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Traurige Tropen?

Veröffentlicht: 08.03.2022

Traurige Tropen, an den Titel des Buches von Claude Levi-Strauss musste ich in den vergangenen Tagen oft denken. Die griffige Alliteration, welche übrigens auch im französischen Original titelgeben war (Tristes Tropiques), hatte ich schon vor Jahren in meinen persönlichen Assoziationsfundus übernommen und das Werk des Ethnologen stand seit geraumer Zeit halbgelesen in meinem Bücherregal.

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Kolumbien vereinte zahlreiche Gegensätze, unbändige Lebensfreude und tiefe Melancholie. Besonders deutlich wurde mir das bei meiner Reise entlang der Karibikküste. Am Freitag ließ ich Cartagena hinter mir und kam in Santa Marta an. 

In Santa Martas Innenstadt herrschte Ausgelassenheit, ausgehfreudige Menschenmassen strömten in die Bars und Straßencafés. Gleichzeitig übertraf das Elend in den Seitengassen so einiges, was ich bisher erleben konnte. Obdachlosigkeit, Bettelei und der unverhohlene Konsum von Rausmitteln sorgten für ein ungutes Gefühl.

Kolumbien war Musik. Allenorts und jederzeit tönte es aus Friseursalons, Geschäften, Lautsprecherboxen am Strand, im Bus oder aus Hauseingängen. Lateinamerikanische Rhythmen waren im Alltag und im öffentlichen Raum allgegenwärtig, bei Jung und Alt. Die Musik vermittelte eine Stimmung zwischen Karneval und Sehnsucht. In den Tanzbars stimmte das Publikum textsicher ein und tanzte mit vollem Körpereinsatz. Als steifer Europäer stand ich daneben und wippte arhythmisch wie ein knorriger Baum im Wind.

Kolumbien war Stille, wenn die Musik erlosch, wenn Themen wie Politik und Gesellschaft, Bürgerkrieg und Kolonialzeit zur Sprache kamen. Cartagena war die Heimatstadt von Gabriel Garcia Marquez, auf den man dort besonders stolz war. Mit dem wunderbaren Roman "Hundert Jahre Einsamkeit" hatte der Literaturnobelpreisträger der kolumbianischen Sprachlosigkeit angesichts der wechselvollen Geschichte des Landes ein Denkmal gesetzt.

In Santa Marta erlebte ich beides, Ausgelassenheit und Schwermut, Hedonismus und menschliches Elend, beides im Takt von Salsa und Reggaeton. Während des Wochenendes unterhielt ich mich auch mit einigen Kolumbianern und Kolumbianerinnen. Sobald ich meine Gesprächspartner etwas besser kannte, fragte ich nach deren Perspektiven in Kolumbien. Die Antwort darauf lautete fast ausnahmslos: Ausreise, Migration in die USA oder nach Europa. - In Guatemala war es übrigens nicht anders.

Stolz auf die Heimat bei gleichzeitiger Perspektivlosigkeit in einem Land, das durch seine natürlichen Voraussetzungen eigentlich gesegnet war. Nach diesem Wochenende lauschte ich der Musik neu und blickte in die Gesichter der Menschen hier mit mehr Bedacht.

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