Veröffentlicht: 15.01.2019
Jedes mal wenn wir umständlich das Vorhängeschloss zu dem „Casa de las abuelas“ Teil des Kinderdorfes in dem wir wohnen öffnen, kommt uns kläffend der Hund mit Halskrause entgegen. Dicht gefolgt von Claudia oder Ingrid, den Zwillingen unbekannten höheren Alters (sie sagten sie seien fünf Jahre alt), die immer noch in diesem ans Kinderdorf angegliederten Teil wohnen, da sie eine geistige Behinderung haben. Sie informieren uns immer mit den brandaktuellen News dieses kleinen Kosmos, z.B. weisen sie uns strahlend darauf hin, dass der Gärtner den Rasen frisch gemäht hat oder mit betrübt-verärgertem Gesichtsausdruck, dass der Hund Claudia zum Stürzen gebracht hat und sie sich den Arm aufgeratscht hat. Jedes mal beglückt von dieser so offenen treuherzigen Art betreten wir schließlich unsere kleine Wohnung und es schlägt uns dieser so typische leicht muffige Kinderdorfgeruch entgegen, der irgendwie einfach dazugehört.
Hier sind wir nun schon seit knapp drei Wochen. Im SOS Kinderdorf in Tiquipaya, einem Ort am Rande Cochabambas. Die recht untouristische Stadt hat gut 1,8 Mio. Einwohner und liegt etwa auf 2500m, gesäumt von imposanten bräunlichen Bergen. Das Kinderdorf besteht aus 14 Familien, die in schönen Doppelhaushälften in einer grünen Oase wohnen, die sich so sehr vom Lärm und den Abgasen dieser turbulenten Stadt abhebt. Jede Familie besteht aus einer „mama“, die sechs Tage die Woche mit 6 bis 10 Kindern zusammen wie in einer richtigen Familie lebt. An ihrem freien Tag kommen „tías“ (Tanten), ausgebildete Frauen die vielleicht ebenfalls eines Tages „mamas“ sein werden. Die Kinder sind aus unterschiedlichen Gründen im Kinderdorf, sei es weil sie ihre Eltern verloren haben oder diese sie aus anderen Umständen nicht bei sich haben können. Sie dürfen bei den Müttern selbstverständlich mit ihren leiblichen Geschwistern zusammenbleiben.
Ans Kinderdorf angegliedert ist die Mütter-Ausbildungsstätte, eine Kindertagesstätte sowie das Büro für die Sozialarbeiter und Psychologen, die mit den Familien arbeiten. Oft geht es etwas chaotisch zu, insgesamt hat man aber schon den Eindruck, dass das Kinderdorf extrem gut organisiert ist und über für bolivianische Verhältnisse sehr gute finanzielle Mittel verfügt. Dazu tragen die Unterstützung großer Firmen bei sowie die Patenschaften von Privatpersonen, von denen hier jedes Kind kurioserweise bis zu zehn Stück hat. Da zeigt uns dann ein Junge Briefe und Fotos von einer belgischen Familie und mir wird ganz anders, wenn ich den krassen Gegensatz der Situation dieses Kindes zu derer seiner Paten spüre. Und doch ist das Leben im Kinderdorf so alltäglich und selbstverständlich, dass die behutsamen Formulierungen im Brief der Familie, aus denen eine latente peinliche Berührtheit wegen des Unterschiedes spricht, bizarr wirken.
Vor fünf Jahren durfte ich schonmal ein halbes Jahr in diesem Kinderdorf verbringen. Damals habe ich mit den Kindern einen Zirkusworkshop veranstaltet, wir haben Weihnachtskekse gebacken, Englisch geübt und Armbänder geknüpft. Eine sehr intensive Zeit voller Erfahrungen. Zum einen überrollte mich fast täglich das Heimweh, zum anderen war ich so dankbar, diese Herzlichkeit und das so andere Leben erfahren zu dürfen. Ich war richtig aufgeregt, vor knapp drei Wochen wieder herzukommen und vieles so vorzufinden, wie ich es verlassen habe, Kinder wiederzuerkennen obwohl sie natürlich enorm gewachsen sind. Interessanterweise geht es mir jetzt, einige Jahre später, ähnlich wie damals: Ein intensives Heimweh auf der einen Seite und doch auch vertrautes Gefühl und Dankbarkeit hier schon einmal gelebt zu haben und wiederkommen zu dürfen.
Woran liegt diese traurige Stimmung, die heftige Sehnsucht nach Heimat wohl? Zum einen merke ich gerade auf Reisen immer wieder wie wohl ich mich zuhause in Marburg und Hannover fühle und wie wichtig mir Wurzeln, Freunde und Familie sind. Vielleicht ist es zum anderen auch diese besondere Traurigkeit hier, die aus so manchem Gesicht und Schicksal spricht, die sich in den Ecken der dämmerigen Räume verfängt und auch auf mir haften bleibt. Die Einfachheit und manchmal Perspektivlosigkeit, die sich über die Menschen hier legt. Und dann wieder diese so herzliche, warme und beglückende Art welche viele hier kennzeichnet. Wenn Kinder einfach auf mich zulaufen, rollend „Rrrrinja“ rufen (meinen Namen kriegen die hier irgendwie nicht auf die Kette), mich umarmen und fragen, wann wir wieder Kekse backen. Oder wenn Eli, eine Mutter und vor allem gute Freundin, Tränen in den Augen hat als ich sage, dass ich vor allem auch wegen ihr und den Kindern wiedergekommen bin. Ein Wechselbad der Gefühle.
Unser Start hier war etwas beschwerlich. Nach einer Nacht im Hostel, da wir früher als angekündigt ankamen, und völliger Euphorie wieder hier zu sein, Straßennamen und Cafés wiederzuerkennen und diese pulsierende Stadt aufs Neue zu entdecken, erging es uns eher schlecht. Ich habe mir nach einem Essensrausch so gründlich den Magen verdorben, dass ich mich einen Tag lang nicht mal richtig hinsetzen konnte, so übel war mir. Das zog sich dann leider über mehrere Tage inklusive Silvester hin, so dass wir in unserer Bude versauerten und Paul passiv krank und somit ebenfalls matschig wurde.
So gestaltete sich der Start ins neue Jahr ruhiger als gedacht. Um 19 Uhr, also 24 Uhr deutsche Zeit, tanzten wir auf unserer Terrasse ins neue Jahr und dachten an all unsere lieben Menschen, die in diesem Moment in Deutschland bestimmt sehr präsent waren. Das war total schön, euch in Gedanken so nah bei uns zu haben! Wir aßen anschließend mit Eli und ihrer Familie zu Abend und quatschten dann gemütlich, wobei die Kinder schon ins Bett gingen. Um Mitternacht stießen wir draußen mit Sekt an und sahen dem Feuerwerk zu, was hier viele verbotenerweise unbekümmert in den Himmel bliesen. Auch der 12-jährige Saul kam schlaftrunken aus dem Bett und kippte mit halb angewiderter, halb cooler Miene wortlos sein Glas Sekt runter und ging dann schnurstracks wieder schlafen.
Trotz der gesundheitlichen Strapazen starteten wir am 2. Januar unseren ersten Tanzworkshop mit elf höchst pubertierenden Kindern, die uns acht Tage lang auf Trab hielten. Letzten Freitag war schon die Tanzaufführung und nun ist bereits der zweite Tag unseres zweiten Tanzworkshops im zweiten Kinderdorf im Zentrum Cochabambas vorbei. Aber dazu in einem baldigen Blogeintrag vom Sportpädagogen höchstpersönlich mehr.
Jedenfalls lag Paul dann wiederum an unserem ersten arbeitsfreien Wochenende flach, weil er sich dieses mal was eingefangen hatte. Alles in allem ein holperiger Start. Doch es hatte auch etwas Gutes: Wir sparten in dieser Zeit auf Grund nicht benötigter Nahrungsmittel und versäumter Bummel-Nachmittage eine Menge Geld, welches wir jetzt umso fröhlicher auf den Kopf hauen.
Und nun einige Worte zu Bolivien. Es ist eines der ärmsten Länder Südamerikas und leidet derzeit an einer recht starken Inflation, wie uns ein BWL studierendes Mädchen im Kinderdorf berichtete. Der indigene sozialistische Präsident Evo Morales, ehemaliger Vorstand der Cocabauern, ist bereits seit 12 Jahren an der Macht. Über ihn haben wir verschiedenes gehört: Studierende aus reicheren Familien sowie Unternehmer mit denen wir gesprochen haben finden ihn unmöglich, da er schlechte Bedingungen für Privatunternehmen schaffe. Es grassiert die Angst vor Verstaatlichungen. Derzeit gibt es sogar einen landesweiten Hungerstreik, der seine Absetzung fordert. Andere wiederum preisen seine sozialen Errungenschaften, so habe er eingeführt, dass jede Familie Geld bekomme, wenn ein Kind ein Schuljahr über anwesend war und nicht zu oft geschwänzt hat, was häufig passiert um den Eltern beim Geld verdienen zu helfen. Was er allemal geschafft hat ist, dass die indigene Bevölkerung selbstbewusster geworden ist und sich nicht mehr so sehr auf Grund ihrer Wurzeln schämt.
Hier sieht man unzählige Kinder, die zwischen den Marktständen herumwuseln, teilweise Bonbons verkaufen oder in schönen bunten Tüchern von ihren Müttern auf dem Rücken herumgetragen werden, dem Anschein nach, ohne dass es deren alltägliche Verrichtungen einschränken würde. Wie anders ist da das Bild in Deutschland, wo die Geburt eines Kindes häufig eine tiefe Zäsur im Leben eines Menschen darstellt und erstmal für einige Jahre vieles andere in den Hintergrund zu drängen scheint. Hier bekommen die Frauen auch deutlich mehr Kinder als in Deutschland, nämlich durchschnittlich 2,9 je nach sozialem Hintergrund auch mehr (im Gegensatz zu 1,4 pro Frau in Deutschland). Als wir auf der Suche nach Kondomen lediglich in Apotheken fündig wurden und dort die saftigen Preise sahen, wurde uns einiges klar. Die Pille kostet hier wohl auch ein kleines Vermögen, Abtreibungen sind verboten. Vielleicht macht sich hier die vorherrschende katholische Kirche bemerkbar…?
Wenn sich herausstellt, dass wir ein Paar sind, wird oft gefragt, ob wir verheiratet sind. Auf unsere verneinende Antwort hin und wenn wir dann noch erwähnen, dass wir in Deutschland zusammen wohnen, blicken wir häufig in irritierte Gesichter. Hier wird diese unzüchtige Art zumindest in manchen Schichten als verwerflich angesehen. Auch wenn Pärchen dann heiraten, meist sehr früh, wohnen sie häufig weiterhin im Hause eines Elternpaares.
Ach ja, und das bolivianische Essen… Ein Kohlenhydrat-Träumchen begleitet von fleischigem Glück. Es ist schwer, ein traditionelles Gericht „sin carne“ zu finden oder gar mit viel Gemüse. Außer die obligatorische leckere Suppe, die es hier immer als Vorspeise gibt. Gefolgt wird sie von Reis, Mais oder Kartoffeln mit einem großen Stück Fleisch. Das Essen wird mit einem Glas Cola oder einem anderen „resfresco“ abgerundet, ein immer stark gesüßtes Getränk mit bspw. Hafer oder Pfirsich. Wasser zu Mahlzeiten ist unüblich.
Die ersten 8 Tage unseres Tanzworkshops durften wir mittags reihum in den Familien essen. Eine schöne Gelegenheit um mit den Müttern und Kindern in Kontakt zu kommen. Lustig und irgendwie berührend war es zu sehen, wie meine vegetarische Ernährung sie zum Teil echt in die Bredouille brachte. So gab es dann meist als Hauptgericht einen gut gemeinten großzügen Teller voll Reis mit einigen (Paul meint „wenigen“) Scheibchen Tomaten und rohen Zwiebeln, dazu zum Beispiel an guten Tagen Fisch aus der Dose. Oder auch mal nur Linsen. Paul brachte die meist fehlende Soße zweitweise etwas aus der Fassung, ich bekam bei diesen recht trockenen Mahlzeiten nostalgisch-heimatliche Gefühle und versuchte es ihm als Teil der kulturellen Erfahrung schmackhaft zu machen.
Wundern tut uns abschließend jedoch nicht, dass hier bestimmt weit über die Hälfte der Menschen deutlich übergewichtig ist. Fast jeder trägt hier das ein oder andere Röllchen mehr am Bauch mit sich herum das ist schon echt krass. Deutlich wird es auch an fehlenden Bewegungsangeboten. So gibt es zum Beispiel wenig Natur, die zum Spazieren oder gar sportlicher Betätigung einlädt, wir mussten lange suchen, selbst die Rezeptionistin eines 5-Sterne-Hotels konnte uns nicht weiterhelfen, bis wir herausfanden, wo man mal ein bisschen durchatmen und wandern gehen kann. Und dort waren wir dann auch die einzigen Menschen.
Das Leben geht hier ansonsten in recht gemütlichem Tempo vor sich hin. Wie schon in Peru sieht man sehr selten gehetzte Menschen, außer vielleicht im Straßenverkehr, wo man teilweise über die Straße rennen muss um nicht überfahren zu werden, da die Fahrer alle Gemütlichkeit des sonstigen Lebens hier mit ihrem verrückten Fahrstil zu kompensieren scheinen. Oft treffen wir in einem Kiosk am Straßenrand auf so strahlende, bedächtige und herzliche Menschen, dass wir beglückt mit dem Gefühl einer echten Begegnung wieder ins Freie treten.
Wir sprechen viel darüber, was für uns ein gutes Leben ausmacht. Hier lernen wir auf jeden Fall auch den Wert gerade von unserem durchlässigen Sozialsystem in Deutschland zu schätzen, von unseren Perspektiven, all den Möglichkeiten… Und doch liegt auch so viel Lebensqualität in der Haltung, in der Art das Leben anzunehmen, dankbar und präsent zu sein. Hier wird die Bedeutung von Demut immer wieder wirklich erfahrbar. Von der Haltung vieler Menschen hier können wir uns gewiss noch eine gute Scheibe abschneiden!