Veröffentlicht: 17.10.2024
La Paz also. Puhhh. Was für eine Stadt und wie unfassbar schwierig, die Eindrücke irgendwie geordnet zu Papier zu bringen. Das ist wirklich eine Challenge und ich weiß nicht wie ich das auch nur annähernd zusammenfassen soll. Insgesamt hab ich wohl mehr oder weniger über 2 Wochen in diesem Chaos verbracht und ich versuche das mal irgendwie zusammenzufassen. Kommt man das erste Mal mitten in der Nacht in der Stadt an, fällt einem zuallererst die unfassbare Dimension des urbanen Raumes auf. Man fährt über El Alto in den Talkessel ein und sieht am Horizont einfach nur Lichter. Häuser, Hügel und eine nicht erfassbare besiedelte Fläche in dieser vermeintlich lebensfeindlichen Umgebung auf einer Höhe von 4.000 Metern. La Paz beschreibt hier nur die Kernstadt, die sich im Tal befindet. Dazu gehörig befindet sich in unmittelbarer Nachbarschaft allerdings noch El Alto. Früher ein Stadteil von La Paz auf einem Hochplateau über der Stadt gelegen, ist El Alto mittlerweile eine eigene Kommune mit geschätzt zwischen 850.000 und 1 Millionen Einwohnern (da sich El Alto täglich weiter ausdehnt, lässt sich die genaue Anzahl der Bewohner nur grob schätzen). Während sich im windgeschützten Tal die besser betuchten Teile der Bevölkerung niederließen, ist El Alto eher das Sammelbecken für die Menschen, die sich das Leben im vermeintlich besser situierten Talkessel nicht mehr leisten können. El Alto ist eine Stadt mit einem sehr hohen Anteil an indigener Bevölkerung und ein Großteil der Menschen ist in den letzten Jahrzehnten auf Grund von Landflucht und Armut aus dem Altiplano nach El Alto zugewandert. Als Besucher spürt man direkt den starken Kontrast zwischen dem eher gut bürgerlichen La Paz und dem doch recht ärmlich erscheinenden El Alto. Wenn man aus den Gassen von La Paz gen El Alto schaut, nimmt man lediglich den Bergkamm am Rande der Stadt wahr und es ist schwer zu realisieren, dass sich hinter den Rändern der Stadt auf dem Hochplateau noch eine in den Ausmaßen viel größere Stadt erstreckt. Völlig surreal, wie sich die beiden Kommunen in einer Art Symbiose miteinander verstricken. Von El Alto ausgesehen hingegen schaut man, während einer Fahrt mit dem Teleferico oder bei einem Spaziergang am Rand von El Alto, in den Talkessel und man hat Schwierigkeiten, das Ausmaß der Kernstadt im Tal zu erfassen. Das alles wirkt irgendwie so surreal, dass man sich echt immer wieder vor Augen halten muss, dass man sich gerade in einer tatsächlich existierenden Metropole und nicht in irgendeiner künstlich geschaffenen Welt oder einer Virtual Reality befindet. Wie bereits erwähnt, liegen beide Kommunen zwar geografisch sehr nah beieinander, unterscheiden sich aber in Bezug auf Bevölkerung, Wirtschaft und kulturellen Hintergrund sehr stark. El Alto gilt als das Herz der indigenen Identität und des Widerstands in Bolivien, während La Paz traditionell die politische und wirtschaftliche Elite darstellt. Das Alles spiegelt sich auch in der Wahrnehmung des eigentlichen Stadtbildes wider. Während La Paz wie eine „normale“ südamerikanische Metropole erscheint, so wirkt El Alto eher improvisiert und recht simpel und einfach beschaffen. Spaziert man durch die Stadt auf dem Hochplateau fällt auf, dass die Infrastruktur auf das Wesentliche beschränkt ist. Einfache Garküchen und Versorgung für die Bevölkerung haben hier Vorrang. Bars, bessere Restaurants und andere Stätten des urbanen Vergnügens findet man hier kaum. Zu arm scheint die Bevölkerung, um sich an vermeintlichen Vergnügungsstätten zu laben. In El Alto befindet sich auch einer der größten Märkte in Bolivien, wenn nicht sogar in ganz Südamerika und der größte Freiluftmarkt der Welt. Bekannt als der Mercado 16 de Julio, dehnt sich dieser über riesige Flächen der Stadt aus. Als wir an einem Donnerstag über den Mercado schlenderten wurde uns relativ schnell bewusst, dass sich dies nicht an einem Tag erschließen lässt. Es ist unfassbar, über welche Dimensionen sich der Markt erstreckt und selbst nach Stunden erscheint kein Ende in Sicht. Mit Sicherheit ist dies der größte Marktplatz über den ich jemals gelaufen bin und es wird echt alles angeboten, was man sich nur vorstellen kann. Neben alltäglichen Produkten ist der Markt auch bekannt für den Verkauf von ungewöhnlichen und sonderbaren Gegenständen. Es gibt Stände mit spirituellen und esoterischen Produkten, es gibt Heilmittel, Talismane oder auch allerlei Mittel für religiöse Rituale. Ein Teil des Marktes und wohl auch ein Teil aller Märkte in Bolivien sind eng mit der Aymara-Kultur und dem Glauben an die Pachamama (Mutter Erde) und andere spirituelle Wesen verbunden. Während der Markttage kommt fast der komplette Straßenverkehr in El Alto zum erliegen und bei unserem ersten Besuch in El Alto war verpassten wir auch die Veranstaltung der Cholita-Libre, da es unmöglich war bis an den Veranstaltungsort vorzudringen, doch dazu später mehr.
Um den ganzen Wahnsinn von La Paz mal etwas zu strukturieren, werde ich folgend mal ein paar Fakten, Impressionen. Erlebnisse bzw. Geschehnisse und Veranstaltungen aufzählen, die während meines Aufenthaltes einen bleibenden Eindruck hinterließen.
Das Stadtbild im Allgemeinen kann man als ziemlich einzigartig beschreiben. Es gibt wenig unbebaute Flächen, im Tal und an den Hängen quetschen sich in jeden noch so kleinen Freiraum Häuser und Hütten und zwar bis an den letzten bebaubaren Raum am Rand der schroffen Klippen und Kanten der Hänge, die die Stadt umschließen. Der krasse Gegenentwurf zu Planstädten, wie Brasilia oder Washington DC. Die einzige Ordnung und Konstante im Stadtbild ist hier das nie enden wollende Chaos. Es ist laut und jederzeit ist irgendwo Bewegung, wie im sprichwörtlichen Ameisenhaufen. Mit knapp 900 Metern Höhenunterschied zwischen La Paz und El Alto führt dies bei der Abfahrt hinunter in den Talkessel zu einem der spektakulärsten Ausblicke auf dem südamerikanischen Kontinent. Und über all dem thront der schneebedeckte Gipfel des Illimani, mit 6.439 m der zweithöchste Gipfel Boliviens und ein gut sichtbares Wahrzeichen der Stadt.
Teleferico:
Um die Stadt zu erkunden, empfiehlt sich am Besten eine Fahrt mit dem Teleferico, der höchstgelegenen Seilbahn der Welt. Mittlerweile gibt es insgesamt 9 Linien, welche beide Städte miteinander verbinden und für 3 Bolivianos (ca. 35 Cent) kann man spektakuläre Ausblicke über den Dächern beider Kommunen genießen. Das Seilbahnsystem trägt sichtlich zur Entlastung der Straßen und der Nerven der Bewohner bei, betrachtet man die Ausmaße der Stadt und den nach wie vor katastrophalen Verkehr, so war wohl vor dem Bau des Teleferico ein Termin am anderen Ende der Stadt mit einer Tagesreise verbunden. In ca. einer Stunde kann man in einer Art Ringsystem alle wichtigen Stadtteile mit der Seilbahn abfahren und bekommt so einen wunderbaren Eindruck aus der Vogelperspektive ohne sich direkt in das quirlige Treiben stürzen zu müssen und ohne stundenlang im Verkehr festzustecken.
Im Übrigen beschäftigt die Stadt zur Entschleunigung des Verkehrschaos Zebras. Zwar keine echten Tiere, allerdings Menschen, die sich in Zebrakostüme stecken und den Verkehr regeln. Da hier Ampeln lediglich als Dekoration wahrgenommen werden und die Staatsmacht nicht unmittelbar und flächendeckend respektiert wird, dienen die Zebras als Bindeglied zwischen Staat und Bevölkerung und regeln mit Hinweisschildern in Rot und Grün den Verkehr. Das funktioniert erstaunlich gut und die animalischen Helfer werden auch Ernst genommen und respektiert. Denn wer kann sich schon einem Zebra widersetzen, dass vor einem mit einem breiten Grinsen auf die Straße springt, rumblödelt und auf die nächste Grünphase verweist.
Cholitas- Wrestling:
Wie vorab schon beschrieben, sollte uns einer der ersten Ausflüge nach El Alto zu den Cholitas führen. Kampfsport und Show ist prinziell nichts ungewöhnliches in Lateinamerika und da ich bereits in Mexiko die Lucha-Libre-Kämpfe besuchte, hatte ich ein ungefähres Gefühl, was uns hier erwarten würde. Auf Grund des Chaos an einem der Markttage verpassten wir den ersten avisierten Kampftag und wir entschieden uns für einen weiteren Besuch der Arena in El Alto. Gebucht wurde die Tour in einem der ersten Hostels und zusammen mit anderen Gringos ging es hoch hinauf nach El Alto. Für knapp 10 Euro erwirbt man Eintrittskarte inkl. Snack, Getränk und Souvenir. Geschätzte 90% der Besucher sind hier Touristen und der Teil der einheimischen Bevölkerung, der an der Veranstaltung interessiert ist, zog sich in den hinteren Bereich der Halle auf die Betonstufen der Tribüne zurück während für die Gringos Plastikstühle direkt am Ring reserviert sind. Diese Zweiklassengesellschaft fand ich ehrlich gesagt nicht so gut, da die gesamte Veranstaltung aber wohl hauptsächlich von den Einnahmen der Touris lebt, kann ich das aus Sicht der Betreiber wohl auch teilweise nachvollziehen. Auf jeden Fall spektakulär wie sich die Cholitas hier in mehreren Kämpfen allein und im Team gegenseitig auf die Backen geben. Klar ist das alles eine Show allerdings ist die Athletik der Damen schon sehr beeindruckend und bei einigen der dargebotenen Moves würde sich wohl jeder Normalsterbliche alle Knochen brechen. Ganz schön rustikal teilweise, von Schlägen, Tritten, an den Haaren ziehen und bis zum gegenseitigen Bier-ins-Gesicht-spucken und anschließendem Zerdrücken der Dose am Schädel der Gegnerin wird hier ein breites Repertoire an Aktionen geboten. Das Ganze hat auch einen ernsten Hintergrund, da häusliche Gewalt an Frauen in Boliven leider weit verbreitet ist, haben sich dies die Cholitas zum Anlass genommen, von der Gewalt zu emanzipieren und Kampfsport zu lernen und einem Publikum darzubieten, die Einnahmen gehen zum Großteil auch an die Kämpferinnen (so wurde uns gesagt) und somit unterstützt man die Frauen auch bei ihrem alltäglichen Kampf gegen Gewalt. Auf jeden Fall eine lustige und interessante Veranstaltung, wenn man in La Paz ist, sollte man das gesehen haben.
San Pedro Prison:
Mitten in der Stadt am Plaza San Pedro liegt das größte Gefängnis des Landes, gut abgeschirmt von der Außenwelt mit seinen 18 Meter hohen Mauern. Mit einer gewöhnlichen Haftanstalt hat das San Pedro Prison allerdings nichts gemeinsam. Das Gefängnis hat ein fast autonom funktionierendes Wirtschaftsystem. es gibt Wohnungen und Apartments, Märkte, Restaurants, Bars und sogar kleine Unternehmen, die Dienstleistungen für andere Inhaftierte anbieten. Die Häftlinge zahlen für ihre Zellen und es gibt eine klare Rangordnung und Hierarchie, was die Art der Behausung und den sozialen Stand innerhalb der Gefängnismauern betrifft. Reiche Gefangene können luxuriöse Zellen kaufen oder mieten während ärmere Häftlinge in elenden und überfüllten Zellen hausen müssen.
Die ausschließlich männlichen Insassen in San Pedro leben oft mit ihren Frauen und Kindern zusammen. Früh am Morgen bringen die Frauen die Kinder in die Schule und arbeiten dann irgendwo in der Stadt, verkaufen Lebensmittel oder Souvenirs, um dann am späten Nachmittag mit den Kindern wieder in die Haftanstalt zurückzukehren. Da sich das erste Hostel in unmittelbarer Nachbarschaft zum San Pedro Prison befand, konnte man tagtäglich das illustre Treiben vor den Toren der Gefängnismauern beobachten, zu den Stoßzeiten standen die Damen und Kids schon mal Schlange, um zurück zu den schweren Jungs zu kommen, da der Andrang einfach zu groß war.
Es gibt Berichte darüber, dass im Gefängnis auf Grund der Selbstverwaltung auch Kokain in nicht unerheblichen Mengen hergestellt und herausgeschmuggelt wird. Dazu werden recht ungewöhnliche Methoden angewandt: Teils von Tauben transportiert oder auch in Äpfel verpackt, die dann auf die Straße geworfen und von Kontaktpersonen eingesammelt und weitertransportiert werden. Die Anwohner wissen wohl im Allgemeinen von dieser Methodik allerdings wird dies mehr oder weniger stillschweigend akzeptiert. Erwähnt jemand was, so ist diese Person automatisch in die Machenschaften der Banden eingeweiht und Teil des Problems. Also hält man lieber die Klappe und hat keinen Ärger. Auf einer Walking-Tour wurden wir darauf hingewiesen, nichts in unmittelbarer Nähe der Gefängnismauern aufzuheben – der Schmuggel scheint also nach wie vor ein allgegenwärtiges Thema zu sein. Ursprünglich wurde das Gefängnis für 300 Insassen geplant, mittlerweile sind es wohl über 4.000. Wer interessiert ist, wie es innerhalb der Gefängnismauern aussieht, muss nur mal bei Youtube „San Pedro Prison“ eingeben und bekommt auch einen visuellen Eindruck über die beschriebenen Bedingungen in der Haftanstalt.
Berühmt wurde das Gefängnis auch außerhalb Boliviens durch das Buch „Marching Powder“, das die wahre Geschichte des britischen Drogenschmugglers Thomas McFadden erzählt und einen tiefen und authentischen Einblick in das alltägliche Leben des San Pedro Gefängnisses gibt, welches sich so grundlegend von anderen Gefängnissen unterscheidet.
McFadden,wurde 1996 mit 5 Kilogramm Kokain am Flughafen von La Paz festgenommen und in San Pedro inhaftiert. Schnell in das ungewöhnliche System der Haftanstalt integriert, beginnt der smarte McFadden das Beste aus seiner Situation zu machen und bietet mit Hilfe korrupter Wärter und anderer Handlanger inoffizielle Touren für Backpacker und andere Touris ins Innere des Gefängnisses an um die besondere Struktur und die Geschichten der Insassen aus erster Hand zu erzählen bzw. zu erleben. McFadden erlangte durch diese Touren Bekanntheit und die Touristen halfen ihm mit den Einnahmen, sein Leben im Gefängnis stetig weiter zu verbessern. Er stieg in eine Position innerhalb des Gefängnisses auf, die ihm Schutz und ein relativ komfortables Leben ermöglichte, während Gewalt und Machtkämpfe den täglichen Alltag innerhalb der Haftanstalt prägen.
Auf einer dieser Touren lernte er den Australier Rusty Young kennen, der von der Geschichte McFaddens so fasziniert war, dass dieser ein Buch darüber schrieb – Marching Powder. Das 2003 veröffentlichte Buch wurde ein internationaler Bestseller und machte das San Pedro Prison weltberühmt. Die Berichte über den Gefängnisalltag und den Zustand des bolivianischen Justizsystems schockierten viele Leser und nach der Veröffentlichung versuchten die Behörden, die Zügel etwas anzuziehen und den Drogenschmuggel zu unterbinden, was wohl nur für kurze Zeit gelang. Mittlerweile sind zumindest die offiziellen Touren ins Gefängnis streng verboten. Es gab wohl einige unschöne Vorfälle und die Regierung hat diesem Treiben endgültig einen Riegel vorgeschoben. Die letzte Geschichte, die ich zu den nach wie vor inoffiziellen Touren hörte, war die von 3 Australiern, die wohl Anfang des Jahres eine enorme Stange Geld aufbringen mussten, um das Gefängnis wieder unversehrt verlassen zu können. Sicherlich wäre so eine Tour auch für mich interessant gewesen, unter diesen Umständen aber auf keinen Fall realisierbar und einfach nur dumm und gefährlich.
Bis heute ist das Buch übrigens nicht in spanischer Sprache erhältlich. Wohl auch, um den Großteil der Bevölkerung Boliviens nicht mit den wahren Zuständen innerhalb der Gefängnismauern zu konfrontieren.
Märkte und die Pachamama
Auf die Bedeutung der Märkte für die lokale Bevölkerung bin ich Anfangs schon kurz mit dem Beispiel Mercado 16 de Julio eingegangen. Ganze Stadtteile sind an bestimmten Tagen von Ständen überzogen und es gibt Straßenzüge für Süßigkeiten, Hygieneartikel, Kleidung oder Obst. Auch in La Paz herrscht diesbezüglich reges Treiben. Es gibt auch in den Großstädten nur wenige richtige Supermärkte, alle Waren des täglichen Bedarfs werden in den unzähligen kleinen Kiosken oder auf dem Markt gekauft. Das Business hier im Lande liegt dabei traditionell fest in Frauenhand. Man sagt den Damen einen guten Geschäftssinn nach, den Herren der Schöpfung hingegen, dass diese die Einnahmen wohl direkt wieder in die nächste Cerveceria schaffen und versaufen. Und tatsächlich hab ich bei all meinen Spaziergängen fast ausschließlich Frauen hinter den Ständen wahrgenommen. Dabei hat man als Kunde für jeden gewünschten Artikel seine eigene Marktfrau, die neben den Waren auch immer noch ein bisschen Gossip und je nach Länge der Geschäftsbeziehung auch einen ordentlichen Rabatt in Form von mehr Ware anbietet. Und so schlendert man über die riesigen Flächen und kauft bei den jeweiligen „Caseritas“ (die freundliche Anrede für die Marktfrauen) dann eben Kartoffeln, Rüben oder Zwiebeln. Und man sollte es tunlichst vermeiden, die für das gewünschte Produkt zuständige Caserita zu meiden und zu einer anderen Dame zu gehen, denn dann ist neben der guten persönlichen Beziehung auch der besondere Preis und die bessere Qualität der Produkte bis zum Sanktnimmerleinstag dahin. Neben den klassischen Märkten gibt es in La Paz auch noch einen Hexenmarkt auf dem man neben allerlei Tourikrams auch sehr außergewöhnliche Produkte, wie getrocknete Lama-Föten, exotische Kräuter, Talismane, Amulette und verschiedene Zutaten für Rituale findet. Auch hier werden die Waren traditionell von den Cholas oder Cholitas (indigene Frauen) in ihren traditionellen Kleidern angeboten. Die Kleidung der Cholitas besteht im Übrigen aus einem Überrock, bis zu 10 Unterröcken, einem Schultertuch und dem typischen Hut. Die Damen stellen auch ein interessantes Fotomotiv dar, allerdings sollte man beim Fotografieren der Indigenen Bevölkerung mit äußerster Vorsicht vorgehen bzw. vorher um Erlaubnis fragen, Nicht Wenige der Indigenen denken, dass man ihnen durch das Fotografieren die Seele klauen kann.
Auf dem Hexenmarkt ist alles eng mit der tiefen Verbundenheit der bolivianischen Gesellschaft mit traditionellen Glaubensvorstellungen und der Natur verknüpft. Für den westlichen Besucher stellt der Markt eine skurrile Attraktion dar, für viele Einheimische hingegen ist dieser ein wichtiger Bestandteil des Alltags und der spirituellen Praxis. Hier wird das traditionelle Wissen der Aymara-Kultur bewahrt und die Pachamama verehrt. Die Pachamama, auch als Mutter Erde bekannt, spielt in der indigenen Kultur der Anden, sowohl in Bolivien als auch in Peru, eine zentrale Rolle. Sie gilt als die personifizierte Erde, Göttin der Fruchtbarkeit, der Natur und des Lebens. Einfach alles dreht sich hier um die Pachamama und man wird fast täglich mit dem Thema konfrontiert. An den Straßenecken in La Paz sieht man überall Schamane sitzen, die sogenannten Yatiris, die die persönliche Kontaktaufnahme zur Pachamama ermöglichen, denn für den einfachen Bürger ist der persönliche Kontakt leider nicht möglich. Das Ritual läuft dabei folgendermaßen ab: Man hat einen Wunsch oder ein Bedürfnis und möchte gern die Hilfe von Pachamama in Anspruch nehmen. Also organisiert man ein paar Opfergaben und macht sich auf den Weg zu einem Yatiri. Die Opfergaben (Lama-Föten, Koka-Blätter, Süßigkeiten, Blüten, Alkohol oder Parfüm) werden auf einem speziellen Tablett aufgebahrt und verbrannt. Durch den Rauch der verbrannten Opfergaben sieht die Pachamama den Kontaktwunsch und widmet sich der betreffenden Person und deren Anfrage. Die Opfergaben sollen dabei das Gleichgewicht zwischen Mensch und Natur aufrechterhalten und ihren Schutz sicherstellen. Ob diese Rituale in der Regel erfolgreich sind, kann ich leider nicht sagen, allerdings scheint wohl was dran zu sein, gerade im Stadtzentrum von La Paz und in der Nähe von Märkten sieht man dieses Zeremoniell recht oft.
Eine zentrale Rolle im illustren Sammelsurium der Opfergaben spielen hierbei die Lama-Föten, die vor allem beim Hausbau benötigt werden. Vor der Grundsteinlegung werden Asche und ein Baby-Lama mit in die Erde gegeben und somit gilt der Schutz des Hauses durch Pachamama als sicher.
Auch gibt es Berichte, dass beim Bau von größeren Häusern und Bauwerken auf Menschenopfer zurückgegriffen wird, um den Schutz zu gewährleisten. Beim Abriss älterer Gebäude in den Großstädten werden in den Fundamenten teilweise die Überreste von Menschen gefunden. Offiziell ist dies heutzutage nicht mehr gängige Praxis und gesellschaftlich geächtet allerdings berichteten mir mehrere Bolivianer, dass dies wohl noch praktiziert wird. Gerüchten zufolge werden hierbei gezielt Obdachlose und Alkoholkranke aufgesucht, um diesen Menschen nochmal in einer letzten „großen Nacht“ die Ehre zu erweisen und anschließend zu opfern. Auch auf einer Free-Walking-Tour wurde von den Menschenopfern berichtet, gesicherte Quellen oder Belege dafür habe ich allerdings bei meiner Recherche nicht gefunden.
Allgemein ist das Stadtbild bezüglich der Bevölkerungsstruktur stark von der indigenen Bevölkerung geprägt, etwa 40% der Bolivianer identifizieren sich als indigene Völker, was den größten Anteil in allen Ländern Südamerikas darstellt. Dabei sind allerdings über 80% der Einwohner Boliviens katholisch. Seit der Kolonialzeit ist der Katholizismus tief im Land verwurzelt, die Spanier haben es erfolgreich geschafft, einen Großteil der Bevölkerung zu missionieren.
Im Zentrum von La Paz steht die Basilica de San Francisco, gebaut Mitte des 16. Jahrhunderts während der spanischen Kolonialzeit, weist diese Kirche eine Besonderheit auf: An der vorderen Fassade befindet sich die Darstellung einer nackten Frau, der Pachamama. Diese Figur sollte die indigene Bevölkerung zum Praktizieren des katholischen Glaubens bewegen. Durch die Pachamama-Figur aufmerksam geworden, betraten Indigene die Kirche und staunten nicht schlecht. In der Kirche hatten die Spanier Spiegel angebracht. Da die Indigenen keine Spiegel kannten, waren sie verwundert über ihr eigenes Antlitz und die Spanier erzählten ihnen, dass dies ihre Seelen seien. Und wenn die Leute nur oft genug in die Kirche kämen und zu ihrem Gott und den Seelen beten würden, so wären die Seelen in der Kirche sicher und würden in den Himmel fahren. Da den Indigenen dazu noch fürchterliche Darstellungen von der Hölle gezeigt wurden und diese eine große Angst davor hatten, gingen sie brav in die Kirche und beteten den Gott der Besatzer an. Ein anschauliches Beispiel für die Kreativität der Spanier beim missionieren der einheimischen Bevölkerung.
Bis auf die Ausführung ihres tradionellen Glaubens sind die Traditionen und Rituale der indigenen Bevölkerung im Stadtbild omnipräsent, sei es auf den Märkten, durch die Cholitas oder die Yatiris. Auch das macht La Paz für mich so einzigartig und interessant, man hat das Gefühl, dass man in einer anderen Zeit angekommen ist, fernab der Moderne in europäischen Hauptstädten. Auffällig sind in La Paz auch die vielen Schuhputzer, die an jeder Straßenecke stehen und oft ihre kompletten Gesichter vermummt haben. Da der Beruf des Schuhputzers in der bolivianischen Gesellschaft als minderwertig und verachtenswert gilt, bedecken die Herren ihre Gesichter, um vor allem von Bekannten und Verwandten nicht erkannt zu werden. Ein krasses Beispiel von Diskriminierung, der wohl auf die Annahme zurück geht, dass es während der Inka-Zeit der niederste Job war, dem Chaski (der Überbringer von Nachrichten) nach einer langen Reise die Füße zu putzen.
Was gibt es noch persönliches zu La Paz zu berichten?!
Die meiste Zeit hab ich hier mit Nim verbracht, einer wunderbar verrückten Australierin, mit der schon der Norden Chiles und Bolivien unsicher gemacht wurde. Nach 3 Tagen in einem echten Kack-Hostel (viel zu kleine Zimmer, ungemütlich) buchten wir uns ein AirBnB mit zwei Privatzimmern für einen schmalen Taler und wir gönnten uns auch ordentlich Ruhe nach all der Aufregung der letzten Wochen und bei den täglichen Abenteuern in der Stadt. Dies ist auch notwendig, da man die Höhenlage an einigen Tagen und beim ständigen Auf- und Ab durch die Straßen der Stadt ordentlich merkt. Dazu hatte ich in La Paz das allererste Mal auf meiner Reise ein größeres Problem mit dem Essen und war 3 Tage durch das ständige Ausscheiden aus allen Körperöffnungen ordentlich außer Gefecht gesetzt. Keine Ahnung, ob das schon eine Lebensmittelvergiftung war, Spaß gemacht hat es auf jeden Fall nicht.
Fußball wurde natürlich auch geschaut und auch ein Besuch auf dem städtischen Friedhof der Stadt sollte bei jedem Aufenthalt in La Paz nicht fehlen. Während beim Fußball unter anderem mit der Partie in der Copa Sudamericana: Always Ready – LDU Quito eines der höchstgelegenen Fußballstadien der Welt besucht wurde (4.170 m ü NN) ging es auf dem Cementerio General de La Paz eher ruhig und respektvoll zu. Beim Spazieren über eine der bedeutendsten Begräbnisstätten des Landes wähnt man sich wie in einem Wes-Anderson-Film. All die kunstvollen Grabstätten, die prachtvollen Mausoleen und die morbide Streetart vor den Kulissen der bebauten Hänge hinterlassen einen ziemlich surrealen aber irgendwie traurig schönen Eindruck.
Wahrscheinlich könnte ich jetzt noch stundenlang über alles Mögliche in La Paz erlebte oder wahrgenommene schreiben aber ich empfehle stattdessen einen persönlichen Besuch in dieser verrückten Stadt – für mich definitiv einer der spannendsten, wenn nicht sogar der spannendste urbane Raum, in dem ich mich bislang bewegt habe.
La Paz, die schillernde Stadt hoch oben auf dem Altiplano als Schmelztigel aus Geschichte, Kultur und Tradition: bunt chaotisch, wild, kontrastreich, rau, schroff, windig, historisch, hektisch, spannend, authentisch, vielseitig, atemberaubend und vor allem EINZIGARTIG!