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Tag 12 - 17: Von Trailabbrüchen und Tramily

Veröffentlicht: 24.04.2022

Tag 12: Wir sind um 07:30 zurück am Highway 74 und begeben uns in die San Jacinto Mountains. Zunächst führt der Trail leicht bergauf und ich komme gut voran. Es geht durch kleine Schluchten, bis irgendwann der Bergkamm erreicht ist, auf dem es stetig auf und ab geht. Es ist schon wieder unfassbar windig. Mehrmals "leapfroge" ich mit Alex, das heißt wir überholen uns gegenseitig, wenn einer Pause macht. Den Rest der Gruppe sehe ich schon früh am Tag nicht mehr. Mit der Zeit wird das Gelände anspruchsvoller, ich komme aber weiter gut voran. Butterfly, die zusammen mit Barry in Idyllwild nur zwei "Neros" (nearly zero) eingelegt hat, hat uns gestern geschrieben, dass sie zum Sonnenaufgang auf dem Gipfel des Mount San Jacinto sein wollen. Ich glaube nicht, dass sie das bei dem Gelände schaffen werden, ich jedenfalls verwerfe den Gedanken daran. Inzwischen laufe ich durch ehemalige Waldbrandgebiete und es gibt eine Menge umgestürzte Bäume, über die ich klettern oder unter denen ich durchkriechen muss, teilweise auch mit abgesetztem Rucksack. Ich bin etwas paranoid. Am Samstag habe ich beim Mittagessen Pop-Rock und Tiger kennengelernt. Die zwei sind diesen Abschnitt des Trails schon gelaufen und über einen Sidetrail nach Idyllwild gekommen. Sie haben mir erzählt, dass sie mehrmals an Poodle-Dog-Bush vorbeigekommen sind, einer extrem giftigen Pflanze. Bei Kontakt bleibt einem nichts anderes übrig, als den Notruf zu wählen. Ich schaue mir Bilder an und weiß, dass die Pflanze stark nach Gras riecht. Bisher konnte ich sie aber noch nicht entdecken. Als ich später die Karte auf meinem Handy checke riecht es plötzlich wie vor einem holländischen Coffeeshop. Ich sehe mich um und tatsächlich steht etwa einen Meter neben dem Trail ein Poodle-Dog-Bush. Es beruhigt mich, die Pflanze jetzt in echt gesehen zu haben und tatsächlich wächst sie teilweise fast auf dem Trail, es gilt also, aufmerksam zu bleiben. Als ich weitergehe finde ich unter einem Baum, unter dem man wieder einmal durchkriechen muss, ein Paar rote Crocks. Da mir den ganzen Tag nur eine Person entgegengenommen ist und ich nicht überholt wurde, müssen sie jemandem gehören, der vor mir ist. Ich hänge sie also an meinen Rucksack und gehe weiter. Schon nach 5 Minuten hole ich zwei Hiker ein, Weed und Valkyrie. Die Crocks gehören tatsächlich Valkyrie, die noch gar nicht bemerkt hat, dass sie sie verloren hat. Sie bedankt sich und fragt, ob sie ein Foto machen und für ihren YouTube Channel verwenden kann. Damit gibt es inzwischen zwei YouTube Channel, auf denen ich wahrscheinlich früher oder später zu sehen bin. Nach 23,6 Meilen (38km) und 2003 Höhenmetern schlage ich bei Trailmeile 175,4 endlich mein Zelt auf, einigermaßen windgeschützt durch einen großen Felsen. Der Tag war extrem anstrengend und trotzdem der bisher schönste auf dem Trail, was die Aussicht angeht. Endlich ging es einmal hoch hinaus. Von meinem Zeltplatz aus sehe ich die Lichter der Städte im Tal. Ich freue mich schon darauf, morgen auf dem Gipfel von Mount San Jacinto zu stehen.
Tag 13: Der Wind heute Nacht war übel, eigentlich muss man wohl von einem Sturm sprechen. Ich campe mit sechs anderen zusammen und mein Zelt ist das einzige, das stehen bleibt und nicht zusammenbricht. Dementsprechend wenig ausgeschlafen und ausgeruht geht es in den nächsten sehr anstrengenden Tag. Zunächst gibt es wieder viele Blowdowns zu überwinden und immer wieder verliere ich den Trail und muss ihn über das Handy und GPS suchen. Der Wind ist nach wie vor so stark, dass ich manchmal Schwierigkeiten habe, dagegen anzukommen. Irgendwann erreiche ich aber die Abzweigung zum Gipfelaufstieg. Der Gipfel liegt nicht auf dem PCT, sondern wird über einen Sidetrail bestiegen. Ich warte auf Alex und gemeinsam machen wir uns auf den Aufstieg. Dieser ist anspruchsvoll, aber nichts, was ich nicht aus den Alpen kenne. Es gibt ein paar Schneefelder zu überqueren und ich bin froh, die Microspikes besorgt zu haben. Nach etwa zwei Stunden erreichen wir den Gipfel des 3302 Meter hohen Mount San Jacinto.
Mount San Jacinto

Die Aussicht belohnt uns definitiv für die Mühen des Aufstiegs, aufgrund des starken Windes machen wir uns aber schnell wieder an den Abstieg. Dabei kommt uns Will entgegen. Will ist der zweite Hiker, der mir am ersten Tag geholfen hat. Er erzählt uns, dass sich Hillary den Knöchel verletzt hat und fünf Monate nicht wandern kann. Hillary habe ich zu Beginn in CLEEF kennengelernt, wir sind uns immer wieder begegnet, haben uns unterhalten und zusammen gecampt. Sie ist die erste, die ich wirklich kannte und die den Trail abbrechen musste. Und obwohl mir klar war, dass das passieren wird und wir nicht alle Kanada erreichen werden, ist der Gedanke jetzt wesentlich realer und erschreckender. Vor allem, da sie keinen Fehler gemacht hat, sondern einfach blöd aufgetreten ist und Pech hatte. Das ist genau das, wovor ich die größte Sorge habe. Mit durch diese Nachricht gedrückter Stimmung geht der Abstieg weiter. Spätestens jetzt bin ich heilfroh um die Spikes, ohne die der Abstieg doch wesentlich gefährlicher geworden wäre, da es immer wieder durch Schnee geht. Der Wind ist nicht mehr so stark wie gestern, aber immer noch heftig. Dadurch wird es auch zunehmend kälter und als wir gegen 17 Uhr den Zeltplatz erreichen, schlagen wir die Zelte auf und verbringen den Abend jeder für sich, um uns von den letzten zwei harten Tagen zu erholen.

Tag 14: Wir haben unsere Zeltplätze sehr gut gewählt und konnten hervorragend schlafen. Heute steigen wir innerhalb von 20 Meilen die komplette Höhe ab, die wir in den letzten zwei Tagen gewonnen haben. Nur um dann in den nächsten Tagen fast genauso hoch in die San Gorgonio Mountains aufzusteigen. Während des Abstiegs bietet sich ununterbrochen ein hervorragender Ausblick ins Tal. Immerhin macht man sich den Wind, mit dem wir seit Beginn an kämpfen, hier zu nutze und hat eine große Windfarm aufgestellt. An einer Stelle hätte der Wind mich beinahe vom Trail gepustet, was an dieser Stelle nicht sehr empfehlenswert gewesen wäre. Außerdem überqueren wir die 200 Meilen Marke.

Am Fuß des Berges geht es zur Interstate 10. Auf den letzten drei Meilen kommt der Wind direkt von vorne und ich muss mich richtig dagegen stemmen, um voran zu kommen. Und es gibt ein gratis Ganzkörper-Sand-Peeling. An der Interstate angekommen hitchhiken wir nach Cabazon, um für die nächsten Tage nach Big Bear City Vorräte aufzufüllen. Und in Cabazon gibt es den einzigen In 'n' Out Burger am Trail, der natürlich besucht wird. Inzwischen hat mein Hikerhunger definitiv eingesetzt und ich könnte ohne Ende essen. In Cabazon treffen Alex und ich auch Natalie und Beans wieder, Cheese stößt später unter der Interstate Unterführung wieder zu uns. Es ist sehr schön, alle wieder zu sehen. Beans und Cheese bekommen in Big Bear besuch von Freunden und Familie. Dafür haben sie bereits eine Unterkunft gebucht und laden uns ein, auch dazuzukommen. Es scheint so, dass vor allem Cheese, der Besuch von seiner Tochter bekommt, ihr seine "Tramily" (Trail + Family) vorstellen möchte. Und das sind wir inzwischen tatsächlich, eine kleine Tramily, daher nehmen wir das Angebot gerne an. Da der nächste geeignete Zeltplatz neun Meilen entfernt ist und es unter der Unterführung windgeschützt ist, cowboycampen wir mit insgesamt etwa 18 Hikern unter der Brücke. An den Verkehrslärm wird man sich schon gewöhnen. Cowboycampen bedeutet eigentlich, dass man ohne Zelt unter freiem Himmel schläft. Ohne Zelt, aber unter einer Brücke ist wohl ein bisschen geschummelt, für den Einstieg aber nicht verkehrt.

Cowboycampen unter der Interstate
Tag 15: Tatsächlich gewöhnt man sich schnell an die Geräusche der Autos und ich kann recht gut schlafen. Ich wandere die erste Zeit mit Natalie. Wenn andere dabei sind sprechen auch wir Englisch miteinander, daher ist es sehr schön, mal wieder eine Weile Deutsch zu sprechen. Unterhaltungen auf Englisch klappen zwar sehr viel besser, als erwartet und zunehmend besser, denn noch kann ich mich bei weitem nicht so detailliert und nuanciert ausdrücken, wodurch ich von mir selbst teilweise einen etwas dümmlichen Eindruck habe. Wir sprechen über deutsche, schweizer und ganz allgemein über Politik und über unsere bisherigen Eindrücke und zukünftigen Erwartungen an den Trail. Es war ein sehr gutes Gespräch und die ersten Meilen fliegen vorbei. Danach gilt es einen Höhenzug zu überwinden und danach steigen wir zum Whitewater River ab. Es ist seit Beginn der erste richtige Fluss und wir könnten keine größere Freude haben. Wir rasten lange, baden und waschen und essen. Da wir schon 10 Meilen geschafft haben und es gerade mal halb elf ist haben wir keine Eile.
Baden mit der Tramily

Irgendwann machen wir uns dann aber wieder auf den Weg. Wir überqueren den nächsten Höhenzug und steigen ab zum Mission Creek. Diesem folgen wir mehrere Meilen, wodurch wir ausnahmsweise nicht mehrere Liter Wasser tragen müssen. Und campen mit Wasser in der Nähe ist einfach angenehmer als Dry Camping. Als ich mein Zelt aufbaue, fällt mir plötzlich ein Stein vor die Füße. Ich habe keine Ahnung, wie mir das nicht auffallen konnte, aber offensichtlich habe ich einen der Steine, die ich zum Beschweren des Zeltes als Unterlage beim Cowboycamping verwendet habe, in das Zelt gewickelt und mitgeschleppt. Ich verbuche das mal als Training. Zum Abendessen habe ich "Mystery Powder", eine selbstgemachte Mahlzeit eines Hikers, die man aus einer Hikerbox hat und daher nicht genau weiß, was darin ist. Hikerboxen findet man in jeder Trailstadt, entweder in einem Hostel, einem Laden oder einem ähnlichen Anlaufpunkt für Hiker. In den Boxen hinterlässt man Ausrüstung, die man nicht mehr braucht oder Essen, auf das man keine Lust mehr hat oder von dem man zu viel hat. Ich habe Glück, das Essen ist hervorragend. Couscous mit geröstetem Knoblauch, Linsen, Rosinen und Mandelsplittern. Nach dem Essen unterhalten wir uns noch ein wenig und Beans führt uns durch eine Meditation. Außerdem hat Alex heute seinen Trailname bekommen: "Gumby". Scheinbar eine Knetanimationsfiger, die ich aber nicht kenne. Zwischen beiden besteht wohl eine gewisse Ähnlichkeit. Alex und Beans sind darauf gekommen. Ich schaue mir die Figur bei nächster Gelegenheit einmal an. Jetzt geht es ins Bett, durch die Nähe zum Wasser hört man Frösche. Eine angenehmere Geräuschkulisse als der Verkehrslärm von letzter Nacht.

Tag 16: Heute Nacht hat es das erste Mal auf dem Trail geregnet, aber ich mag das Geräusch von Regen auf dem Zelt. Wir starten gegen 06:30. Da wir dem Lauf des Mission Creek folgen und es einige Washouts gibt, verlieren wir den Trail immer wieder und müssen uns durch die Büsche und die Böschungen hinauf und hinunter schlagen. Das kostet Zeit und ist anstrengend. Für mich ist dieser Morgen der bisher anstrengendste Teil des Trails. Weniger psychisch als viel mehr mental. Obwohl ich nicht viel langsamer bin als sonst fühle ich mich, als würde ich mit angezogener Handbremse laufen. Zum Glück legt sich das Gefühl nach ein paar Stunden. Wir steigen auf in die San Gorgonio Mountains auf bis zu 2660 Meter Höhe. Hier hat es letzte Nacht geschneit und wir laufen durch verschneite Wälder und auf manchen Trailabschnitten liegt der Schnee fast knöchelhoch. Auch über den Tag verteilt schneit es immer wieder. Und teilweise ist es verdammt kalt. Es ist schwer vorstellbar, dass wir vor gerade einmal 24 Stunden bei 30 Grad im Fluss baden waren. Wieder einmal staune ich über die Vielseitigkeit des Trails, haben wir doch gerade erst einmal 250 Meilen geschafft. Wir schlafen auf einer Höhe von 2550 Metern. Ich bin gespannt, wie kalt es heute Nacht wird. Bisher ist es im Zelt sehr angenehm und es ist windstill, ich mache mir also keine Sorgen. Ich kann es kaum erwarten, morgen nach Big Bear City zu kommen.
Tag 17: Ich wache auf und schalte meine Taschenlampe an. Die komplette Innenseite meines Zeltes glitzert, da sie von Reif bedeckt ist. Diese Nacht hatte es -5 Grad und in meinen Flaschen schwimmt Eis. Trotzdem ist es beruhigend, da ich bei weitem nicht alles an hatte, was ich hätte anziehen können und trotzdem nicht gefroren habe. Falls es also noch kälter werden sollte, werde ich trotzdem keine Probleme haben. Da wir möglichst früh in Big Bear sein wollen, starten wir um 6 Uhr und fliegen geradezu über den Trail. Bis zur Straße sind es 15,1 Meilen (24km), die wir in fünf Stunden zurücklegen. Da wir als Anhalter kein Glück haben, rufen wir ein Taxi, welches in 15 Minuten da sein soll. Eine dreiviertel Stunde später stehen wir immer noch an der Straße. Doch dann haben wir Glück, ein Mann aus der Nähe bringt seinen Bruder zurück zum Trail, der auch den PCT hiket und die Gelegenheit genutzt hat, eine Nacht zu Hause zu verbringen. Auf dem Rückweg nimmt er uns mit in die Stadt. Dort haben wir erstmal Frühstück/ Mittagessen und ich muss sagen, ich liebe amerikanisches Frühstück. Die Auswahl ist großartig, Hashbrowns absolut fantastisch und auch der Coffeerefill hat einiges für sich. Genauso wie das kostenlose Wasser, das man grundsätzlich in jedem Restaurant bekommt. 
Breakfast

Nach dem Frühstück treffen wir Barry und Butterfly wieder, die gestern hier angekommen sind und einen Zero hier verbringen. Da wir noch nicht in unser Airbnb können, gehen wir Bier trinken und so bald wie möglich in unsere Unterkunft. Diese ist großartig, neben einer Waschmaschine und einem Trockner gibt es sogar einen Whirlpool, den wir natürlich nutzen. Zum Abendessen gibt es selbstgemachte Tacos, die hauptsächlich eine Freundin von Cheese mit ihrer Tochter vorbereitet und die hervorragend werden. Wir sind eine richtig große Gesellschaft, da sind Beans, Cheese und seine Tochter, Cheese Freundin mit Tochter, ein Freund von Beans, Gumby, Natalie, Will, Barry, Butterfly und ich. Es ist ein schöner und geselliger Abend, an den ich gerne zurückdenken werde. Morgen wollen wir dann nach dem Frühstück einkaufen gehen und gegen 13 Uhr wieder auf dem Trail sein. Für die nächsten 150 Meilen geht es nach Westen, bevor wir dann wieder nach Norden schwenken und unserem eigentlichen Ziel, Kanada, entgegenlaufen. Und mit 266 Meilen haben wir nach heute 10 Prozent des gesamten Trails geschafft.

Big Bear Lake


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