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Veröffentlicht: 21.07.2021

Der Himmel unter Berlin

„Einfach unterirdisch“ titelt die TAZ über den neuen Berliner U-Bahnhof Museumsinsel. Der Haltepunkt der U 5 liegt unter gefühlt 80% aller Sehenswürdigkeiten von Berlin. Da kam „Karo einfach“ nicht in Frage und der Schweizer Stararchitekt Max Dudler wurde engagiert. Er ließ sich von Karl Friedrich Schinkel und dessen Ausstattung einer Aufführung der Zauberflöte von 1816 inspirieren. Die gewölbte Decke wurde zu einem tiefblauen Nachthimmel mit genau 6662 LEDs als Lichtdouble für die Sterne über Berlin. Der Bauplatz im Schlick unter der Spree, musste mit einer gigantischen Tiefkühlanlage auf 37 Grad unter null eigefroren werden, damit überhaupt ausgeschachtet werden konnte. Das Ganze hat wohl über 150 Millionen Euro gekostet, also ca. ein Viertel Stadtschloss/Humboldtforum.

Wir finden den Bahnhof sehr schön und zweckmäßig wie die beiden anderen Stationen des neuen Teilstücks der U5 Rotes Rathaus und Unter den Linden auch. Überhaupt ist die ganze Linie ein Gewinn, nicht zuletzt, weil der Hauptbahnhof endlich einen U-Bahn-Anschluss zur kulturellen Mitte der Stadt hat. Viele Besucher werden sich bei Kurzbesuchen überwiegend auf dieser Linie bewegen und damit für die Schokoladenseiten der Stadt eine unterirdische Entsprechung vorfinden. Der Tagesspiegel meint: „Berlins U-Bahn-Landschaft wird so durch die neue Linie noch abwechslungsreicher: Viele Bahnhöfe stehen unter Denkmalschutz, etwa die Anfang des 20. Jahrhunderts entstandenen Stationen von Alfred Grenander und Wilhelm Leitgebel oder die Bahnhöfe an U6 und U7 von Rainer Gerhard Rümmler, die ab 1960 entstanden und bis zum Pop-Art- Stil reichen.“

Abwechslungsreich

Abwechslungsreich ist auch der bauliche und hygienische Zustand der restlichen 172 Stationen. Da gibt es eine kleine S-Klasse von rund 30 Bahnhöfen wie den am Wittenbergplatz. Die Station aus der Kaiserzeit am KDW wurde grade vollständig renoviert und historisierend mit wilhelminisch anmutenden Werbebotschaften verziert. Aus dieser Zeit gibt es einige schöne und auch gut gepflegte Exemplare wie den Hohenzollernplatz oder die wunderschöne Brückenstation Rathaus Schöneberg der Linie 4.

Geht grade noch so

Rund 120 Bahnhöfe bilden in der Bandbreite von „ganz gut“ bis zu „geht grade so“ den Standard in Berlin. Das erreichte Niveau ist im Verhältnis zu Hamburg oder München eher bescheiden, vieles ist unglaublich schäbig und je nach Tageszeit dreckig. Dabei kämpfen täglich Reinigungskräfte auf allen Stationen gegen die Verwahrlosung. Dazu kann man einiges in dem Buch von Julia Friedrichs „Working Class: Warum wir Arbeit brauchen, von der wir leben können“ nachlesen.

Kommen wir zu unserer ganz subjektiven Top 3 der schlimmsten U-Bahnhöfe. Den ersten Platz belegt mit Abstand die Station Yorckstraße der U7. Schon die Zugänge sind eine Zumutung, sie fallen im Straßenbild kaum auf und sind für eine große Station sehr eng. Dabei ist es für die ständigen Bewohner der Stadt eine wichtige Umsteigestation für vier S-Bahnlinien und es drängeln sich ständig viele hastige Menschen in die Zugangslöcher.

Endzeit

In den Treppenhäusern und in den Gängen auf der ersten Ebene gibt es noch Wandverkleidungen und rudimentäre Beleuchtung. Alles ist so schäbig, dass man schnell weitergeht, um es hinter sich zu bringen. Aber ach! Das Schlimmste erwartet uns auf dem Bahnsteig. Die Beleuchtung ist noch einmal heruntergedimmt, das Restlicht wird fast vollständig von den grauen Wänden gefressen, denn alle Kacheln wurden entfernt. Hier könnte man einen Film drehen, der die Welt nach einem Atomschlag zeigt. Die Menschen haben sich tief unter der Erde zurückgezogen, um der Strahlung zu entgehen. Trotzdem sehen einige der hier anwesenden sehr verstrahlt aus, wie sie irgendwelchen Rauch von gefalteten Folien ziehen. Alle warten sehnsüchtig auf den Tag, an dem sie wieder auf die Erdoberfläche gehen können oder eine Bahn kommt und sie aus dem Elend befreit.

Der Zustand der Station ist auch in das Bewusstsein der BVG gelangt und es wird grade umgebaut. Wobei „grade“ die Situation nicht zutreffend beschreibt. Wir wohnen seit vier Jahren hier und kennen nur den geschilderten Zustand, sichtbar rührt sich nichts. Wahrscheinlich wird eine ganze Generation nie etwas anderes kennen lernen und bei der fast sprichwörtlichen Treue zum eigenen Kiez wird es Menschen geben, die glauben, dass U-Bahnhöfe nun mal so aussehen müssen.

Kachelfraß und Graffiti

Das wird besonders auf diejenigen zutreffen, die beruflich zum U-Bahnhof Grenzallee pendeln, unserer Heimatstation. Auch hier wurden schon vor fünf Jahren die grünen Kacheln entfernt und bis vor acht Wochen gab es keine sichtbare Bautätigkeit. Mittlerweile rührt sich wieder nichts mehr. Der Kachelfraß hat übrigens in mindestens zehn Stationen in der ganzen Stadt zugeschlagen, ohne dass dort darüber hinaus irgendetwas passiert. Es gibt bestimmt eine Erklärung dafür, die uns nur nicht mitgeteilt wird, weil sie zu bescheuert klingt. Die Wände am Bahnsteig Grenzallee wurden in ihrer kargen Nacktheit zur Pilgerstätte für Sprayer mit teilweise sehr schönen Ergebnissen. Wir rechnen fest damit, dass vielleicht in fünf Jahren, wenn wieder Kacheln geklebt werden sollen, ein weiteres bekanntes Berliner Phänomen auftritt. Zum Erhalt der künstlerisch, wertvollen Graffitis wird sich eine Initiative gründen, die weitere Bauvorschritte auf Jahre verhindert.

Obdach

Ein Allzeit-Klassiker ist der Haltepunkt „Schönleinstraße“ im Grenzgebiet von Neukölln und Kreuzberg. Er taucht jedes Jahr bei winterlichen Kälteeinbrüchen in der öffentlichen Diskussion auf, wenn wieder einmal gefordert wird, dass U-Bahnhöfe nachts für Obdachlose geöffnet bleiben sollten. Wir fragen uns, wird dies vorgeschlagen, weil bei dieser Station sowieso nichts mehr zu retten ist oder ist nichts mehr zu retten, weil sie schon so oft Nachtasyl war, ist? Wie viele andere U-Bahnhöfe auch fängt Schönleinstraße zweckentfremdend die Defizite der staatlichen Sorge für Obdachlose und Drogensüchtige ab. Die Menschen sind hier, weil sie nicht wissen, wohin sie sonst gehen sollen. Das haben sie mit uns „normalen“ Fahrgästen gemeinsam, weil wir ja auch auf die Orte angewiesen sind, um uns in der Stadt zu bewegen.

Das bringt uns zum Ausgangspunkt dieser Geschichte, dem Sternenhimmel unter Berlin. Wir haben die Hoffnung, dass jetzt nachdem die Höhepunkte der BVG-Architektur fertig sind, wieder Geld und Engagement für den großen Rest übrig bleibt. Barrierefreie, angstfreie und ekelfreie Zugänge für das beste Verkehrssystem in Europa, das wäre doch was. Kann auch „Karo einfach“ sein.


Hier noch einmal alle Links, für alle die weiter lesen wollen:

https://taz.de/U-Bahnhof-Museumsinsel-eroeffnet/!5782309/

https://www.tagesspiegel.de/berlin/ein-sternenhimmel-im-berliner-untergrund-so-sieht-der-neue-u-bahnhof-museumsinsel-aus/27391330.html

https://www.berliner-zeitung.de/wochenende/abrissbirne-berlin-die-schrecklichsten-berliner-u-bahnhoefe-li.165202

https://www.piper.de/buecher/working-class-isbn-978-3-8270-1426-9

https://www.redensarten-index.de/suche.php?suchbegriff=~~Karo%20einfach&suchspalte%5B%5D=rart_ou

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