eine leichte Panik auf, wie sich unsere Rückreise gestaltet. Wird easyjet den Flug durchführen? Wenn ja, wie kommt man an Bord? Müssen wir getestet werden? Wenn ja wo? Was für Tests werden akzeptiert?

Letztlich ist alles ganz einfach. Für 20 Euro lassen in der Innenstadt einen Antigen-Test machen. Das Ergebnis haben wir in 20 Minuten. Am Flughafen wird das Ergebnis akzeptiert und wir gehen an Bord. In Deutschland gibt es dann eine Ausweiskontrolle und wir müssen noch einmal den Test zeigen und die Bestätigung, dass wir uns per Internet zuhause angemeldet haben. Wir gehen raus und entern den Bus X7 Richtung Heimat. Über den ganzen Stress haben wir erst jetzt bemerkt, dass es hier um 30 Grad kälter ist. Daheim in einer neuen diesmal 10tägigen Quarantäne.

Ein Fazit? Naja, wir sind nicht so euphorisiert, dass wir für immer auf Madeira wohnen wollen. Aber, für den Fall, dass wir irgendwann noch einmal das Gefühl haben, wir müssen hier für ein paar Wochen raus ohne uns groß umzustellen und wir wollen es dabei warm und schön haben, für diesen Fall haben wir alles auf Wiedervorlage gelegt.

Und wir gucken immer noch täglich die Bilder. Auf unserem Esstisch steht eine Calla und die Blüte öffnet sich an jedem Tag ein kleines Stück.


Wer ein Kurzfasssung in Bewegtbildern sehen möchte

https://vimeo.com/513451705


Als Wanderführer haben wir benutzt:

Wanderführer Madeira, Michael Müller Verlag mit den entsprechenden GPS-Tracks


Empfehlenswerte APPs:

Movit

Here we are (weil man Offline-Karten runterladen kann)


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