Veröffentlicht: 24.04.2022
Die Aussicht belohnt uns definitiv für die Mühen des Aufstiegs, aufgrund des starken Windes machen wir uns aber schnell wieder an den Abstieg. Dabei kommt uns Will entgegen. Will ist der zweite Hiker, der mir am ersten Tag geholfen hat. Er erzählt uns, dass sich Hillary den Knöchel verletzt hat und fünf Monate nicht wandern kann. Hillary habe ich zu Beginn in CLEEF kennengelernt, wir sind uns immer wieder begegnet, haben uns unterhalten und zusammen gecampt. Sie ist die erste, die ich wirklich kannte und die den Trail abbrechen musste. Und obwohl mir klar war, dass das passieren wird und wir nicht alle Kanada erreichen werden, ist der Gedanke jetzt wesentlich realer und erschreckender. Vor allem, da sie keinen Fehler gemacht hat, sondern einfach blöd aufgetreten ist und Pech hatte. Das ist genau das, wovor ich die größte Sorge habe. Mit durch diese Nachricht gedrückter Stimmung geht der Abstieg weiter. Spätestens jetzt bin ich heilfroh um die Spikes, ohne die der Abstieg doch wesentlich gefährlicher geworden wäre, da es immer wieder durch Schnee geht. Der Wind ist nicht mehr so stark wie gestern, aber immer noch heftig. Dadurch wird es auch zunehmend kälter und als wir gegen 17 Uhr den Zeltplatz erreichen, schlagen wir die Zelte auf und verbringen den Abend jeder für sich, um uns von den letzten zwei harten Tagen zu erholen.
Tag 14: Wir haben unsere Zeltplätze sehr gut gewählt und konnten hervorragend schlafen. Heute steigen wir innerhalb von 20 Meilen die komplette Höhe ab, die wir in den letzten zwei Tagen gewonnen haben. Nur um dann in den nächsten Tagen fast genauso hoch in die San Gorgonio Mountains aufzusteigen. Während des Abstiegs bietet sich ununterbrochen ein hervorragender Ausblick ins Tal. Immerhin macht man sich den Wind, mit dem wir seit Beginn an kämpfen, hier zu nutze und hat eine große Windfarm aufgestellt. An einer Stelle hätte der Wind mich beinahe vom Trail gepustet, was an dieser Stelle nicht sehr empfehlenswert gewesen wäre. Außerdem überqueren wir die 200 Meilen Marke.Am Fuß des Berges geht es zur Interstate 10. Auf den letzten drei Meilen kommt der Wind direkt von vorne und ich muss mich richtig dagegen stemmen, um voran zu kommen. Und es gibt ein gratis Ganzkörper-Sand-Peeling. An der Interstate angekommen hitchhiken wir nach Cabazon, um für die nächsten Tage nach Big Bear City Vorräte aufzufüllen. Und in Cabazon gibt es den einzigen In 'n' Out Burger am Trail, der natürlich besucht wird. Inzwischen hat mein Hikerhunger definitiv eingesetzt und ich könnte ohne Ende essen. In Cabazon treffen Alex und ich auch Natalie und Beans wieder, Cheese stößt später unter der Interstate Unterführung wieder zu uns. Es ist sehr schön, alle wieder zu sehen. Beans und Cheese bekommen in Big Bear besuch von Freunden und Familie. Dafür haben sie bereits eine Unterkunft gebucht und laden uns ein, auch dazuzukommen. Es scheint so, dass vor allem Cheese, der Besuch von seiner Tochter bekommt, ihr seine "Tramily" (Trail + Family) vorstellen möchte. Und das sind wir inzwischen tatsächlich, eine kleine Tramily, daher nehmen wir das Angebot gerne an. Da der nächste geeignete Zeltplatz neun Meilen entfernt ist und es unter der Unterführung windgeschützt ist, cowboycampen wir mit insgesamt etwa 18 Hikern unter der Brücke. An den Verkehrslärm wird man sich schon gewöhnen. Cowboycampen bedeutet eigentlich, dass man ohne Zelt unter freiem Himmel schläft. Ohne Zelt, aber unter einer Brücke ist wohl ein bisschen geschummelt, für den Einstieg aber nicht verkehrt.
Tag 15: Tatsächlich gewöhnt man sich schnell an die Geräusche der Autos und ich kann recht gut schlafen. Ich wandere die erste Zeit mit Natalie. Wenn andere dabei sind sprechen auch wir Englisch miteinander, daher ist es sehr schön, mal wieder eine Weile Deutsch zu sprechen. Unterhaltungen auf Englisch klappen zwar sehr viel besser, als erwartet und zunehmend besser, denn noch kann ich mich bei weitem nicht so detailliert und nuanciert ausdrücken, wodurch ich von mir selbst teilweise einen etwas dümmlichen Eindruck habe. Wir sprechen über deutsche, schweizer und ganz allgemein über Politik und über unsere bisherigen Eindrücke und zukünftigen Erwartungen an den Trail. Es war ein sehr gutes Gespräch und die ersten Meilen fliegen vorbei. Danach gilt es einen Höhenzug zu überwinden und danach steigen wir zum Whitewater River ab. Es ist seit Beginn der erste richtige Fluss und wir könnten keine größere Freude haben. Wir rasten lange, baden und waschen und essen. Da wir schon 10 Meilen geschafft haben und es gerade mal halb elf ist haben wir keine Eile.Irgendwann machen wir uns dann aber wieder auf den Weg. Wir überqueren den nächsten Höhenzug und steigen ab zum Mission Creek. Diesem folgen wir mehrere Meilen, wodurch wir ausnahmsweise nicht mehrere Liter Wasser tragen müssen. Und campen mit Wasser in der Nähe ist einfach angenehmer als Dry Camping. Als ich mein Zelt aufbaue, fällt mir plötzlich ein Stein vor die Füße. Ich habe keine Ahnung, wie mir das nicht auffallen konnte, aber offensichtlich habe ich einen der Steine, die ich zum Beschweren des Zeltes als Unterlage beim Cowboycamping verwendet habe, in das Zelt gewickelt und mitgeschleppt. Ich verbuche das mal als Training. Zum Abendessen habe ich "Mystery Powder", eine selbstgemachte Mahlzeit eines Hikers, die man aus einer Hikerbox hat und daher nicht genau weiß, was darin ist. Hikerboxen findet man in jeder Trailstadt, entweder in einem Hostel, einem Laden oder einem ähnlichen Anlaufpunkt für Hiker. In den Boxen hinterlässt man Ausrüstung, die man nicht mehr braucht oder Essen, auf das man keine Lust mehr hat oder von dem man zu viel hat. Ich habe Glück, das Essen ist hervorragend. Couscous mit geröstetem Knoblauch, Linsen, Rosinen und Mandelsplittern. Nach dem Essen unterhalten wir uns noch ein wenig und Beans führt uns durch eine Meditation. Außerdem hat Alex heute seinen Trailname bekommen: "Gumby". Scheinbar eine Knetanimationsfiger, die ich aber nicht kenne. Zwischen beiden besteht wohl eine gewisse Ähnlichkeit. Alex und Beans sind darauf gekommen. Ich schaue mir die Figur bei nächster Gelegenheit einmal an. Jetzt geht es ins Bett, durch die Nähe zum Wasser hört man Frösche. Eine angenehmere Geräuschkulisse als der Verkehrslärm von letzter Nacht.
Tag 16: Heute Nacht hat es das erste Mal auf dem Trail geregnet, aber ich mag das Geräusch von Regen auf dem Zelt. Wir starten gegen 06:30. Da wir dem Lauf des Mission Creek folgen und es einige Washouts gibt, verlieren wir den Trail immer wieder und müssen uns durch die Büsche und die Böschungen hinauf und hinunter schlagen. Das kostet Zeit und ist anstrengend. Für mich ist dieser Morgen der bisher anstrengendste Teil des Trails. Weniger psychisch als viel mehr mental. Obwohl ich nicht viel langsamer bin als sonst fühle ich mich, als würde ich mit angezogener Handbremse laufen. Zum Glück legt sich das Gefühl nach ein paar Stunden. Wir steigen auf in die San Gorgonio Mountains auf bis zu 2660 Meter Höhe. Hier hat es letzte Nacht geschneit und wir laufen durch verschneite Wälder und auf manchen Trailabschnitten liegt der Schnee fast knöchelhoch. Auch über den Tag verteilt schneit es immer wieder. Und teilweise ist es verdammt kalt. Es ist schwer vorstellbar, dass wir vor gerade einmal 24 Stunden bei 30 Grad im Fluss baden waren. Wieder einmal staune ich über die Vielseitigkeit des Trails, haben wir doch gerade erst einmal 250 Meilen geschafft. Wir schlafen auf einer Höhe von 2550 Metern. Ich bin gespannt, wie kalt es heute Nacht wird. Bisher ist es im Zelt sehr angenehm und es ist windstill, ich mache mir also keine Sorgen. Ich kann es kaum erwarten, morgen nach Big Bear City zu kommen.Tag 17: Ich wache auf und schalte meine Taschenlampe an. Die komplette Innenseite meines Zeltes glitzert, da sie von Reif bedeckt ist. Diese Nacht hatte es -5 Grad und in meinen Flaschen schwimmt Eis. Trotzdem ist es beruhigend, da ich bei weitem nicht alles an hatte, was ich hätte anziehen können und trotzdem nicht gefroren habe. Falls es also noch kälter werden sollte, werde ich trotzdem keine Probleme haben. Da wir möglichst früh in Big Bear sein wollen, starten wir um 6 Uhr und fliegen geradezu über den Trail. Bis zur Straße sind es 15,1 Meilen (24km), die wir in fünf Stunden zurücklegen. Da wir als Anhalter kein Glück haben, rufen wir ein Taxi, welches in 15 Minuten da sein soll. Eine dreiviertel Stunde später stehen wir immer noch an der Straße. Doch dann haben wir Glück, ein Mann aus der Nähe bringt seinen Bruder zurück zum Trail, der auch den PCT hiket und die Gelegenheit genutzt hat, eine Nacht zu Hause zu verbringen. Auf dem Rückweg nimmt er uns mit in die Stadt. Dort haben wir erstmal Frühstück/ Mittagessen und ich muss sagen, ich liebe amerikanisches Frühstück. Die Auswahl ist großartig, Hashbrowns absolut fantastisch und auch der Coffeerefill hat einiges für sich. Genauso wie das kostenlose Wasser, das man grundsätzlich in jedem Restaurant bekommt.Nach dem Frühstück treffen wir Barry und Butterfly wieder, die gestern hier angekommen sind und einen Zero hier verbringen. Da wir noch nicht in unser Airbnb können, gehen wir Bier trinken und so bald wie möglich in unsere Unterkunft. Diese ist großartig, neben einer Waschmaschine und einem Trockner gibt es sogar einen Whirlpool, den wir natürlich nutzen. Zum Abendessen gibt es selbstgemachte Tacos, die hauptsächlich eine Freundin von Cheese mit ihrer Tochter vorbereitet und die hervorragend werden. Wir sind eine richtig große Gesellschaft, da sind Beans, Cheese und seine Tochter, Cheese Freundin mit Tochter, ein Freund von Beans, Gumby, Natalie, Will, Barry, Butterfly und ich. Es ist ein schöner und geselliger Abend, an den ich gerne zurückdenken werde. Morgen wollen wir dann nach dem Frühstück einkaufen gehen und gegen 13 Uhr wieder auf dem Trail sein. Für die nächsten 150 Meilen geht es nach Westen, bevor wir dann wieder nach Norden schwenken und unserem eigentlichen Ziel, Kanada, entgegenlaufen. Und mit 266 Meilen haben wir nach heute 10 Prozent des gesamten Trails geschafft.