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Mit Emma und Molly durch die Taiga

Veröffentlicht: 20.08.2024

Von Toronto aus gönnten wir uns den berühmten Luxuszug „Canadian“ nach Winnipeg. Normalerweise fliegt man von Toronto nach Winnipeg. Oder man lässt es gleich ganz... Ein Bus verkehrt nicht auf dieser großen Distanz. Bleibt einem, wenn man Flüge vermeiden will, nur der „Canadian“.

Da das Streckennetz völlig untauglich ausgebaut ist und es nur eine über weite Strecken eingleisige Schiene gibt, die nicht auf hohe Geschwindigkeiten ausgelegt ist, hat man bei Rail Canada die Flucht nach vorne angetreten und die Langsamkeit zum Programm gemacht.

Der Canadian bietet Schlafkabinen, Schlafabteils im Schlafsaal mit Vorhängen und in der Economy nur Sitzplätze. So kann man aber die lange Fahrt von geplant 36 Stunden nicht aushalten und wir buchten einen Schlafplatz, der tagsüber in einen Sitzplatz umgebaut wird.

Als wir unser Sitzabteil erreichten, dachten wir, wir hätten die Innenseite ohne Fensterplatz gebucht. Dem war nicht so. Wo in Deutschland 4 Leute platz fänden, sitzen im Canadian nur 2. Wir hatten also beide einen Fensterplatz – wenn wir ihn nicht unserem Gepäck überlassen wollten. Manspreading und She-bagging sind hier also vorgesehen. So bieten die Schlafkabinen sogar genügend Platz fürs Kuscheln, wenn man nicht Abteile oben gebucht hat.

Viel Zeit verbringt man allerdings nicht auf seinem Platz und überlässt ihn die meiste Zeit seinem Handgepäck. Unsere großen Rucksäcke waren im Gepäckabteil verstaut und wurden beim Ausstieg gleich einem Flughafen auf einem Gepäckband für uns ausgespuckt.

Dass man nicht viel Zeit auf seinem Platz verbringt liegt vor allen Dingen an den 4 Aussichtswaggons (nach Klassen getrennt) von deren erhöhten Glaskuppeln sich die Landschaft wunderbar überblicken lässt. Ansonsten kann man aber auch bei Gesellschaftsspielen im Gemeinschaftsraum sitzen, wenn dort nicht gerade Bingo oder Yoga stattfinden. (Die Bierverkostung und die Weinverkostung fanden jeweils im Aussichtsabteil statt.) Oder man sitzt einfach in der Lounge oder wechselt abends in die erste Klasse an die elegant möblierte Bar.

Ansonsten verbringt man natürlich auch Zeit im Speisesaal. Die Auswahl der 3-Gänge-Menüs bietet auch immer etwas Vegetarisches an. Vegan stellt den Koch etwas vor Herausforderungen. So gibt es z.B. keine Pflanzenmilch an Bord

Das Essen ist von hervorragender Qualität mit frischen Zutaten vor Ort zubereitet. Das Essen am vornehm eingedeckten Tisch ist genauso wie die alkoholfreien Getränke gratis. Nur wer Alkohol will, muss bezahlen. Umsonst gibt es Alkohol nur bei der jeweiligen Wein- und Bierverköstigung.

Unser Favorit bei den Weinen war der Beco Noir.

Das Personal war durch die Bank super. Insbesondere unser Train-Attendand Alvaro (hier ändern wir mal bewusst nicht den Namen) war hervorragend, freundlich, umsichtig und hilfsbereit und fungierte hier als eine Art Butler.

Reisen mit dem Canadian ist wie eine Rückkehr in die goldene Zeit des Eisenbahnverkehrs und erinnert an Reisen mit dem Orient Express. So verzichtet der Canadian auch bewusst auf WLAN. Und da man über weite Strecken auch keine mobilen Daten hat, wird man entschleunigt, ob man will oder nicht und kommt – wie es uns unsere „Animateurin“ (sie war eigentlich viel zu gut, um diese Bezeichnung zu verdienen) als Arbeitsauftrag mitgab – schnell mit anderen Mitfahrenden ins Gespräch. Ein gemeinsames Gesprächsthema ist es dabei, wenn jemand einen Sendemast entdeckt und ausruft „We’ve got service.“ Dann wird das Gespräch für hektische 3 Minuten mit Google Maps, Messenger und Wikipedia unterbrochen, ehe es weiter geht durch die großartige Landschaft, die zu betrachten unser zweiter Arbeitsauftrag von Marceline (auch hier kein Grund, den Namen zu ändern) war. Danach findet man ins Gespräch zurück oder veliert sich aufs neue in der Betrachtung des Szenario weiter Strecken borealer Wälder und einsamer Seen. Frau Waas sah einen Weißwedelhirsch und einige Fahrgäst*innen sahen einen Schwarzbären und einen Biber. Die Hoffnung aller Reisenden auf eine Elchsichtung erfüllte sich nicht. Es ist keine Safari und kein Zoobesuch und das ist gut so.

Oft fand man sich aber bald wieder in einem Gespräch und so machten wir verschiedene Bekanntschaften wie zum Beispiel das ältere Ehepaar aus einem Vorort von Montréal, bei dem uns vor allen Dingen die pensionierte Lehrerin Felice* (*Name geändert) vieles interessantes über die Geographie und die Pflanzenwelt Kanadas zu sagen und zeigen wusste (von Heidelbeeren bis Plattentektonik).

Sehr nett war auch die Familie aus Oklahoma, mit der wir außerhalb dieser Schicksalsgemeinschaft nie in Kontakt gekommen wären, die aber sehr herzliche und rechtschaffene Leute waren.

Interessant waren auch die Gespräche mit dem etwas selbstsicheren New Yorker, der gerne über die Vorzüge von Cannabis dozierte und die Gespräche mit Sally*, eine ungemein sympathischen und klugen Krankenschwester aus Winnipeg, von der wir es bedauern, nicht die Kontaktdaten zu haben. Unsere Daten wurden jedenfalls von der Familie aus Oklahoma abgefragt, und obwohl Herr Ärmel etwas direkt und wenig schmeichelhaft war in der Beschreibung Oklahomas können wir dort auch in 10 Jahren sicher an der Tür klingeln und werden eine Einladung zum Essen erhalten und ein Dach für die Nacht. Und so erfüllten wir auch den dritten Auftrag von Marceline: Freunde finden!

Kann man das Haar in der Suppe finden? Nein, im Essen war kein Haar – es war hervorragend. Nur Steckdosen vermissten wir schmerzlich – was dazu führte, dass Herr Ärmel sein Handy einmal unbeaufsichtigt laden musste, so dass es prompt von einem leicht dementen Mitfahrenden an sich genommen wurde, um es sicherzustellen, da er es verloren glaubte – was Hern Ärmel einige unruhige Stunden verschaffte, ehe Alvaro, der den richtigen Riecher gehabt hatte, das Handy unversehrt an unseren Tisch brachte. All das regelte er professionell und elegant und sehr zu unserer Freude und wir konnten uns wieder der Ruhe des Zuges hingeben, der mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 75km/h dahinzuckelte. Die 20 Waggons wurden von zwei schnaufenden Maschinen gezogen. (Wir als Lummerländer*innen nannten sie natürlich Emma und Molly.) Und oft kam der Zug ganz zum Stehen, wenn er einen der vorrangig behandelten Güterzüge vorbeilassen musste. So blieb noch mehr Zeit für Gespräche und Naturbeobachtung, und so erreichten wir Winnipeg erholter als wir je zuvor in unserem Leben nach einer Zugfahrt waren. Und auch wenn wir mit 2 ½ Stunden Verspätung ankamen, so war dies nur noch ein kleiner Bonus. Trotz einer gemächlichen Zugfahrt von gut eineinhalb Tagen sind wir im Canadian nicht ein einziges mal zum Lesen gekommen. Wir geben daher für den Canadian 5 Sterne: Langsamkeit ist der wahre Luxus unserer Zeit.

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