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Bei den Q'eros - Eine Erzählung

Veröffentlicht: 18.12.2018

Die chaotischen Tiendas am Straßenrand werden weniger, der Lärm der Stadt verebbt langsam. Das Auto schiebt sich keuchend die engen Wege entlang, die Fünftausender hinauf. Hier oben in der rauen, fast unberührten Schönheit der Anden muten die Straßen wie brutale Wunden an, die den Bergen zugefügt wurden, um ihre Unversehrtheit den menschlichen Bedürfnissen unterzuordnen. In der Ferne, am Abhang zieht dichter Qualm auf. Ein brennendes Auto? Ein abgestürztes Kleinflugzeug? Der Rauch lässt es erahnen. Mich durchzieht ein mulmiges Gefühl, das schließlich Ehrfurcht vor dieser gewaltigen Natur weicht.

Wir sind auf dem Weg zu den Q’eros, den letzten direkten Nachfahren der Inkas, wie man zu sagen pflegt. Wir, das sind Paul, mein abenteuerhungriger Freund, den die spirituelle Nähe zur Natur reizt. Theresa, eine ruhige junge Frau, die wir vor einer Woche bei einer Free Walking Tour kennengelernt haben und die für diese Erfahrung ihren Freiwilligendienst in einem Yoga Retreat im heiligen Tal unterbricht. Kenner, unser peruanischer Guide auf der Stadtführung, der uns die Möglichkeit dieser Fahrt zu den Q’eros verschaffen hat. Normalerweise ist es für Touristen sehr schwierig Einblick in das Leben dieses Volkes zu bekommen, höchstens Wissenschaftler kommen zu ihnen um ihre Lebensweise zu erforschen, die derjenigen der Inkas sehr nah sein soll. Kenner hat ein Patenkind in der Familie der Q’eros, die uns aufnehmen wird, und war selber lange nicht mehr dort. Er hat unser echtes Interesse vor allem an dem im Dorf lebenden Heiler gespürt, meinte aber zunächst, dass man eine solche Begegnung nicht forcieren sollte, vielmehr sollte der Heiler einen selbst finden. Ein paar Sekunden nachdem er dies in einem Restaurant in der trubeligen Stadt Cusco zu uns sagte, klingelte sein Handy. Es war Luis, der Sohn des Heilers und ein guter Freund Kenners. Von diesem Augenblick an wurden die Planungen für unsere Reise aufgenommen. Kenner ist ein sehr spiritueller Mensch, der vor kurzem aus einer achtjährigen Ehe in der Schweiz nach Peru zurückgekehrt ist und seine melancholischen Augen erzählen vom Wiederaufspüren des roten Fadens seines Lebens. Dann ist da noch Juan, der auf dieser Reise unser Fahrer und Koch sein soll, er ist Teil der Familie die wir besuchen werden. Er ist ein gutmütiger Kerl, der oft lacht, auf dem Markt freudig mit beiden Händen die Leckereien in unsere Einkaufstasche schaufelte und die meiste Zeit mit seiner Frau und den vier Kindern in Cusco lebt. Luis, sein Bruder, ist etwas ruhiger. Er begrüßte mich, indem er beide Hände um meine legte, mit einem stillen warmherzigen Lächeln. Er folgt seit einiger Zeit dem spirituellen Weg seines Waters Matias, welcher besagter Heiler und das Familien- und Dorfoberhaupt ist.

Der Blick schweift über die Bergkette die sich auf der anderen Seite des Tals auftut. Wolken verfangen sich in den Gipfeln, dahinter liegt der Dschungel. Der Wind und die Ursprünglichkeit dieser Naturgewalt verschlägt uns den Atem. Die asphaltierte Straße endet jäh und die restlichen vier Stunden der Fahrt legen wir auf einer einspurigen Schotterpiste zurück, die sich an schwindelerregend steilen Abhängen durch die Anden schlängelt. Es braucht einige Zeit bis die schwitzigen Hände dem Vertrauen weichen. Ein Falke zieht langsam seine Bahnen über uns, ein gutes Zeichen wie Kenner meint. Er reicht jedem von uns drei Cocablätter und sagt, wir sollen die Geister der Natur und Berge um Erlaubnis und Schutz für unsere Reise bitten. Wir tun es, pusten unsere Wünsche anschließend in die Luft und haben die nächsten Minuten den herben eigentümlichen Geschmack der Blätter im Mund.

Am Fenster zieht eine unfassbare Einsamkeit vorbei. Die Zeichen von menschlicher Einwirkung verlieren sich in der Weite. Hier und da liegen Kartoffelfelder an steilen Berghängen, grasen Alpakas phlegmatisch vor sich hin. Die Menschen die wir erspähen tragen traditionelle bunt gewebte Kleidung, ich verfange mich in dunklen Augen die mir staunend, ruhig und so anders entgegenblicken.

Wir halten an einem Dorf aus Steinhäusern mit Strohdächern, aus dem einzig und allein die orangen Toilettenhäuschen und Solarpanels herausstechen. Luis steigt mit einer Plastiktüre voll frischem Brot aus und tauscht es bei Bekannten die vor ihrer Hütte beisammen sitzen gegen Alpakafleisch.

Noch ein paar Serpentinen und Bergfalten weiter taucht plötzlich Chalwachimpana aus dem mystischen Wolkennebel auf. Vereinzelte rundliche Steinhütten schmiegen sich zerstreut in die saftig-grüne Landschaft. Einsame Steinkreise und grasende Alpakas werden von atemberaubend steilen schroffen Bergen eingerahmt, die so nah sind, dass sie eher wie ein unwirkliches Bühnenbild anmuten

Beim Verlassen des Autos kommen und schon die Bewohner entgegen um beim Tragen zu helfen. Wir werden mal schüchtern, mal herzlich umarmt und sind noch ganz befangen in diesen ersten Augenblicken. Unsere kläglichen Quechua-Lernversuche haben wenig Früchte getragen, in der Benommenheit der Ankunft verdrehen wir nur die Silben und greifen schließlich auf Spanisch zurück, was hier allerdings auch nur wenige verstehen. So versucht Paul die Kommunikation mit Körpersprache anzureichern und mit den Kindern in Kontakt zu treten. Er wechselt seine Schuhe und will im Zuge dessen einen Fußgrößenvergleich mit einem Jungen starten. Dieser missversteht seine gut gemeinten Bemühungen jedoch offensichtlich und beginnt Pauls Fuß zu putzen. Erstaunt und leicht beschämt erfahren wir so die ersten Lektionen der kulturellen Unterschiede.


Wir schlafen in einer einfachen Lehm-Steinhütte. Das Strohdach ist mit zwei milchigen Wellblechpappen versehen durch die ein wenig Tageslicht den einzigen Raum erfüllt. Gekocht wird über einem mitgebrachten Gasherd, weil die ursprüngliche Art das Essen überm Feuer zuzubereiten die ganze Hütte verqualmen würde. In Cusco haben wir bergeweise leckerstes Essen auf dem Markt eingekauft weil uns sensiblen Westlern die Essgewohnheiten der Q’eros vermutlich den Magen umdrehen würden. Sie ernähren sich eigentlich ausschließlich von selbstangebauten Kartoffeln, Mais, Alpakafleisch, vitaminreichen Cocablättern und trinken das Wasser des nahegelegenen Gletschers, sie sind somit in ihrer Lebensweise ziemlich autark.

Während der ersten Mahlzeit zeigt die Familie sich sehr bescheiden, wir sollen zuerst aufessen und so viel wir wollen nachnehmen, bevor sie sich die Teller mit Suppe, Kartoffeln und Reis auffüllen, damit wir auch ja satt werden.

Matias, der Familienälteste sitzt schweigsam in einer dunklen Ecke der Hütte. Nach dem Essen kaut er versonnen auf einem Halm herum. Er trägt eine bunte Mütze mit zwei Bommeln und ein schönes traditionelles Gewand, in welches auf uns verborgene Weise Symbole und vielleicht gar Geschichten eingewebt sind. Schon die Inkas pflegten auf diese Weise neben dem Mündlichen ihr Wissen weiterzugeben, da sie keine Schriftzeichen verwendeten, weshalb so vieles über ihre Kultur bis heute Spekulation bleibt. Matias Gesicht ist von tiefen Falten durchzogen, das arbeitsamen Leben in den schroffen Höhen der Anden hat Spuren hinterlassen. Sein Alter hätte ich auf über 70 geschätzt, später soll ich jedoch erfahren, dass er erst Mitte oder Ende 50 ist. So genau weiß das hier keiner, weil auf Geburtstage keinen großen Wert gelegt wird. Auch den Kindern sieht man das Leben in der Natur an, ihre jungen Wangen sind ausnahmslos von einer bräunlich-rötlichen Verfärbung, Zeugnis des sonnig-eisigen Andendaseins. Matias raue Füße, wie auch die vieler anderer Dorfbewohner stecken nackt in einfachen Sandalen, während wir uns in mehrere Schichten und einen Schlafsack gehüllt auf die nächtliche Wärmflasche freuen.

Bevor wir die Nacht auf einer dünnen Matte auf dem lehmigen Boden verbringen, klettern wir noch mit einer wärmenden Mate in der Hand durch die kleine Türöffnung in die schläfrige Bergwelt hinaus. Was wir nun sehen überwältigt uns: Der Himmel tausendfach voller Sterne spannt sich mit einer großen Klarheit über uns. Ab und zu das Bellen der Hunde und das permanente Gurgeln des Flüsschens im Tal, ansonsten hüllt uns feierliche Stille ein. Da sind wir nun also, hineingeworfen in eine völlig andere Welt, ehrfürchtig verzaubert von ihrer einfachen Ursprünglichkeit.


Der neue Tag beginnt schon gegen fünf Uhr mit der durchs Wellblech einfallenden Morgensonne. Nachdem ich mir noch ein paar mal die Mütze über die Augen gezogen habe um die etwas ungemütliche Nacht zu verlängern, stolpere ich schließlich ins grelle Tageslicht. Noch halb benommen nehme ich die imposanten Berge wahr, eine Frau mit geflochtenen schwarzen langen Zöpfen nimmt mich herzlich in den Arm, „Allianchu“ (Hallo wie geht es dir?) sagend. Vor lauter Morgentaumel fällt mir die richtige Quechua Antwort nicht ein und so wiederhole ich hilflos zwei mal das was sie bereits zu mir sagte.

Eine Meditation im warmen Sonnenlicht erdet mich ein wenig und lässt mich wieder mehr realisieren, wo ich gerade bin. Verträumt höre ich dem Plätschern des Flusses zu und beobachte Alpakas auf dem gegenüberliegenden Berg, die von einem saftigen Grasflecken zum nächsten staksen.

Als ich zurückkomme, fragt mich Matias wo Paul ist. Der gutmütige Mann macht sich Sorgen, ob er vielleicht eine Erkältung über Nacht bekommen oder schlecht geschlafen haben könnte. Also mache ich mich auf die Suche nach ihm und bin schon nach ein paar Schritten bergauf völlig aus der Puste. Aber da sehe ich ihn auch schon, er ist ein gutes Stück entfernt bei den Pferden mit zwei kleinen Jungen. Als sie mich sehen fangen sie an zu laufen und als sie schließlich bei mir ankommen, zunächst Paul, dann etwas schüchterner die zwei Jungs, sind sie ganz außer Atem aber strahlen. Paul erzählt mir mit vor Lebendigkeit sprühenden Augen, dass sie an einer kleinen Lagune waren. In seiner Hand sehe ich eine orange Plastiktüte voller Müll, den sie gemeinsam gesammelt haben und mein Herz samt all meiner Eizellen macht angesichts dieses wunderbaren Mannes und seiner kinderlieben Art einen großen Sprung.

In der dämmerigen Hütte erwartet uns ein königliches Frühstück mit Pfannekuchen, Honig, Marmelade, Ananas-Bananen-Salat, Tee, Brötchen und einem Amaranth-Mais-Pops-Müsli mit Sojamilch.


Mehr als gestärkt werden im Anschluss die Pferde mit Gepäck beladen und wir ziehen von dannen. Vier Stunden und 700 Höhenmeter bergab Richtung Hatun Q’eros. Stets am Fluss entlang, über kleine gurgelnde Zuflüsse und wunderliche Moospflanzen hinweg immer tiefer Richtung Amazonas. Die treuen Pferde tasten sich vorsichtig über das Geröll, am Berghorizont werden die Wolken immer dichter und die Vegetation üppiger. Luis geht mühelos voran und spielt ab und zu auf einer handgefertigten Flöte. Sein Vater Matias ist still und bahnt sich in seinen ausgetretenen Sandalen seinen eigenen Weg durch die unberührte Natur. In der Hand hält er eine mit orangener Alpakafaster aufgewickelte Spindel, an der er manchmal versonnen dreht. Kenner erzählt, dass er aber keineswegs herumträumt oder abwesend ist sondern, dass er uns und die Umgebung permanent analysiert. Er liest an den Cocablättern ab, wie es uns geht, was wir brauchen, ob die Geister unserer Reise wohlgesonnen sind und welche Zeremonie wir heute abhalten werden. Der ruhige Mann strahlt eine tiefe Stille aus, bei ihm fühle ich mich irgendwie sicher.

Schließlich taucht hinter einer grünen Bergfalte Hatun Q’eros auf. Majestätisch liegt das vermutlich viele Hundert Jahre alte Dorf mit den Steinhütten und Strohdächern auf einer Bergzunge. Links und rechts eingesäumt von zwei Flüssen die sich durch tiefe Canyons schlängeln. Am Fuße des Dorfes vereinen sie sich und fließen tosend Richtung Dschungel, der nun nur noch wenige Laufstunden entfernt ist. Anmutig ziehen Wolkenschwaden aus dem feuchten Urwald heraus und schwängern die reine Luft.

Wir betreten das Dorf, welches in völliger Einsamkeit und Stille da liegt. Hierher führt keine Straße, nur der beschwerliche Weg zu Fuß. Die Steinhäuser sind alle verriegelt, saftige Kartoffelpflanzen wuchern scheinbar ziellos in die Höhe und doch erkennt man beim genaueren Hinschauen eine penible Systematik. Die strohbedeckten Hütten sehen wie freundliche Trolle aus, die dem Spektakel der zwei vereinten Flüsse und dem Dschungel sehnsuchtsvoll entgegenzublicken scheinen. Zu Hören ist nur das Zwitschern der Vögel und das Klappern von Juans Töpfen, der uns Angekommenen soeben Popcorn, Cracker und Muña-Tee bereitgestellt hat.

Das Dorf ist das Zentrum der Q’eros, welche die meiste Zeit des Jahres verstreut in kleineren Siedlungen leben. Hier haben viele Familien eine zweite Hütte um regelmäßige Versammlungen abzuhalten, die Mais-Ernte aus dem Dschungel einzuholen oder zwei Wochen am Stück Karneval zu feiern.


Eine dichte Wolkenwand schreitet unaufhaltsam näher und verschlingt das Dorf und schließlich uns, die wir auf einen Hügel laufen, dicht eingehüllt in den tropfigen Dunst, um dort eine Despacho Zeremonie abzuhalten.

Matias und Luis werfen sich handgewebte Gewänder über und bereiten etwa eine Stunde die Despacho vor, während wir gebannt zuschauen. Die Zeremonie kommt mir wie ein langer, duftender, bunter erstaunlicher Moment vor, voller Cocablätter und geheimnisvollem Gemurmel.

Zunächst werden wir alle mit einem blumig-süßlichen Wässerchen beträufelt um die bösen Wesen fernzuhalten. Dann werden mit uns unbekannten Worten die guten Geister der Pachamama (Mutter Erde), der Berge und Vorfahren um Erlaubnis gebeten und uns beizuwohnen.

In unserer Mitte liegen drei kleine in feste Tücher eingewickelte Päckchen. Darin sind jeweils kleine Reliquien, wie Steine oder sonstige Funde, die eine besondere Bedeutung für Luis, Matias und Kenner haben. Sie sind mit bunte Schnüren, Federn und teils Glöckchen umwickelt. Vermutlich um ihre guten Energien Teil der Zeremonie werden zu lassen, halten die drei sie in die feuchte Luft und murmeln etwas uns Verborgenes auf Quechua.

Nun folgt die lange, feierliche und sorgfältige Vorbereitung der Despacho. Die schönsten Cocablätter werden herausgesucht, Wünsche, Fürbitten und weiteres Geheimnisvolles in den Wind gemurmelt. Zarte Alpakawolle wird fein zerzupft auf der Rückseite eines Bärchengeschenkpapiers ausgebreitet. Hinzu kommen paso a paso unzählige kreisförmig angeordnete weitere Dinge, alle mit einer Bedeutung, die uns verborgen bleibt. So wächst die Opfergabe zu einer bunten Melodie aus Cocablättern, zerbröselten Keksen, Dekosternchen, Glitzer, Samen, Teilen eines Lamafötus, Zuckerkugeln, Reis, Quinoa, Symbolen wie einem Auto, etwas Heuartigem und einer mit Wachs oder Seife bestrichenen und zwei Blüten versehenen Muschel an. Betreufelt wird das ganze mit diversen Flüssigkeiten. Besonders eindrücklich finde ich die Art und Weise, wie Luis behutsam jede einzelne Gabe aus bedrucktem Altpapier entfaltet und wie Matias Augen bei den Beschwörungen andächtig und doch nicht bedeutungsschwanger in die Ferne gerichtet sind.

Abrundend halten wir alle unsere Hände über das entstandene Kunstwerk und zünden es an. Dichter Qualm steigt auf und verflüchtigt sich in den Weiten der Berge. Erstaunt stellen wir fest, dass der Himmel aufgerissen ist und einer neuen Klarheit Platz macht. Matias segnet uns einzeln und ruft auch Pachamama in Alemania, in Deutschland an, zumindest meine ich das verstanden zu haben.

Leider ist mein Magen etwas voll und verstimmt, so dass ich nicht die Muße habe, dem Geschehenen nachzuspüren sondern erstmal die Naturtoilette aufsuche.


Am Abend legt sich der dichte Nebel aufs neue über das verschlafene Dorf. Ich meditiere im gespenstischen Dunkel und im Erahnen des nahen Dschungels.

Kurz vorm Schlafengehen werden wir von Pauls in die Stille gesungenen Gute-Nacht-Lied berührt. Wir kuscheln uns in unseren wohligen zusammengezippten Schlafsäcken aneinander und verbringen eine unruhige Nacht an diesem mystischen Ort.


Viel zu schnell verlassen wir Hatun Q’eros wieder. Im zackigen Tempo geht es knapp fünf Stunden nur bergauf, wo die Luft immer dünner wird. Auf fast 4000m eine Konditionsfrage. Die vergnügten Gespräche des Hinwegs weichen einer keuchenden kontemplativen Stille. Schritt für Schritt, paso a paso. Dieser abgegriffenen Redewendung wird auf einmal Leben eingehaucht. Ich schaue auf den sich stetig verändernden knirschenden Boden und verbiete mir Gedanken an die noch vor uns liegende Strecke. Im Moment sein, die Anstrengung genießen, alles andere zieht nur Kraft. Ich nehme mir vor, diese Gedanken mit in meinen Alltag zu nehmen.

Auf der Hälfte der Strecke machen wir zwischen Schafs- und Alpakakötteln eine Pause, stärken uns mit Mango, Granadilla und Nüssen. Der Geist entschlüpft für ein paar schläfrige selige Augenblicke und wandelt zwischen den Gipfeln.


Zurück in Chalwachimpana lasse ich mich abermals in die Köttel fallen, streife die warmen Schuhe ab, lausche meinem schnellen Atem und kuschel mich erschöpft an Pauls Brust.

Als ich kurz darauf Notizen von meinen jüngsten Eindrücken niederschreiben möchte, kommt Segundo, der 11-jährige Sohn Matias und schaut mir fasziniert über die Schulter. Ich bin berührt von dieser reinen kindlichen Präsenz. Wir schreiben unsere Namen auf den Block und ich zeige ihm meine Bleistifte. Er ist völlig begeistert von einem Graphitstift und malt mir sein Heimatdorf mit einem großen Kondor, der hier für die überirdische Welt steht, auf. Als ich Marburg aufzeichne wird der Unterschied zu Chalwachimpana auf dem Papier gar nicht so deutlich, Berge, Häuser, Fluss mit Fischen, nur die Autos lassen ihn anerkennend pfeifen. Hier gibt es außer den Solarpanels wenig Technik. Bis vor kurzem wurde Kontakt zum Dorf via Radio hergestellt. Das bedeutete, wenn jemand z.B. Matias sprechen wollte, wurde beim entsprechenden Radio angerufen und die Nachricht mehrmals durchgegeben, irgendein Bewohner des Dorfes hat sie dann schon gehört und ihm weitergeleitet. Mittlerweile ist es glaube ich etwas anders, auch die vor einigen Jahren gebaute Straße brachte etwas Wandel in das Dorf. Nun fährt einmal die Woche, Sonntags um drei Uhr nachts, ein Sammeltaxi in das drei Stunden entfernte nächstgrößere Paucartambo, was hier schon einen großen Fortschritt bedeutet.


Am Nachmittag gehen wir zur Dorfschule, in der zur Zeit neun Kinder im Alter von sechs bis elf Jahren gleichzeitig von einer Lehrerin unterrichtet werden, die unter der Woche hier lebt. Die älteren Kinder fahren die paar Kilometer bis zur weiterführenden Schule täglich mit dem Motorrad.

Juan hat in einem großen Topf einen mit Wasser und Zimt verfeinerten Kakao zubereitet, den wir neben einem großen Karton Biscotches (süße Brötchen) aus Cusco mitgebracht haben. Es ist eine Art pre navidad fiesta. Nach und nach kommt das ganze Dorf in den schummrigen Raum. Da sitzen all die verschmitzen, schüchternen Kinder mit erhitzten Wangen und schlürfen-schmatzend die dampfend-duftenden Leckereien. Frauen mit Babys in bunten Tüchern auf dem Rücken kommen dazu, es wird gelacht, geschwatzt und geschwiegen. Der ein oder andere verstohlene doch freundliche Blick streift und wir haben erstmals das Gefühl mitten im Dorfleben dabei sein zu dürfen. Was die Menschen wohl von unserem Besuch denken?

Da springen die ersten Kinder schon wieder auf und rennen ins Freie, schließlich steht ein kleines Fußballspiel an! Der erdige Platz besticht durch seine Schlichtheit und den gigantischen Ausblick auf das ganze am Hang liegende Dorf und die umliegenden teils wolkenverschleierten Berge. Da geht’s auch schon los, zwei Teams jagen der Kugel hinterher. Es wird geschrien und gelacht, plötzlich brechen die sonst so zurückhaltenden Andenbewohner auf und die de es nicht mehr sind werden wieder zu Kindern. Es belustigt sie, wenn ich als einzige Frau auf dem Feld, die andere steht im Tor, versuche den Männern den Ball abzunehmen und Paul intensiv decke. Die restlichen Menschen der Gemeinschaft stehen in kleinen Grüppchen zusammen und plaudern oder schauen zu. Theresa hat ein Spiel mit den kleineren Kindern begonnen, aus dem sie nicht mehr rauskommt. Sie plustert sich auf und brüllt dann wie ein kleines Monster um sich im wankenden Bärenschritt auf de Kinder zuzubewegen, die vergnügt das Weite suchen. Beruhigt sie sich wieder, kommen die Kleinen näher und machen mal schüchtern, mal forsche Angriffsversuche, bis Theresa wieder brüllt und die Horde jauchzend davonrennt.

Während Paul und mir langsam aber sicher die Puste beim Spielen ausgeht, kehren in der fernen Dämmerung die Alpakaherden zurück ins Dorf, einer feierlichen Prozessur gleichend. Auf dem Rückweg zu unserer Hütte hängt an jeder unserer Hände mindestens ein Kind und wir schleudern sie mit letzter Kraft „Engelchen Engelchen fliiiieg“ rufend in die Höhe. Kaputt aber selig von diesem Nachmittag in der Gemeinschaft krabbeln wir schließlich in die Hütte, wo das Mate-Wasser auf dem Herd schon bald wohlig zu gluckern anfängt.


Irgendwann nimmt Kenner Paul zur Seite und sagt ihm, eine Mutter wünsche sich, dass er der Compadre, der Patenonkel ihres Sohnes Q’ente wird. Etwas überrascht aber vor allem geehrt hakt Paul nach, was das bedeutet und entscheidet sich kurzerhand dafür zuzusagen.

Noch am selben Abend, kurz nach dem Essen kommt die Frau mit dem Kind in die Hütte, wo ich gerade dabei bin, Segundo den Inhalt unseres Kulturbeutels zu erklären und froh bin, als er bei meiner Tamponerläuterung „es para mujeres“ (das ist für Frauen) nicht weiter nachhakt. Yovana, die Mutter von Q’ente ist Matias Tochter und eine wunderschöne zurückhaltende Frau, die uns schon beim Kakao Trinken aufgefallen ist. Sie kommt so selbstverständlich herein, dass Theresa und ich erst gar nicht verstehen, dass die Zeremonie dabei ist zu beginnen und ich noch in die Runde frage, ob noch jemand von der wunderbar duftenden Weleda Fettcreme was haben möchte. Es werden Cocablätter gekaut, Wünsche ausgesprochen und Blüten sowie ein kleines finanzielles Patengeschenk, aus Mangel an sonst überreichten Alpakas, in eine Schale gelegt. Der Höhepunkt der feierlichen Zeremonie besteht darin, dass Paul vorsichtig ein paar dunkle Locken seines Patenkindes abschneidet und zu den Cocablättern legt. Währenddessen wird weiter geklärt, was das Pate sein hier überhaupt bedeutet und Paul realisiert, dass Q’ente ein Junge und kein Mädchen ist. Ein Compadre bietet hier inneren Schutz für das Kind. Luis erklärt, dass Kinder ohne Paten beim Alpakahüten öfter hinfallen oder schneller krank werden. Yovana wünscht sich aber auch, dass Paul und Q’ente in Kontakt bleiben und dass er vielleicht später mal erfahren kann, wo wir leben. Mir wird ganz wohlig als ich sehe, mit welchem Ernst Paul der Zeremonie beiwohnt und wie er ganz er selbst Fragen stellt und das etwa 1,5-jährige Kind ehrfürchtig auf dem Arm hält. So antwortet Yovana auf seine Frage hin, was sie sich für ihren Sohn wünsche: „Glück“. Er plärrt derweil etwas unglücklich, weil er von der Brust seiner Mutter genommen wurde. Doch die Stimmung im Raum ist wunderschön und ich bin ganz berührt von dem, was hier gerade passiert.

Die Zeremonie klingt langsam aus und alle verabschieden sich, Paul wird nun von den Familienmitgliedern mit Compadre angesprochen. Ich kann mich leider nicht erheben, da ich noch von meinem Schlafsack und einem kuscheligen Segundo eingeklemmt bin und so verpasse ich es, die Verwandten nun auch sozusagen als Teil meiner erweiterten Familie in den Arm zu schließen. Denn das wird uns erst im Anschluss bewusst, dass ich nun als Pauls Partnerin auch Comadre bin und mit drin hänge. Da stehen wir nun unterm Sternenhimmel, noch ganz erfüllt von dem eben gewesenen und Kenner erzählt uns weiteres über die Patenschaft. Er sagt auch, die Cocablätter müssten uns eine gute Zukunft vorausgesagt haben, wenn Matias die Patenschaft gut heißt.

Wo wird uns das Leben wohl noch hinführen? Vielleicht kommt uns dieser kleine Knirps ja tatsächlich in 20 Jahren in Deutschland besuchen…? Wohin es uns auf dieser Reise in den kurzen zwei Wochen schon überall verschlagen hat! Wie eins zum anderen gekommen ist und sich die Zukunft an so kleinen Momenten entscheidet… Intensive Gedanken an diesem intensiven Abend. Wir wünschen Kenner eine gute Nacht und hängen zur allgemeinen Belustigung nun ebenfalls an jeden zweiten Satz ein „Compadre“ oder „Comadre“ an, denn durch seine Patenschaft in der Familie sind wir nun ebenfalls auf diese Art verwandt.


Nach der ersten wirklich guten Nacht und einem Panqueque-Frühstück soll es heute an unserem letzten Tag eine weitere Zeremonie geben. Dazu begeben wir uns auf einen nahegelegenen Berg. Inmitten einer Schieferbruch-Lawine lassen wir uns in einem Steinkreis umgeben von kleinen Schiefer-Schreinen zur Ehrung der Geister nieder. Dichter Nebel hüllt uns ein und lässt nur die nächste Umgebung Wirklichkeit sein. Hier werden wir eine weitere Despacho abhalten um Pachamama und den Bergen für unseren wunderbaren problemfreien Aufenthalt zu danken. Während Matias und Luis die Zeremonie vorbereiten ist es so unglaublich still, dass mir die Ohren rauschen. Eine dumpfe Stille ist das. Nichts ist zu hören außer das Rascheln der Cocablätter. Kein Bach, kein Vogel. Nur diese unwahrscheinliche Stille, wie es sie wohl allein auf dieser Höhe geben kann.

Ähnlich wie beim letzten mal werden die Kostbarkeiten langsam zu einem Kunstwerk aufgeschichtet, dieses mal quadratisch angeordnet. Wir dürfen eigene Danksagungen und Wünsche mit Hilfe von Cocablättern in die Höhen der Berge pusten und schauen gebannt dem erneuten Schichten der vielen bunten Gaben zu. Mir fällt auf, dass ich manchmal innerlich schmunzeln muss, zum Beispiel als Matias das Glitzer und die Zuckerperlen mit einer großen Ernsthaftigkeit über den Reis streut. Die Angst vorm Kitsch und Pathos macht uns wohl manchmal etwas stumpf und ironisch. Ich denke mir, dass Glitzer hier wohl purer Luxus ist und vermutlich für Feierlichkeiten steht und nicht wie aus meiner Sicht für eine eher spaßorientierte Scheinwelt. Nachdem wir wieder schützend die Hände über die Despacho gehalten haben wird sie angezündet und ihr Rauch steigt gen abermals aufgerissenen Himmel. Staunend blicken wir auf den soeben sichtbar werdenden schneebedeckten Gletscher, der nun die Gaben „isst“, wie Kenner sagt. Wir werden von Matias und den von ihm angerufenen Geistern gesegnet und er bittet um Schutz für unsere weiteren Reisen und noch um einiges mehr, was wir leider nicht verstehen. Abschließend stehen wir betend im Kreis und halten und bei den Händen, da Paul noch um Kraft und Gesundheit für seine Lieben und die Baumpflege-Kollegen gebeten hat. Wie wir da so vereint stehen und gemeinsam gute Wünsche senden, bin ich sehr bewegt. Eine Träne tropft auf den grauen steinigen Boden.

Der Rückweg führt durch unglaubliche Bergformationen. Diese Landschaft ist ein Gedicht. Kahle Felswände, durchzogen von rötlich-grünlichen Adern säumen unseren Weg. Schiefergeröll knackt unter den Füßen und wechselt sich ab mit märchenhaftem Moos auf dem es sich wie auf Wolken geht. Das saftige Grün ist durchzogen von kleinen Wasseradern die sich im Gestein verlaufen oder zu kleinen Becken ausweiten. Darin sind kleine Inselchen auf denen Alpakas stehen, die uns durch ihr zotteliges Fell und die dichten langen Wimpern interessiert angucken. Und dann wieder der Kontrast zu den nackten, schroffen, kalten Felsen, die sich erbarmungslos in den Andenhimmel recken…


Noch ein letztes wärmendes Süppchen, dann heißt es Abschied nehmen. Für uns bedeutet das, nochmal zu betonen, wie wohl wir uns gefühlt haben, zu danken für all die Gastfreundschaft, Zeremonien und Ehren der Patenschaft. Doch so weit kommen wir gar nicht, der Blick des Gegenübers ist schon zum nächsten gegangen, die Umarmung beendet. Kurz und schmerzlos, auch hier zeigen sich kulturelle Unterschiede.

Und dann sitzen wir auch schon wieder im Auto und lassen uns von der Schotterpiste durchschütteln, während das Dorf hinter der nächsten Bergzunge verschwindet. Die Erlebnisse sind weiterhin so lebendig und irgendwie unwirklich. Was wir erfahren durften wirkte so klar und natürlich. Es ist jedoch eine so tiefgreifen andere Welt die wir gerade hinter uns lassen, so heftig ist der Kontrast zu unserem westlichen technisierten Zuhause. Und doch existiert all das auf dieser bunten Welt mit einer solchen Selbstverständlichkeit parallel, dass es uns wohl noch lange bewegen wird.

Antworten (1)

Max
Sehr nice geschrieben "und mein Herz samt all meiner Eizellen macht angesichts dieses wunderbaren Mannes und seiner kinderlieben Art einen großen Sprung". Und danke an Paul für die Segnung :-*

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