Mit Geschichte(n) um die Welt
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Das Katyń-Museum. Oder: Insidertipp(s) für Warschau

Veröffentlicht: 19.09.2024

In der Warschauer Zitadelle kann man locker einen ganzen Tag verbringen. Das Gelände ist groß, heute eher eine Art Park, dazu gleich eine ganze Reihe von Museen, Außenausstellungen und Denkmälern. Ab 2026 soll auch noch der Gebäudekoloss “Museum der Geschichte Polens” dazukommen. Spätestens dann reichen 24 Stunden auf dem Gelände der Zitadelle nicht mehr. Ein Besuch lohnt sich aber bereits jetzt und das Folgende wird vor allem um das Katyń-Museum gehen [Katyń ausgesprochen in etwa “Katijnn”].


Neu ist das Museum nicht. In der derzeitigen Form existiert es seit dem 17. September 2015. Das Eröffnungsdatum war dabei symbolisch, wie so vieles in Polen: Es markierte den 76. Jahrestag des Einmarsches der Sowjetunion im Osten Polens 1939 - 17 Tage nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht im Westen. In der Folge wurden Zigtausende polnische Kriegsgefangene von beiden Besatzungsmächten eingenommen, Polen aufgeteilt, polnische Staatsbürger:innen vertrieben, ermordet, deportiert. Die Sowjetunion verschleppte “ihre” kriegsgefangenen Polen und Polinnen, deren Angehörigen und viele weitere Zigtausende ab 1939 ins Innere der Sowjetunion. 

1940 ermordete der sowjetische Geheimdienst NKWD etwa 20.000 dieser polnischen Kriegsgefangenen. Diese Massenerschießungen fanden an verschiedenen Orten statt. Der bekannteste ist dabei Katyń, unweit von Smolensk im westlichen Russland. Wird von “dem Katyń-Verbrechen” gesprochen, so ist dies in Polen eine Chiffre. Es geht um die Ermordung der polnischen Offiziere und Soldaten in der Nähe von Smolensk wie auch Kyiv, Charkiw, Mednoje im russischen Oblast Twer, Kuropaty bei Minsk und womöglich auch weitere Orte. Es steht aber auch für ein lang verschwiegenes Verbrechen, Geschichtsklitterung und -manipulation.


Blick in die Ausstellung zu den Exhumierungsfunden

Das Katyń-Museum erzählt genau diese Geschichte(n): die von Deportationen in die östliche und nördliche Sowjetunion sowie nach Zentralasien; die von oft bis heute namenlosen Soldaten und Soldatinnen aus Polen; die von einer politisch hochbrisanten und oft missbrauchten Vergangenheit. Es erzählt vom Verdecken und Aufdecken dieser Massenerschießungen. Und es zeigt Tausende von Objekte, die bei Ausgrabungen an den verschiedenen Erschießungsorten in den 1990er Jahren gefunden wurden. Diese schiere Masse an Gegenständen erschlägt auf den ersten Blick - und ermöglicht zugleich auf den Zweiten einen doch ganz Konkreten auf ein namenloses Schicksal eines Menschen. Die Ausstellung ist beeindruckend und auch wenn die meisten Ausstellungstafeln nur auf Polnisch sind, so hilft ein Audioguide in anderen Sprachen.



Essgeschirr, Briefe, Ringe, Fotos, Knöpfe, Uniformteile, Amulette, Militärabzeichen, Brieftaschen, Uhren, Zigarettenetuis, alles was in den 1990er Jahren gefunden wurde - und was noch übrig war nachdem es bereits mehrfach vor Ort Exhumierungen gegeben hatte.

Die erste Exhumierung organisierten bemerkenswerterweise die deutschen Besatzern während des Zweiten Weltkrieges. Die Nationalsozialist:innen waren sich im Klaren, dass “ihr” Fund der ermordeten polnischen Kriegsgefangenen für sie etwas darstellen sollte, das für die eigene Propaganda ausgenutzt werden sollte. Die Sowjetunion als der große Feind, als diejenigen - in diesem Sinne die einzigen - die Zivilisationsbruch begehen würden und begangen hätten. Das Verbrechen hatte eine enorme politische Sprengkraft. Die nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion begangenen Verhandlungen zwischen der polnischen Exilregierung und Stalin, die zur Gründung der sogenannten polnischen “Anders-Armee” führten (siehe Blogbeitrag zu Monte Cassino), brachen ab. Zu schwer wogen die Vorwürfe; die Sowjetunion schwieg - und bezichtigte die Deutschen der Verbrechen. Nach 1944/45 klammerten die Alliierten - und damit auch die USA und Großbritannien - die Verbrechen von juristischer Aufklärung aus. Exilpolen und -polinnen prangerten die sowjetischen Verbrechen an: Katyń, das große Symbol, das zeigte, dass die Sowjetunion auch eine Verbrechernation sei, der man sich entgegenzustellen habe, die Unheil über das östliche Europa gebracht habe (und in diesem Sinner immer noch bringen würde). Doch fanden die exilpolnischen Stimmen kaum Gehör. In der Volksrepublik Polen wurden die Morde totgeschwiegen oder alternativ den deutschen Besatzern angehängt.

Erinnern und Mahnen im Exil

Eine wirkliche (Gegen-)Erinnerung konnte nur in der polnischen Diaspora im westlichen Ausland stattfinden. Träger dieser Erinnerung waren vor allem diejenigen, die den Erschließung knapp entkamen: diejenigen, die ab 1941/42/43 zunächst Teil der “Anders-Armee” (nach General Władysław Anders) und dann des 2. Polnischen Corps wurden (siehe dazu hier auf dem Blog). Eines der zentralen Aufgaben dieser (exil)polnischen Veteranenverbände wurde das Gedenken an die Opfer von Katyń sowie dem Aufdecken der sowjetischen Verbrechen an polnischen Staatsbürger:innen, inklusive der Massendeportationen nach dem 17.9.1939. Wer sich heute auf die Spuren polnischer Displaced Persons begibt, wird auf der ganzen Welt Katyń-Denkmäler finden. Eines der ersten außerhalb Europas wurde dabei im australischen Adelaide errichtet.

Katyń Denkmal in Adelaide, Australien

2010 wurde Katyń und die dortigen Verbrechen von 1940 in westlichen Medien bekannter: nun durch die Katastrophe von Smolensk. Das Regierungsflugzeug und damit der polnische Präsident Lech Kaczyński sowie die gesamte polnische Delegation, die zum 70. Jahrestag nach Katyń reiste, stürzten ab. Es gab keine Überlebenden. In Polen herrschte Ausnahmezustand. Bis heute gibt es in Polen Mahnwachen für eben auch diese Opfer. Gerüchte halten sich fest: demzufolge soll der Flugzeugabsturz ebenfalls ein Mord der Russen gewesen sein. Putin als der zentrale Drahtzieher - und, so die Verschwörungstheorie, in enger Zusammenarbeit mit Donald Tusk, dem politischen Gegner der Rechtskonservativen und somit auch der beiden Kaczyński-Brüder. Einige verknüpften diese Tragödie von Smolensk mit den sowjetischen Massenerschießungen der polnischen Soldaten und einem weiterem Flugzeugabsturz: dem von Władysław Sikorski, dem damaligen Ministerpräsidenten im Exil, 1943 über Gibraltar. Die polnische Geschichte, so die Erzählung, ist eine Aneinanderreihung von Tragödien, Martyrium und (Helden-)Kampf um die polnische Unabhängigkeit. Vom Flugzeugabsturz 2010 ist im Museum selbst erstaunlich wenig zu finden. 

Gedenken an die Opfer der Tragödie von Smolensk (2010)

Das Museum ist ein wirklich guter Ausgangspunkt um sich die Geschichte des Zweiten Weltkriegs aus einer anderen, nicht westlichen Perspektive zu vergegenwärtigen. Hingehen!


PS: Weitere Museen sind (ohne Reihenfolge): das Polin, das Warschauer Stadtmuseum, das Museum des Warschauer Aufstandes und wohl in Zukunft, da derzeit ebenfalls im Entstehen, das Museum des Warschauer Ghettos. Die Stadt hat einen tollen vibe und strotzt vor Veränderung und Zukunft, egal ob in der Altstadt, zwischen den Hochhäusern, in Parks oder an der Weichsel. Wenn mich jemand fragt, wie lange man/frau in die polnische Hauptstadt solle, meine Antwort klar: lang. Zu entdecken gibt es viel! Und wenn man/frau genug von Museen und Geschichte(n) hat, ist die Altstadt und Nowy Świat zwar nett (und touristisch), viel schöner ist es aber um den Plac Konstytucji und Plac Zbawiciela oder einfach an der Weichsel!

Warschau - Hinfahren!


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