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Vom Verfall der Illusion

Veröffentlicht: 05.11.2020

Ich misstraue meinem Gehirn. Offenbar ist es Meister darin, Dinge passend zu machen, die es nicht sind. Es bedient sich hemmungslos der Fantasie und erfindet Geschichten wie die Gebrüder Grimm es taten. Vorhang auf für mein Pulloverdrama. Vor kurzem habe ich mir einen wahnsinnig schönen, bequemen und teuren Lismer aus Merinohaar gekauft. 100 % Made aus Swiss Schaf und gestrickt von Frau Müller next door. Mein grünes Gewissen triumphiert, denn das Ding kann ich am Ende seiner Tage sogar kompostieren. Diese Tage sind nun allzu schnell gekommen, da mein Pullover sich allmählich auf meiner stählernen Brust auflöst. Schon etliche Male hat meine Schwiegermutter ihn vor dem endgültigen Zerfall mit der Nadel gerettet und langsam sieht er mit all seinen Nähten aus, wie das malträtierte Gesicht eines Boxers. Doch das alles blendet mein schizophrenes Gehirn gekonnt aus, denn es liebt die Geschichte von meinem wundervollen Ökopullover, der in Ermatingen ohne todbringende Chemie produziert wurde. Die graue Masse im Oberstübchen geht sogar weiter und gaukelt mir vor, dass ich den anderen Pullover im Sortiment auch noch kaufen müsste.

Eine kluge Frau hat einmal gesagt, dass wenn wir nur noch das sehen, was wir zu sehen wünschen, wir in der geistigen Blindheit angelangen würden. Bevor ich in einem weiteren hochauflösenden Biopulli die Weltbühne betreten werde, sollte ich vielleicht den Kauf überdenken.

Die andere Variante wäre es an meiner schönen Geschichte festzuhalten und einen Nähkurs zu besuchen, um meine Illusion ein bisschen länger zu bewahren. Ökopullies sind sicherlich per se nicht schlechter als andere Kleider. Der hohe Preis ist mehr als gerechtfertigt, um Arbeitern wie Frau Müller und unseren Kindern in Zukunft ein anständiges Leben zu ermöglichen. 

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