Veröffentlicht: 20.05.2024
Eigentlich mag ich große Gedenkveranstaltungen und auch Gedenkstätten nicht.
Das mag irritieren, denn es ist mein Arbeitsfeld.
Vielleicht kommt es aber auch gerade daher.
Was mir nicht gefällt ist das Festgelegte, oft Eingefahrene; das standardisierte Erinnern; das mir manchmal, oft als leer, ausgehöhlt erscheinende Gedenken. Oft ist vieles total bekannt, erwartbar, eingespielt. Gerade Gedenkfeierlichkeiten, Jahrestage sind oft ein großer Zirkus – für Politik; zum Gesehen werden, zum (Aus-)Nutzen des Gewesenen und damit auch der Toten für etwas völlig Anderes.
Dazu findet das Meiste in Echokammern statt: Gruppen erzählen sich selbst, was sie hören wollen, erzählen über und für sich selbst; das Erinnern ist oft in erster Linie auf sich, auf die eigene Gemeinschaft bezogen; sind andere Gruppen dabei, wirken diese oft lediglich als Statisten.
Es wird viel geredet; von Solidarität, vom Zusammensein, von Freiheit, von Frieden, von einer besseren Welt und manchmal vom vermeintlichen Sinn, den der Tod dieser Toten für das Heute gehabt habe. Vieles ist ein großes Schauspiel, manchmal ein „Versöhnungstheater”, manchmal und oft auch zum Intensivieren von Nationalismus genutzt. Und dann ist es aber auch ein großes Trauern, eine Suche nach Sinn, kollektiv und individuell, eine Suche vor allem nach Halt. Trotz aller Kritik und allem Unwohlsein, für Angehörige, Nachkommen und vor allem Überlebende und, an ehemaligen Schlachtfeldern, Veteranen, sind Gedenkveranstaltungen wichtig. Menschen reisen aus der ganzen Welt für solche Veranstaltungen an. Und so ja auch ich.
Die Idee, nach Europa zu einem 80. Jahrestag einer der wichtigsten Schlachten im Zweiten Weltkrieg zurückzukehren, nach Monte Cassino, ist schon….sagen wir speziell. Fair enough! - Passt schon!
Nachdem aber Monte Cassino sowohl Down Under als auch in der polnischen [Diaspora-] Community ein riesiges Ding ist und viele damit etwas anfangen können, dachte ich: „Warum nicht?” und fand keine Gründe dagegen, außer, dass ich auf der Südhalbkugel bleiben wollte (was auch keine Überraschung war/ist).
Staatsakt in Ländern auf der ganzen Welt. Und vor allem vor Ort, in dem kleinen Städtchen mit heute 35.000 Einwohner:innen; mehr oder weniger auf halber Strecke zwischen Rom und Neapel.
In und um Cassino fand vor allem im Frühjahr 1944 eine der größten und wichtigsten militärischen Schlachten des Zweiten Weltkrieges statt. Manche nannten das mehrmonatige Blutvergießen, Kämpfen vor Ort und aufgrund der vielen Beteiligten aus der ganzen Welt auch Völkerschlacht des 20. Jahrhunderts.
In Polen und gerade in der polnischen Diaspora ist Monte Cassino ein Heldenmythos, vielleicht der Erinnerungsort polnischer Soldaten schlechthin; gleiches gilt für Neuseeland, denn vor allem ein Māori-Batallion hat hier auf britischer Seite 1944 gekämpft. Die neuseeländische Erzählung über Cassino rangiert zwischen Heldengeschichte und Erzählungen über das Dasein als Kanonenfutter der Briten.
Viele Māori hatten sich zum Kriegsdienst freiwillig gemeldet, in der Hoffnung, als Staatsbürger der britischen Welt wirklich anerkannt zu werden. Ihre Kampfbereitschaft wurde zum Zeitpunkt des Gebrauchtwerdens gern gesehen, doch war diese mit Kriegsende schnell vergessen. In Neuseeland waren die überlebenden Veteranen wieder Bürger zweiter Klasse. Die Diskriminierung der Māori im als weiß und britisch verstandenem Neuseeland ging nach 1945 in eine nächste Runde.
Die polnischen Beteiligten waren im sogenannten 2. Polnischen Corps organisiert und hatten eine ganz eigene und vor allem komplizierte Geschichte: Zunächst mit Beginn des Zweiten Weltkrieges nach Osten in die Sowjetunion verschleppt (NS-Deutschland hat Polen am 1. September, die Sowjetunion Polen ab dem 17. September 1939 von Osten her besetzt). Polnische Soldaten kamen somit ab 1939 in deutsche wie sowjetische Kriegsgefangenschaft. In der folgenden Zeit ermordete der NKWD, der sowjetischen Geheimdienst, in Katyn und anderswo über 22.000 polnische Offiziere - von NS-Deutschland an dieser Stelle aus Platzgründen ganz zu schweigen.
Die polnischen Kriegsgefangenen und dann nach Sibirien deportierten polnischen Staatsbürger:innen wurden nach 1941 amnestiert - NS-Deutschland hatte die Sowjetunion angegriffen und Soldaten wurden gebraucht. Die weit über 300.000 polnischen Staatsbürger:innen aller Religionen, die noch 1939/40/41 ins Innere der Sowjetunion deportiert wurden, erschienen nun als günstige Verfügungsmasse. Viele durften nach längerem Hin und Her die Sowjetunion über Zentralasien und Persien verlassen und kämpften im Folgenden an der Seite der Westalliierten, hier vor allem auf Seite der Briten. Diese polnische Formation nannte sich “Anders-Armee” (nach deren General Władysław Anders) und ging dann im sogenannten 2. Polnische Corps auf.
Das Wissen darüber ist in der “außerpolnischen Welt” und so auch in der deutschen Mehrheitsgesellschaft zumeist nicht vorhanden
und es wird noch komplizierter:
eben diese (Exil-)Polen kämpften in Italien, unter anderem in Monte Cassino, und wurden später zum Rückgrat der polnischen Displaced Persons im deutschsprachigen Raum und dann der nochmals späteren weltweiten polnischen Diaspora. Die rechtmäßige polnische Regierung war für sie die Exilregierung in London. Sie erkannten die spätere kommunistische Regierung in Warschau unter sowjetischer Einflussnahme nicht an. Nach Kriegsende wurden diese polnischen Soldaten des 2. Polnischen Corps von verschiedenen Seiten und vor allem von den Kommunist:innen als wahlweise Kollaborateure, Nazis, Antisemiten und Verräter verunglimpft. Bei manchen stimmte das, bei den meisten nicht.
Was das Zweite Polnische Corps vereinte, war der Kampf für ein freies und unabhängiges Polen. Sie kämpften somit gegen NS-Deutschland UND die russischdominierte Sowjetunion.
Sowohl die Polen als auch die Māori kämpften in der gleichen Schlacht um vor allem einen Berg, auf dem ein Kloster stand und (auch heute wieder) steht: Monte Cassino.
Der Ort war symbolisch mehr als aufgeladen: er galt als militärisch unbesiegbar, aber auch als direkter Weg nach Rom, als zutiefst christlicher Ort, denn das Benediktinerkloster galt als einer der ältesten christlichen und vor allem katholischen Vorposten in Süditalien, sogar als Mutterkloster der Benediktiner.
Die Māori und Polen kämpften nicht nur an der gleichen Front und auf der gleichen Seite, sie kämpften auch mit Männern aus Indien, mit Kanadiern, Briten, Südafrikanern, Amerikanern, Marokkanern und Franzosen. Die Welt gegen den deutschen Naziterror. So erschien es den Beteiligten, so war es auch, so wird es auch erinnert.
80 Jahre später allen Opfern dieses Blutbades zu gedenken, ist eine Herausforderung. Für einige Länder ist es ein Ort des Heldenkampfes, für einige ein Ort der Trauer, für einige ist es ein Ort des Stolzes. Für die meisten ist es etwas Dazwischen. Einige wollen und brauchen Religion, gerade an diesem christlich aufgeladenen Ort; andere sind dagegen, denn: welche Religion soll, muss, kann dominieren? Es waren auch Orthodoxe, Protestanten, Juden, aber vor allem auch Atheisten, Hindus und Muslime unter den Soldaten.
Der 18. und 25. Mai 1944 gelten als die bedeutendsten Tage der Schlacht. Am 18. Mai hatte das 2. Polnische Corps das bereits völlig zerstörte Kloster auf dem Berg eingenommen – nachdem zuvor über Wochen hinweg andere alliierte Einheiten erfolglos das Gleiche versucht hatten.
Die polnische Flagge wehte am 18. Mai 1944 über den Klosterruinen, der Hejnał Mariacki, das Tromeptenspiel, das aus Krakau bekannt ist, ertönte von den Trümmern des Klosters kurz vor der Mittagszeit.
Eine Woche später waren auch weitere Berge eingenommen. Die Schlacht galt als beendet; der Weg nach Rom war frei. Die alliierten Soldaten wurden im Vatikan begrüßt. Von Letzterem gibt es hunderte von Fotos im Privatbesitz der Veteranen.
Wie an all das 80 Jahre später erinnern? Staatlich und multinational und auf mehreren Friedhöfen?
Schwierig.
Die verschiedenen Veranstaltungen, die ich besuche, sind irgendwas zwischen Trauer, Großveranstaltung, Schauspiel bis Karneval, Nationalismus, Nationalchauvinismus und (wenig) Solidarität bei gleichzeitigem Appellieren an Zusammenarbeit und Empathie.
Für mich am Bewegendsten waren die beiden kleinsten aller offiziellen Veranstaltungen: die der Māori aus Neuseeland.
Es war „casual”, wie die Kiwis, die Menschen in Neuseeland, eben oft sind. Nicht abgehoben oder zu formell und steif, sondern einladend und freundlich, hart, aber auch sehr herzlich. Auch einmal das Protokoll unterbrechen, wenn die Emotionen zu hoch sind, um weiterzumachen.
Sie waren meiner Meinung nach die Einzigen, die es schafften, wirkliche multikulturelle Solidarität herzustellen; deren Gedenken so echt und authentisch wirkten, deren Gedenken einladend war. Auffallend zudem: in diesen Reden beim neuseeländischen Erinnern fanden nicht nur die zivilen italienischen Opfer einen Platz, sondern auch die ehemaligen Feinde der Māori, für die sie ebenfalls beteten.
Jetzt weiß ich nicht, inwiefern das zusammenhängt, doch eine Māori sprach mich an und fragte, ob ich Britin sei. Sie habe mich mehrfach die Tage gesehen. Ich muss lächeln: „Nein, ich bin aus Deutschland. “ – Sie: „Ich schreibe ein Buch über meinen Vater, der hier am Bahnhof erschossen wurde. Ich würde gern mehr über die deutsche Seite erfahren. Was gibt es dazu in den Archiven?”
Ich muss passen, Militärhistorikerin bin ich nicht. „Ich kenne aber jemanden, der vielleicht was wissen könnte.” Sie gibt mir ihre Karte, sie stellt mich jemandem vor, offensichtlich jemand mit Einfluss. Ich komme nicht ganz hinterher, höre nur, wie begeistert über mich gesprochen wird. Der Māori mit grauen Haaren und traditionellen Tattoos trägt einen Neuseeland-Strohhut; schaut mich an, fragt, nein, viel mehr stellt fest „Deutschland!”. Ich nicke.
Er nimmt seinen Hut ab, packt meine Hand, zieht mich an sich ran und küsst meine Wangen, links, rechts, umarmt mich herzlich, lang. Ich bin überrascht, irgendwie gerührt, irgendwie auch irritiert. Was passiert hier? Damit hatte ich nicht gerechnet.
„Warst du mal in Neuseeland?” werde ich gefragt - „Da komme ich grad her”, sage ich mit brüchiger Stimme. Er packt meine Hand in seine, schaut mir in die Augen. Er sagt es nicht, aber ich meine, das heißt „Gut!”.
Es folgen Tänze, Gesänge, der Haka, der traditionelle Māori-Tanz; inmitten des Māori-Gräberfeldes auf dem Commonwealth-Friedhof. Tanzen auf den Gräbern der Toten des Māori-Battalions, die hier 1944 umgekommen sind.
Ich bin gerührt, ich kann es nicht anders beschreiben. Es sind schöne, traurige, mitreißende Gesänge und dann auch wieder beeindruckend und einschüchternd (der Haka).
„Morgen 6:30 Uhr am Bahnhof. Da haben wir eine Gedenkveranstaltung. Das war der wichtigste Ort für unsere Jungs!” – „Ich komm´ vorbei”, sage ich. „For sure.” – „Sicher!”
Ich stelle ein paar Fotos zu Monte Cassino online, bekomme kurz vor dem Gedenken am Bahnhof am frühen Morgen europäischer Zeit eine Nachricht aus Neuseeland. „Kia ora Sarah – I have relatives who are buried in the Cassino War Cemetery at Monte Cassino. Thank you for attending the remembrance service.” Eine Nachricht von einem Feuerwehrmann und stolzen Māori aus Titahi Bay, meinem damaligen Neuseeland-Zuhause. - "Kia ora Sarah - Ich habe Verwandte, die auf dem Cassino Kriegsfriedhof in Monte Cassino begraben sind. Danke, dass Du an der Gedenkfeier teilgenommen hast".