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¡Bailamos!

Veröffentlicht: 29.01.2019

Wenn ich tanze, dann tanze ich nicht auf dem Boden, sondern der Boden und ich tanzen gemeinsam.

Als ich während meines Studiums das Glück hatte, das erlebnisreiche Feld des Tanzens vertiefen zu können, hat es mich gepackt wie selten in meinem Studium. Ich habe alle Kurse belegt, die in diese Richtung angeboten wurden und habe meinen Körper, meine Wahrnehmung und meine Ausdrucksmöglichkeiten neu entdeckt und kennengelernt. In meinem letzten Semester konnten Kommilitonen und ich in eigener Verantwortung ein einwöchiges Tanzprojekt in Kooperation mit einer Marburger Schule planen und durchführen. Dies hat uns die Möglichkeit eröffnet einiges von dem, was wir am eigenen Leib erfahren haben, weiterzugeben. Unsere Motivationen und Ambitionen waren hoch, unser Erfahrungsschatz im Vermitteln klein. Für mich waren es sehr intensive und anstrengende Tage, in denen wir fünf Gruppenleiter teilweise bis spät am Abend unseren Wochenplan abänderten, individuelle Probleme einzelner Kinder zu lösen versuchten, immer wieder nach passenden Ideen und Übungen für unsere Lerngruppe suchten, Raumplanung neu organisierten und und und. Wir standen in dieser Zeit glaube ich alle unter Hochspannung. Doch vor all dem hat sich in meiner Erinnerung noch ein ganz anderes Gefühl abgelegt. Mit unterschiedlichsten Übungen zu Wahrnehmung, Vertrauen und Gestaltung konnten die Kinder letztlich spannende Gruppenchoreographien entwickeln, in denen sie den schulischen Allzeitbegleiter „Tisch“ neu entdeckten, bespielten, betanzten. Sie tanzten um den Tisch, auf dem Tisch, nutzten ihn als Mauer und als Auto, formten aus ihnen Sterne und Kreise, rollten sich über Tische, trommelten auf ihnen herum. Die abschließende Aufführung war ein buntes und für viele Zuschauer völlig unerwartetes Spektakel. Wohl die wenigsten Eltern und Freunde haben etwas derartiges erwartet, als sie sich zu einer „Tanzperformance“ aufmachten. Ich vermute, dass im Rahmen dieses Tanz-Projektes nicht nur bei einigen Kids so manche Gewohnheit und Grenze überschritten und neu definiert wurde. Wir können unsere Welt neu erspüren, wenn wir tanzen.

Mein Kopf rattert auf Hochtouren, als ich einen groben Plan der Woche und den Auftakt des ersten von zwei Tanz-Workshops vorbereite. Ich lese auf meinem Tablet Artikel aus Unizeiten (ja, damals), krame in meinen Erinnerungen der Seminare und Workshops, an denen ich teilgenommen habe, begehe den Ort und lasse mich so inspirieren. Ich bin wahnsinnig aufgeregt. Es wird der erste Tanz-Workshop sein, den ich unabhängig plane und durchführen werde. Und dann findet das Ganze noch auf dem südamerikanischen Boden in Bolivien statt, wo wahrscheinlich kein deutscher Sportstudent mit lockerer Hüfte mit dem Hüftschwung der Latinos mithalten kann. Und vor allem: Der Workshop ist ausschließlich auf Spanisch möglich. Eine Sprache, die ich erst seit Kurzem begonnen habe zu lernen. Was für ein Glück, dass Sinja bei all dem an meiner Seite sein wird. Und Sinja kennt mich mittlerweile gut genug, um das, was ich mich mit Händen und Füßen ausdrücken zu versuchen werde, einfach ins Spanische zu übersetzen.

Noch vor Beginn des ersten Workshops in Tiquipaya erhalten wir eine Liste. Auf dieser stehen 11 Namen, Jungs und Mädchen ungefähr gleich verteilt, Alter zwischen 12 und 16 Jahren. Wir freuen uns, dass auch so viele Jungs dabei sind. Dann hören wir, dass sich die Teilnehmer*innen keineswegs wie angedacht freiwillig in den Kurs eingetragen haben, sondern dies von den Mamas vorgenommen wurde. Die abgesprochene Idee war eigentlich, den Kindern in den jetzigen 2-monatigen Sommerferien eine Freizeitmöglichkeit anzubieten, an der sie Lust haben teilzunehmen. Das ging schon mal in die Hose. Als wir den Ort des Geschehens, den „Salon“, betraten hatten wir eine kleine Musikbox und unser Tablet dabei, des weiteren eine 2 Liter Wasserflasche, Luftballons und das vor Aufregung schon zerknitterte A4-Blatt, doppelseitig beschrieben mit meinen Ideen und Vorhaben für heute. Den Beginn des Workshops haben wir für 9 Uhr angesetzt, immerhin sind ja Ferien. Doch selbst um 9.20 Uhr war nur ein Bruchteil der Teilnehmer*innen anwesend. Sinja beruhigte mich, sie wusste wie der Hase läuft und schickte kurzerhand ein paar der Anwesenden zu den Häusern, um die Fehlenden einzusammeln. Dieses Ritual sollte sich dann auch jeden Tag wiederholen. So saßen wir dann mit kleiner Verspätung (in Bolivien spricht man auch gerne von der „bolivianischen Stunde“, die als allgemein akzeptierte Norm für Verspätungen gilt) in einem zerstreuten Kreis mit ordentlich Abstand, aufgeteilt in Jungs und Mädchen und sammelten persönliche Vorstellungen davon, was „Tanzen“ denn überhaupt ist. Tanzen ist hier neben Theatern und Fernsehen vor allem in traditionellen Festen verankert. Wir stellten somit gemeinsam fest, dass in Bolivien an vielen Feiertagen im Jahr getanzt wird, anlässlich von Geburtstagen, Hochzeiten und auch der Karneval wird hier in traditioneller Kleidung mit ausdrucksstarkem Tanz gefeiert. Die für mich so typisch südamerikanisch klingenden Tänze wie Salsa, Bachata oder Rumba sind hier in Bolivien nicht allzu verbreitet. Nach dieser Grundlagenforschung pusteten wir alle unsere bunten Luftballons auf, die ersten platzten, es herrschte ausgelassene Stimmung. Zu Musik bespielten wir mit Händen, Füßen, Köpfen, Schultern und Brust die Ballons, schlugen sie durch die Lüfte, hielten sie vorsichtig und mit kleinen Bewegungen am Körper, alleine, mit Partner*innen oder im Zusammenspiel mit den Deckenventilatoren, stehend, sitzend, liegend und wieder hoch. Einige gehen in diesen Übungen auf, andere tun sich schwer. Klar, hat ja zugegebenermaßen auch ein bisschen was von Kindergeburtstag. Wichtig war es uns jedoch, erstmal in Bewegung zu kommen, möglichst losgelöst von gewohnten Vorstellungen und mit offenen Sinnen. Im Anschluss daran, sollten nun die Hälfte der Kids selber zu Luftballons werden, indem sie Bewegungseigenschaften annahmen, die sie zuvor an den Luftballons beobachten und erfahren konnten. Man merkte schnell: all das war völlig neu für die Kids. Im Kreis zusammen sitzen, mit Aufmerksamkeit, Konzentration und Achtsamkeit Luftballons bespielen, Reflexionsrunden und sich dann noch selber zum Affen bzw. Luftballon machen. Wie schwer der Einstieg in ein Thema sein kann, das eventuell komplett mit Erwartungen der Teilnehmer*innen bricht, konnte ich bereits in dem Tanzprojekt in Marburg feststellen. Dort wie hier erwarteten die Kids im Groben, dass wir uns in Reihen aufstellen und ihnen eine Choreographie beigebracht würde. Stattdessen machten wir im Laufe der nächsten Tage Übungen wie den „Spiegel“, wo sich 2 Personen gegenüber sitzen und getragen von langsamer Musik der eine die Bewegungen der anderen haargenau zu spiegeln versucht. Wir klatschten Rhythmen auf und mit unserem gesamten Körper, turnten Akrobatik-Figuren, ließen uns mit geschlossenen durch den Raum führen, schauten uns bis spät in den Abend hinein auf den deutlichen Wunsch der Kids hin den Tanzfilm „Pina“ (Pina Bausch) an (der ganze 2 Stunden dauert!!) und hauten auf den Putz, indem wir zum Nummer 1 Hit „Taki Taki“ improvisierte Moves tanzten (hier ganz klassisch in Reih und Glied und als feurige Aufwärmung am Morgen). Die Idee hinter all dem war es, den Kindern Gelegenheiten zu bieten, in neue Perspektiven der Wahrnehmung für sich und andere einzutauchen, Grenzen von Bewegungen oder pubertärer Berührungshindernisse ein Stück weit zu überwinden und vielleicht sogar die Vorstellungen von Tanz und seinen (Ausdrucks-)Möglichkeiten zu erweitern.

Und auch mit der Sprache wurde ich lockerer. Bald merkte ich gar nicht mehr, dass hier alles auf Spanisch passierte. Nicht selten konnte ich aufgrund meiner gewonnenen sprachlichen Lockerheit auch zu allgemeiner Freude beitragen. So brachen z.B. alle in brüllendes Gelächter aus, wenn ich sagte: „Ahora con pajera“ womit ich ausdrücken wollte, „Jetzt mit Partner“. Dieser Versprecher hatte sich bei mir eingebrannt und so passierte es immer wieder, dass ich anstatt „Pareja“ – wie es richtig heißen würde - „Pajera“ sagte. Erst nach knapp einer Woche und etlichen Brüllern erfuhren Sinja und ich, dass Pajera „Wichser“ heißt. Neben diesem Schmankerl sorgten Sinja und ich zudem mit einem Wangenkuss oder bereits mit einer kleinen Umarmung für allgemeine Erregung, sodass ein lauter Chor erklang „Tiieeneeeeees noviaaaaaa“, was so viel heißt wie „Du hast ‚ne Freundiiiiiiiin“.

Die Gruppe wuchs uns schnell ans Herz, wie unterschiedlich sie doch alle waren. Hier gab es John, der Wissen liebt und Lexika liest, leicht geduckte Haltung, fast immer in Bewegung und ein feines Gespür für seinen Körper. Sein Entdeckergeist lässt ihn durch die Welt fliegen und wenn er froh ist versucht er einen Flick-Flack. Wird er innerlich auf eine wohlwollende und zugleich herausfordernde Art berührt, ist sein Gesichtsausdruck unwiderstehlich, eine Mischung aus zerknautscht und seinem verschmitzten Lächeln, das er zu verstecken versucht. Dann ist dort David mit stolzer Brust, der vor Stärke strotzt, körperlich wie verbal. Seine Ausstrahlung lässt andere ihm folgen. Mit geschlossenen Augen will er sich nicht führen lassen. Dann sammelt er seinen großen Mut und lässt es doch zu, aber nur mit nach vorn erhobenen, schützenden Fäusten. Man hatte bei David das Gefühl er stehe in einem ständigen Kräftemessen oder gar Machtkampf mit anderen. Kreative Prozesse waren für ihn augenscheinlich eine Bedrohung und nicht selten unterbrach er sie und zog interessante Bewegungen schnell ins Lächerliche. Kamilla ist ein großgewachsenes Mädchen, die häufig ihr Lachen versteckt und Körperkontakt tunlichst meidet. Zuhause mit ihrer Familie blüht sie plötzlich auf und scheint ihre Schüchternheit zu verlieren. Zwischenergebnisse jedoch vor der Gruppe zu zeigen fällt ihr anfangs sehr schwer, sie kaut auf ihren Fingernägeln, wirkte wie weggetreten und stand kurz vor den Tränen. Wie sehr haben wir uns gefreut, als sie sich bei der Abschlussaufführung nicht nur auf die Bühne getraut, sondern Leuchtturm für ihre Gruppe sein konnte. Karens Frohnatur, Kreativität und Einfach-machen-Mentalität beflügelte immer wieder die allgemeine Stimmung. Sie kletterte wie selbstverständlich mit akrobatischer Eleganz und einer guten Portion Mut auf meine Schultern und stand plötzlich in schwindelerregender Höhe. Wenn Oscar nach einem seiner zahlreichen humorvollen Sprüchen grinst, lacht sein ganzes Gesicht und man wird von seiner positiven Energie mitgerissen. Er kommt fast jeden Morgen als einer der ersten in den Raum und pflanzt sich mit Cap und seiner so angenehmen Selbstverständlichkeit neben mich auf einen Stuhl. Mich grinst ein herausforderndes Lächeln an. Er geht sechs Mal die Woche pumpen, präsentiert sich jedoch nicht als gestählter Muskel, sondern als verspielter, neugieriger, begeisterungsfähiger Junge, der eine beneidenswerte Unkompliziertheit an den Tag legen kann.

So begegnen uns im Workshop diese und viele weitere liebenswerte Wesen manchmal auf eindrucksvoll offene Weise. Die Performances unserer Abschlussaufführung sollen von den „Deseos 2019“ (Wünschen für das Jahr 2019) inspiriert werden. Als Vorbereitung sammeln die Kids Wünsche, die sie für das erst neu angebrochene Jahr haben. Sie entwickeln auf dieser Grundlage Texte, Geschichten, manche schmücken die Blätter mir Bildern. Mit ihrer Erlaubnis durften wir einen Einblick in diese intimen Offenbarungen erhalten und wurden deutlich daran erinnert, dass wir hier mit Kindern zusammenarbeiten, die zum Teil Schreckliches erlebt haben müssen. Umso mehr waren wir beeindruckt von ihrem Willen, ihrer Zugänglichkeit, ihrer Liebe.

Wir sahen die Kids am Nachmittag davor heimlich im Garten üben und als wir spürten, dass nicht nur wir, sondern auch die Kids auf die Aufführung hin fieberten, erfüllte uns ein warmes Glücksgefühl. Als der große Abend dann kam, machten sich alle viel Mühe, um auf der Bühne zu wirken: die Mädchen schminkten sich, machten sich aufwändig die Haare, die Jungs stimmten ihre Kleidung ab und überraschten uns mit Masken. Leider sprangen am Tag vor der Aufführung zwei Jungs ab, ein weiterer Junge kam bereits nach dem fünften Tag nicht wieder. Darüber hinaus haben wir einen Neuzugang aus dem Workshop ausschließen müssen, da er sich wiederholt verletzend und respektlos gegenüber anderen Teilnehmern geäußert und somit gegen unsere von der Gruppe festgelegten Regeln verstoßen hat. Insbesondere dieser Moment war für Sinja und mich ein besonders schwieriger und hat uns viele intensive Gespräche und Überlegungen bereitet. Natürlich hätten wir gerne komplett bis zum Schluss getanzt. Doch eine zentrale Regel lautete eben: Alles ist freiwillig.

Und was wir spürten war: Die Kids, die waren, wollten es. Wir probten den Durchlauf in einer Generalprobe, wir haben einen Scheinwerfer organisiert und bestimmt für 50 Zuschauer Sitzplätze. Der „Salon“ war kaum wieder zu erkennen und ähnelte nun mehr einem Theaterraum. Voller Vorfreude standen wir um die selbstgebackenen Kekse versammelt vor dem Eingang, in wenigen Minuten sollte die Aufführung beginnen… doch es waren gerade einmal eine Hand voll Zuschauer da. Ich merkte, wie in mir etwas Unbehagen aufstieg, als Sinja dazu aufrief diesmal die Zuschauer zusammen zu trommeln. Also schritten ein paar Kids und ich durch das Kinderdorf und trommelten rhythmisch auf einem Kochtopf und sangen die Leute herbei. Das funktionierte wunderbar und kurze Zeit später (zum Glück keine volle bolivianische Stunde) war die Bude voll: Familien, Freunde und Tias (=Tanten, da die Mamas leider genau an diesem Wochenende in der Gruppe in den Urlaub fuhren). Sinja und ich moderierten durch den Abend und kündigten immer voller Stolz die Gruppen an. Die erste Performance setzte einen fulminanten, kraftvollen Anfang, die zweite nahm einen mit leichten Füßen mit auf eine exotische Urlaubsreise wohingegen die letzte ganz nah, ruhiger und zugewandt mit einem Hauch Melancholie die Bühne bespielte. Zum Abschluss tanzten wir mit allen Teilnehmern inklusive Sinja und mir eine Choreographie zu „Taki Taki“, die ich aus Moves unserer Vorstellungsrunde an Tag 1 (Ich bin … in Verbindung mit einem Move) zusammengebastelt habe. Nach der Aufführung waren die Kids und wir vor lauter Adrenalin und Endorphine wie berauscht, richtig stolz und einfach glücklich, dass alles ohne Probleme geklappt hat.

Für das kommende Wochenende war ursprünglich ein Ausflug in den 4 Stunden entfernten Dschungel geplant. Dieses Vorhaben strichen wir jedoch spontan und machten uns ein richtig erholsames Wochenende mit Yoga, gutem Essen und einem Ausflug in einen nahegelegenen Nationalpark mit frisch-duftenden Eukalyptusbäumen hier vor Ort in Cocha.

Der zweite Tanz-Workshop war mit 5 Tagen etwas kürzer angesetzt als der erste, doch kein bisschen weniger intensiv und herausfordernd. Er fand im zweiten SOS-Kinderdorf statt, einer grünen Oase mitten im turbulenten Zentrum Cochabambas. Mit den Erfahrungen des letzten Kurses starteten wir mit 13 Kindern, die uns mit ihrer unerschöpflichen Power überraschten. Dieses hohe Maß an Energie durch eine Struktur zu bündeln, sollte für diese Woche eine unserer größten Herausforderungen werden. Wir merkten schnell, dass dieser bunte Haufen wesentlich mehr Durchsetzungsvermögen einforderte. Hier machte sich erneut – wie schön im ersten Kurs - die „Fokus-Übung“ nützlich: Zu Anfang jeder Einheit stellen sich alle Teilnehmer*innen auf eine von ihnen frei gewählte, dann aber beibehaltene Position. Die Füße schulterbreit und parallel, gerader Stand, das Brustbein leicht angehoben, Augen geradeaus. Aus dieser Position heraus aktivierten und dehnten wir unsere Körper und reisten mit geschlossenen Augen durch unsere Imagination mit angeleiteten Traumreisen. Das Wort „Fokus“ wurde so schnell zum geflügelten Wort und wenn ich um Aufmerksamkeit beten wollte nutzte ich diesen Anker und sagte lediglich dieses eine Wort. Das begriffen die meisten so gut, dass die Kids sich auf diese Weise bald gegenseitig z.B. um Ruhe aufforderten und häufig sogar die entsprechende Körperhaltung einnahmen. Neben der immer aktuellen Arbeit an Konzentration war in dieser Gruppe die Spanne zwischen sehr bewegungsfreudigen Jugendlichen und ihren absoluten Gegenteilen besonders groß. Für zwei Jungs war es kaum möglich, die Arme auf Schulterhöhe anzuheben, um die flugzeugähnlichen Bewegungen eines Partners zu imitieren. Die Körper wirkten schläfrig und schlaff. Dieses Problem spitzte sich dann noch zu als diese zwei Jungs eine Performance-Gruppe bildeten mit einem weiteren Jungen, der tanzte, als wäre er eine Sprungfeder, die sich mit enormer Kraft kurze Zeit aufspannt, um dann in wilden, kaum kontrollierbaren Bewegungen zu explodieren. Etwas verzweifelt kam dieser Junge mit den zwei anderen hinter sich trottend auf uns zu und berichtete, dass die anderen einfach nicht tanzen können. Er mache seine Bewegungen vor, doch sie schaffen es einfach nicht sie nachzuahmen. Sie waren kurz davor hinzuschmeißen und es war der Tag der Aufführung. Auch Sinja und ich waren mit der kuriosen Situation überfordert als mich plötzlich ein pädagogischer Geistesblitz durchfuhr: Feuer & Wasser! Ihr seid wie Feuer und Wasser, ein Kampf, das ungebändigte Feuer kämpft tobend gegen die liquide Bedrohung um sich herum! Die Kids fühlten sich sofort angesprochen, sie konnten so bei Ihren Bewegungen bleiben und sie einfach in ihrer eigenen Art und Weise ausführen, explodierende Sprungfeder oder eben Schluck-Wasser. In ihrer blauen bzw. schwarz-roten Kleidung und mit der passenden Dubstep-Musik entfalteten sie schließlich eine ganz eigene Wirkung auf der Bühne. Der Tag der Aufführung hatte es ganz schön in sich, von ursprünglich 4 Gruppen stand eine kurz davor aufzugeben, eine war zerstritten und gespalten und eine hatte das Gefühl keine Choreographie entwickelt zu haben. Es war ein Kampf und Zittern bis zur letzten Minute, jedoch haben es dann tatsächlichalle geschafft aufzutreten!! Die vierte Gruppe begeisterte uns mit ihrer Kreativität und ihrem Witz, als sie inspiriert durch den Wunsch „Pacha Mama“ (Mutter Erde) zu retten, bei ihrer Performance imaginäre Zigaretten ansteckten, diese dann voll Hass auf dem Boden mit Füßen ausdrückten, während zwei andere nach vorne traten und mit betroffenen Gesichtern die kleine, zerbrechliche Mutter Erde vom Boden aufzuheben und hoch in die Luft zu halten. Hiernach brachten sie die Zuschauer zum Kochen, indem sie zu einer Band wurden und leidenschaftlich Luft-Instrumente bespielten und die Sängerin in der Hand ihr Luft-Mikrofon mit dem Publikum flirtete. Die Mädchen einer anderen Gruppe waren so mutig und integrierten sogar Solos in ihre Performance, in denen sie jeder einzeln mit lautem Klatschen vom Publikum angefeuert wurden. Bei dieser Aufführung waren weit mehr Zuschauer als das letzte Mal dabei und sie waren wirklich in mitreißend guter Laune. Als eine Solistin kam Jhovana nach vorne, ein talentiertes Mädchen, das aus ihrer ursprünglichen Gruppe herausgemobbt wurde, doch hier in diesem Moment nach ersten schüchternen Bewegungen getragen durch die Zuschauer in ein Strahlen ausbrach und voll aus sich heraustreten konnte. Am Ende tanzten wir wieder alle gemeinsam eine neu angepasste Gruppenchoreographie zu „Taki Taki“. Als Überraschung kamen dann noch die Mamas des Kinderdorfes Tiquipaya (erstes Tanzprojekt) auf die Bühne. Mit ihnen habe ich an einem Abend während dieser Woche eine Choreographie eingeübt, die sie unbedingt präsentieren wollten. Als jetzt auch die Mamasitas ihre Schultern im Takt schüttelten und ihre Popos kreisen ließen konnte sich keiner mehr halten. Die Kids, Sinja und ich sprangen nach den erneut schallenden Rufen des Publikums nach einer Zugabe noch ein weiteres Mal auf die Bühne und tanzten mit aller Power ein abschließendes „Taki Taki“. Und in all dem Überfluss der Gefühle strömten dann noch nach der Show zahlreiche Leute zu uns um mit Sinja und mir Fotos zu machen. Noch eins, jetzt nochmal alleine und mit bolivianischen Flaggen, die Nachfragen wollten nicht abklingen, mein Zahnpasta-Lächeln war schon fast eingefroren, als die Letzten zufrieden abzogen. Eine Minute nach diesem schwindelerregenden Höhenflug zu den Stars entdeckte Sinja, dass mein Hosenstall weit offen stand. Auf all diesen Fotos prangt also neben unserem breiten Grinsen ein mindestens ebenso breit geöffneter Hosenschlitz. Schön, sowas holt einen doch zum Glück wieder aufn Boden.

Sinja und ich sitzen noch am Abend nach der letzten Aufführung in einer Bar und reden über unsere Erfahrungen und was sie für uns bedeuten. Sinja stellt für sich ganz klar fest, dass die pädagogische Arbeit mit großen Gruppen Kinder und Jugendlicher nichts für sie ist. Sie sagte, dass es ihr schwer falle die Gruppe als Ganzes im Auge zu behalten, sich durchzusetzen und mehr Freude daran hat sich im kleinen Rahmen auf die Einzelnen einzulassen. Auch für mich war die - für die pädagogische Arbeit eigentlich überschaubare – Gruppengröße eine echte Herausforderung. Wir waren beide nach jedem Tag ziemlich geschafft. Dank gegenseitiger Unterstützung und zunehmender Erfahrung und Sicherheit merkte ich jedoch auch, dass ich an Routine, klaren Zielen und Sicherheit gewann. Ich war beeindruckt davon, was sich in den so unterschiedlichen Haltungen, Bewegungsweisen und Worten der Kinder alles Ausdruck verschafft. Das Feld der Körperarbeit/Körpertherapie durch z.B. Tanzen interessiert mich sehr und ich glaube, dass es wunderbare Möglichkeiten bietet, mit Kindern, Jugendlichen und auch Erwachsenen tiefgründig und mit einer guten Portion Spaß zu arbeiten. Und ich merke auch, dass ich hier noch ganz am Anfang stehe…

Als Sinja vor fünf Jahren hier in Cochabamba ihre Koffer gepackt hat und aus dem Kinderdorf abreiste hat sie diesen Ort und viele Menschen bereits tief in ihr Herz geschlossen. Nachdem Sinja erneut nach dieser langen Zeit, diesmal mit mir Gepäck, eintraf, den Duft wiedererkannte, in die freudigen Umarmungen der Kinder fiel, sie mir das Gelände zeigte und wir mit den Familien gemeinsam gegessen haben sagte sie: Das hier ist wie mein zweites Zuhause. Heute kann ich es besser verstehen. Auch in meinem Herz haben die Kinder, die Mamas, der Ort, die Umgebung, die Berge, ihr Schicksal einen Platz. Wir haben uns verbunden. Vielleicht werden wir von nun an in manchen Momenten gemeinsam tanzen, auch wenn wir bald wieder tausende Kilometer weit voneinander entfernt sein werden.

Antworten (1)

Yasmine
Ihr könnt sooo stolz auf euch sein! Freue mich schon, wenn Nini bei euch einen Tanzkurs belegen kann :)