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The bad Teil 2 / Die Kunst des Vergeßens

Veröffentlicht: 16.08.2017


Hauptstraße hoch ins Nobelviertel der Stadt. Als stumme Grenze dient der Affenkopf an dem Hochhaus.

Medellin gilt als Vorzeigestadt für gelungene Sozialraumumgestaltung. Hier hat das funktioniert, was Bogotá und Cali noch vor sich haben. Statt Ghettoisierung und Verstädterung ungeachtet fortschreiten zu laßen, wurde hier mit geschickter Stadtplanung und Politik wahrlich aufgeräumt. 

Ironie des Schicksals, denn das, was Escobar mit illegalen Mitteln begonnen hatte, führte die Regierung nach seinem Tod weiter. 

Demokratische Architektur am Beispiel des Parque de la luz. Hier war früher ein Sumpf aus Drogen und Gewalt. Mit Befragungen der Bevölkerung wurde ein neuer Ort erschaffen. Die Pfeiler symbolisieren das Licht. Sie leuchten den gesamten Park in der Nacht mit warmem Licht aus.

Heute, am Tag des Blumenfestes, findet auf diesem Platz eine Fahrradparade statt. 



Medellins Innenstadt ist ein Bienenstock. Laut, hektisch, pulsierend, eng und nach zwei Stunden wünscht man sich selbst in ein einsames Bergdorf katapultiert zu werden, um seine Stiche zu kurieren. 

Doch das Abenteuer lohnt sich. Oder wer hat schonmal neben einer Stadtkirche Hardcorepornografie-Verkaufsstände gesehen? Wer in diesem Viertel etwas sucht, findet es. Denn hier gibts ebenfalls den größten Markt an Fälschungen.  Gut und Böse, zumindest moralisch, können kaum näher beieinander sein. Ein Sinnbild moralischer Coexistenz?

Der Plaza Botero. Am Platz selbst befindet sich eine kleine Kapelle. Sie dient als Treffpunkt von Prostituierten und Freiern. Gottes Segen für unmoralisches Handeln ist somit gleich im Preis inbegriffen.

Ein weiteres Beispiel von Umstrukturierung zeigt sich im ehemaligen Justizpalast. Hier wurden früher Kleinkriminelle verurteilt. Heute ist es ein Einkaufszentrum, indem der Handel mit gefälschter Ware geduldet wird. So werden Kleider und zum Teil auch diejenigen, die nach Marke aussehen, für alle Besucher erschwinglich.

Nur zwei Straßen weiter spaziert man durch den Parque Simon Bolivar. Heute noch Drogenumschlagplatz. Viel wird hier konsumiert und dennoch gibt es ein friedliches Nebenher. Die Mutter mit dem Kinderwagen sitzt hier auf derselben Parkbank, wie der Dealer oder die Prostituierte.

Der Parque San Antonio. Hier zündete ein bis heute unbekannter Täter eine Bombe in einer der Boterofiguren. Botero selbst baute einfach dieselbe Statue nochmals daneben. Heute ein Mahnmal gegen das Vergeßen des Geschehenen.

Öffnung der Stadt: Über die Dächer der Slums schwebt die Gondel. Leise und fast schwerelos. Die Anbindung des Armenviertels an die Innenstadt und somit an den Tourismus ermöglichte den Menschen hier selbst tätig zu werden. Heute führen Jugendliche Touristen durch das Viertel und erklären Graffitis, Touristenläden haben geöffnet. Sie bringen Zugang zum Tourismuskuchen auch hier hinein.

Die Seilbahn ist ins Metrosystem eingebunden und ermöglicht durch tiefe Fahrpreise allen Einwohnern der Stadt die Möglichkeit überall hinzukommen. Wirksames Mittel gegen Ghettobildung.

Dieser Ort steht in keinem Reiseführer. Er wurde einfach vergeßen. Die Metrostation in der Innenstadt. Hier wurde eine Handgranate gezündet, die vor Jahren einen oppositionellen Politiker tötete. 

Und nochmals.. Einmal umdrehen bitte. Aussicht auf die Stadt. Medellin liegt eingebettet zwischen Hügeln. Das schafft ein immer konstantes angenehmes Klima und wunderschönes Postkartenpanorama.

Kolumbien möchte das Böse vergeßen. Niemand wagt den Blick in die Vergangenheit, erklärt uns die junge Medellinerin, welche uns die Innenstadt zeigt. Was geschehen ist, und sei es noch so schlimm, habe keinerlei Bezug mehr zum Jetzt. Man habe aus den Fehlern gelernt, aber danach habe man sich mit ihnen versöhnt.

Hier wird, denke ich mir, das scheinbare Übel, und das moralisch Verwerfliche vergeßen oder einfach solange umgedeutet, bis es in den Alltag integrierbar wird. Man baut sozusagen einfach um. Und somit gehört der Park sowohl dem Dealer als auch Touristen und Müttern mit Kinderwagen.

Was seltsam anmutet, lässt sich beßer als Verarbeitung eines immensen Traumas verstehen.

Denn dann ist das Feiern am Unabhängigkeitstag in diesem Zusammenhang lediglich eine zu schmerzhafte Erinnerung an etwas Schlimmes. Und erinnern, so zeigt sich mir, möchte sich hier niemand mehr. 

Und plötzlich fielen mir die Worte meines alten Psychologieprofessors zum Thema "Trauma" wieder ein. 

" Man entwaffnet das Böse nur damit, indem man ihm den Wert nimmt. Man muß ihm dazu aber paradoxerweise eine gewiße Daseinsberechtigung zusprechen"

Kolumbien wird noch lange mit seinem historisch gewachsenen Geschwür aus Gewalt, Korruption und Manipulation leben müßen. Aber dennoch zeigt Medellin, wie man auf ganz einheimische Weise damit umgehen kann. 

Mit eigenen Ressourcen und dem unschlagbaren südamerikanischen Überlebenswillen. 










 

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