Veröffentlicht: 04.07.2021
Habe nun, ach! Philosophie, Juristerei und Medizin, Und leider auch Theologie Durchaus studiert, mit heißem Bemühn…
Nun macht sich unser Studiosus nach 21 Semestern in Berlin wieder auf den Heimweg, um den väterlichen Fleischverarbeitungsbetrieb in Niedersachsen zu übernehmen oder um Oberbürgermeister einer Universitätsstadt in Baden-Württemberg zu werden. Hurtig den ganzen Plunder aus dem WG-Zimmer auf die Straße gestellt, ein selbstgemaltes Herz mit der Aufschrift „zu verschenken“ drangeklebt und ab geht es mit leichtem Gepäck. Auf dem Weg zu U-Bahn wird es unserem Dr. Faust weh ums Herz. „War doch eine schöne Zeit. Hab ja nicht ausschließlich mit heißem Bemühn studiert, sondern durchaus auch gefeiert. Wobei, die Stadt hat ja unzweifelhaft auch ihre Schattenseiten, z. B. den ganzen Müll überall, den werde ich nicht vermissen.“
Diese Geschichte ist natürlich frei erfunden, beruht aber auf wahren Begebenheiten. Wie sonst wäre es zu erklären, dass Berlin auch die Hauptstadt der kreativen, bzw. caritativen Müllentsorgung ist? Hier wurde der Geschenkmüll erdacht und zur Perfektion entwickelt. Die Bandbreite reicht von bezaubernden kleinen Arrangements von Büchern und Nippes in passenden Kartons bis hin zu unordentlichen Stapeln versiffter Matratzen. Das Verschenken hat mittlerweile einen so festen Platz im Bewusstsein der Bewohnerinnen und Bewohner eingenommen, dass viele schon auf die Hinweisschilder „Zu verschenken“ verzichten. Ist eh klar, dass der Plunder zur freien Verfügung steht und eigentlich gar nicht für die Müllabfuhr gedacht ist. Die mischt sich erfahrungsgemäß erst ein, wenn Monate vergangen sind, in denen die Kostbarkeiten die nötige Reife erreicht und durch hilfsbereite Nachbarn den doppelten Umfang angenommen haben.
Aber sehen wir doch auch die Vorteile. In Wirklichkeit haben wir hier so etwas wie eine öffentliche Daseinsvorsorge in Privathand. Sollte ein grausames Schicksal dich vollständig nackt und mittellos irgendwo in Neukölln, Kreuzberg, Friedrichshain oder im Wedding aussetzen, ist das nicht das Ende der Welt. Dass du vorerst nackt durch die Gegend läufst, regt in Berlin niemanden auf. Schon bald wirst du sowieso deine Blößen bedecken können. Unter den Glasdächern von Bushaltestellen oder auf Fensterbänken finden sich oft Kartons mit Klamotten. Wir beide zum Beispiel haben uns für die Sommersaison 2020 fast vollständig an der Bushaltestelle Franz-Körner-Straße der 171 ausgestattet. Für ca. 3 Wochen gab es alle zwei Tage frisch gewaschene und liebevoll gefaltete Markenklamotten auch noch in unseren Größen. An dieser Stelle vielen Dank noch mal.
Hunger? Kein Problem, wenn es noch früh am Tag ist. Dann sind Parks und Grünstreifen noch gut mit Pfandflaschen, vor allen Dingen mit begehrtem 25er Blech und Plastik bestückt. Die nötigen Taschen zum Sammeln fliegen gerne in der Umgebung von türkischen Gemüseläden herum. Oft wird das Leergut auch in handlichen Tüten bereitgestellt, Pfand-Charity sozusagen. Fünfzehn Behälter der A-Klasse reichen und ab geht’s zum nächsten Kaufland. Der hat ab 7.00 Uhr auf und dort gibt es die duldsamsten Pfandautomaten. Der Erlös reicht bei „Thoben“ für zwei belegt Brötchen von Gestern und einen Kaffee.
Ein wenig müde? In den Seitenstraßen wirst Du ohne weiteres passende Sofas oder Matratzen finden. Eine kurze Geruchsprobe trennt Spreu von Weizen, will sagen zeigt an, zeigt ob das Möbel erst gestern Abend "verschenkt" wurde oder ob es bereits mehrere Stufen der Fäulnis und der Verschmutzung hinter sich hat. Du liest gerne etwas vor dem Einschlafen? Natürlich wirft niemand Bücher einfach weg. Sie finden sich liebe voll geschützt in ausgedienten Telefonzellen oder Stromkästen. Jetzt hast Du die nötige Bettschwere und kannst Dein Buch auf einem gefundenen Nachtschränkchen ablegen.
Du hast uns bisher verschwiegen, dass Du Kinder bei deinem Abenteuer dabei hast? Das ist ja überhaupt kein Problem. Für alle Altersstufen finden sich Kinderwagen, Buggys, Lauflerngeräte, Dreiräder, Zweiräder, Skateboards, Fahrrdkindersitze, Wickelkommoden, Kinderbetten und Wiegen. Die lieben Kleinen werden ja so schnell groß und die nächste Größe muss her. Ganze Schrankwände, zerlegt oder ganz, warten auf ein neues Leben.
Das hilft aber alles nur, solange das Wetter mitmacht und du kein Dach über dem Kopf brauchst. Für die Suche nach einer Wohnung brauchst du einen fahrbaren Untersatz, vielleicht ein Fahrrad? Überall finden sich Exemplare in den verschiedensten Stadien der Ausschlachtung. Durchaus gebrauchsfähige vollständige Exemplare warten unter dichtem mehrjährigem Bewuchs darauf, wachgeküsst, bzw. vom Schloss befreit und aufgepumpt zu werden. Bei manchen fehlt nur der Sattel, andere bestehen nur noch aus dem gut erhaltenen Rahmen. Es gibt also ein vollständiges Ersatzteillager in allen Qualitätsstufen.
Leider vollständig nutzlos sind die vor zwei Jahren eingeführten E-Scooter, weil Du ja elektronisches Geld dafür brauchst. Sie stehen gerne mitten auf dem Gehweg, als wären die Nutzer nach Ende der Mietfrist vom Anbieter konsequenterweise ins All gesogen worden. Besonders schön wenn auch nutzlos sind die Leihfahrräder, die nach einer Saison im Landwehrkanal geborgen wurden und aussehen wie urzeitliche, muschelbesetzte Artefakte.
Stopp! Spätestens jetzt ist der Witz zu Ende. Natürlich ist der Müll nur zu einem sehr kleinen Teil gelebte Solidarität. Zum weitaus überwiegenden Teil ist sie eine wuchernde ekelhafte Pest, verursacht von vollkommen verblödeten rücksichtslosen Arschgeigen, die auf offenbar absolut schmerzfreie in kollektiver Unzuständigkeit befangene Behörden und Volksvertreter treffen. Und natürlich nützt der brauchbarste Sperrmüll überhaupt nichts, wenn man keine bezahlbare Wohnung findet, in die man den Kram reinstellen kann. Berlin verliert grade das, was diese tolle Stadt bisher von Paris, London oder New York unterschieden hat, nämlich dass auch Menschen mit Einkommen unter 100.000 Euro jährlich hier wohnen können. (Jawoll, eine(r) von uns hat für die Enteignung von Deutsche Wohnen und Co unterschrieben).
Aber bevor wie uns ins Koma pienzen, lasst uns ein wenig träumen. Diese goldenen Schuhe dort mitten auf der Straße. Wohin weisen die zierlichen Spitzen, welcher Weg lag an? Schwebte die Besitzerin glücklich jauchzend an der Hand ihres oder ihrer Liebsten barfuß in den Sonnenuntergang, nachdem sie das lästige Schuhwerk mit Schwung von sich getreten hatte , um künftig nur noch barfuß den Sand unter dem Pflaster zu spüren.
Wir hoffen das Beste lieber Leser, liebe Leserin.
P.S. Die abgebildete Jeansjacke lag eine Woche lang abwechselnd auf dem Boden und auf dem Stromkasten vor unserer Wohnung. Sie wurde nass und wieder trocken und wir wollten sie schon in unsere Mülltonne stopfen. Da, an einem Samstagnachmittag schwankt eine dürre Gestalt mit (das ist nicht ausgedacht!!) nacktem Oberkörper durch das Delfter Ufer, bleibt kurz stehen, hebt die Jacke auf, prüft sie fachmännisch, schüttelt den Staub, die Baumpollen raus und streift sie über und schwankt weiter Richtung Teltowkanal.
Ja, Berlin ist magisch.