Mit Geschichte(n) um die Welt
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Die Regensburger Ganghofersiedlung. Oder: Bayerns kleine Ukraine

Veröffentlicht: 19.07.2024

Eine schöne Häusersiedlung, 10min mit dem Fahrrad zur Altstadt. Bäume, große Gärten, Vogelgezwitscher, mal grüne, mal rote, mal braune Fensterläden; kleine Gehwege zwischen den mal größeren Mehrfamilien-, mal kleineren Einfamilienhäusern.

Regensburger Ganghofersiedlung
Regensburg und vor allem die Altstadt direkt an der Donau wird auch als die nördlichste Stadt Italiens bezeichnet.
Regensburg ist in Bayern, da ist man selbstbewusst, manchmal überheblich. Die Ganghofersiedlung, mit ihren Fensterläden und hübschen Gärten, müsste jedoch eigentlich als die westlichste Stadt der Ukraine bezeichnet werden, wie dies einmal Walter Koschmal treffend fasste.

Hier in der Regensburger Ganghofersiedlung lebten nach dem Zweiten Weltkrieg zeitweise über 5.000 ukrainische Displaced Persons (DPs). Daneben waren viele Menschen aus Polen, Litauen, Lettland, Estland und Südeuropa in der Stadt an der Donau gestrandet. - Die Schriftstellerin Natascha Wodin, selbst DP-Nachkommin, bezeichnete sich und ihre Eltern auch als Gestrandete, sogar als “Menschenkericht”, irgendwie vom Krieg übrig geblieben, als Unrat der Geschichte.

Auf meiner Reise zu und über Displaced Persons spielte Regensburg immer wieder eine Rolle. Nicht nur, da meine Fallstudie mit Flossenbürg mit etwa 100km in der Nähe ist, sondern auch, weil Regensburg eine bedeutende Rolle spielte im beginnenden Kalten Krieg. Die Stadt war eine der großen Tore nach Westen - wie nach Osten. Spione, Geheimdienste waren hier alle vertreten und der illegale Verkehr von Menschen, Material und Gütern war in Regensburg in der unmittelbaren Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg allgegenwärtig.

Die Ganghofersiedlung war dabei ein zentraler Schauplatz, besonders für Ukrainer:innen, die sich weigerten, in die sowjetische Ukraine zurückzukehren.

Viele “Ehemalige” eben dieser Siedlung habe ich in Kanada und den USA, aber auch in Australien in den letzten Jahren getroffen. Eigentlich alle berichteten mir begeistert von ihrer Kindheit und Jugend in der Ganghofersiedlung in Regensburg. Sie galt als kleine Ukraine und für viele war sie ein Zufluchtsort vor sowjetischer Repression. Es entstand ein Netz aus Bekannt- und Freundschaften, das sich über viele Jahrzehnte hielt. Gerade nach Ende des Kalten Krieges, in den 1990er und 2000er Jahren entstand für Ukrainer und Ukrainerinnen im Exil nicht nur ein neuer Heimattourismus in die Ukraine, sondern auch nach Regensburg. Zu bestimmten Jahrestagen trafen sich ehemalige DPs der Ganghofersiedlung sowohl hier vor Ort als auch in Nordamerika. Auch heute schlendern ab und an “Ehemalige” oder deren Kinder und Enkelkinder nach langer Anreise durch die Siedlung.

Teil der Geschichte ist aber auch, dass unter den DPs Menschen waren, die unter Zwang sowie auch bewusst und freiwillig oder auch zeitweise auf der Seite NS-Deutschlands gekämpft hatten. Die Sowjetunion sah DPs pauschal als Nazi-Kollaborateure und Verräter. Die Ukrainer und Balten ganz besonders, auch heute wird diese Erzählung in Russland fast täglich propagiert - und auf die heutige Ukraine ausgeweitet und historisch “belegt”.

Diejenigen, die in der Tat mit den deutschen Nazis zusammengearbeitet hatten, sagten oft, dass sie “nur” das kleinere Übel unterstützt hätten. Als deren Hauptfeind galt der Kommunismus und damit die Sowjetunion. [Siehe dazu z.B. diesen Blogbeitrag zu Australien und Antikommunismus vom Februar 2024]

Zugleich ist aber auch Fakt, dass von DP-Nachkommen oft bis heute zum Teil völlig ausgeblendet wird, dass ukrainische Nationalist:innen zigtausende jüdische und polnisch-katholische Nachbar:innen wie tatsächliche und vermeintliche Kommunist:innen im östlichen Europa ermordeten. Unter den Bewohnern der Ganghofersiedlung war zum Beispiel auch Iwan Demjanjuk, der sich den Wachmannschaften von deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagern angeschlossen hatte. Teil dessen Geschichte ist zugleich, dass er davor in die sowjetische Armee eingezogen worden war und dann in deutsche Kriegsgefangenschaft geriet. Millionen dieser sowjetischen männlichen wie weiblichen Kriegsgefangenen kamen elendig zu Tode, verhungerten, wurden direkt erschossen. Wer dies überlebte, wurde zu schwerer Zwangsarbeit eingesetzt. Manchen wurde eine “Entlassung” aus der Kriegsgefangenschaft angeboten, wenn sie sich deutschen Truppenteilen “freiwillig” anschlossen oder sich zur “Ausbildung” in KZ-Wachmannschaften “entschlossen”. Dies überdeckt jedoch zugleich nicht die Morde und Kriegsverbrechen, derjenigen aus dem östlichen Europa, die mit den Deutschen zumindest zeitweise paktierten. Schwierig. Komplexe Geschichte.

Die verschiedenen DP-Gruppen in Regensburg mit sehr unterschiedlichen Herkünften und Kriegserfahrungen wurden zahlenmäßig dominiert von den Ukrainer:innen in “ihrer” Siedlung, auf dem Hügel, südlich der Altstadt. Für die ukrainischen und somit oft nicht deutschsprachigen Frauen, Männer, Kinder und Jugendlichen war der Name “Ganghofersiedlung” jedoch fremd und vor allem oft unaussprechlich. Sie nannten die Straßenzüge Oselia. Bevor Oselia von den US-Befreiern von den deutschen Bewohnerinnen und Bewohnern zwangsrekrutiert und dann mit DPs “belegt” wurden, gibt es noch eine davorliegende Geschichte, die einer NS-Vorzeigearbeitersiedlung. Diese hat eine ganz eigene Geschichte und führt an dieser Stelle aber zu weit.

Die Geschichte der DPs ist kompliziert genug: die Ukrainer und Ukrainerinnen prägten die Siedlung nach 1945 über Jahre hinweg. Es gab Schulen, Ausbildungsplätze, Chöre, Theatergruppen; die Straßennamen wurden ukrainisiert. Zeitungen und Bücher in ukrainischer Sprache erschienen. Viel Wert legte die gewählte wie selbsternannte ukrainische DP-Elite darauf, das eigene Nationalbewusstsein zu stärken. Eben dies taten auch die anderen DP-Gruppen, wenn auch örtlich zumeist an etwas anderer Stelle in Regensburg. Das Leben der verschiedenen Ethnien wie auch der DPs allgemein gegenüber der bayerischen Lokalbevölkerung und den vielen deutschsprachigen Flüchtlingen und "Heimatvertriebenen" verlief oft nebeneinander, zumeist in Konkurrenz und fast ständig in offenem Konflikt; eher selten im Miteinander.

Für die nächsten Monate ist meine Zwischenstation Regensburg, denn hier ist offiziell meine universitäre Anbindung. Mein Rucksack steht passenderweise in der Ganghofersiedlung, mein vorübergehendes Quartier. Neben Schreiben habe ich “Aufträge” von Nachkommen aus Australien. “Mein älterer Bruder ist in Regensburg geboren worden und dort als Kleinkind gestorben. Ich habe ihn nie kennengelernt. Kannst du mal schauen, ob es das Grab noch gibt?”, fragte mich jemand Anfang des Jahres in Adelaide. In Melbourne traf ich wenig später einen polnischen Nachkommen, der mir sein komplettes Privatarchiv übergab. Er wurde im Regensburger Dom getauft. Als er hier einmal vor vielen Jahren zu Besuch war, war der Dom wegen Bauarbeiten geschlossen. Bis heute ist er davon enttäuscht. “Würdest du mir ein Foto vom Taufstein schicken? Irgendwie wollte ich den immer mal sehen”, erzählte mir der heute fast 80-Jährige Staś. Einen Taufstein gibt es heute im Dom nicht mehr, wie ich herausfand. Doch ein paar Fotos vom Inneren des Doms - zumindest etwas.


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