Veröffentlicht: 27.01.2019
Tag 114
Eigentlich hatte ich nicht vor heute zu schreiben. Aber es bleibt mir nicht wirklich etwas anderes übrig. Es ist Sonntag. Wir sind in Perito Moreno, einem 3000 Seelen Kaff im Herzen Patagoniens und dieser Tag heute könnte als einer der ereignislosesten Tage in die Geschichte unserer Reise eingehen.
Seit sage und schreibe fünf Stunden sitzen wir in einem kleinen Café an einem schwarzen Holztisch, von denen zuhauf welche um uns herum stehen. Unser ist mit Ausnahme von einem weiteren, an dem drei Kinder hocken allerdings der einzige, der besetzt ist. Die zwei Jungen im Barcelona Trikot und das Mädchen neben uns nippen gelangweilt an ihrem Stromhalm und warten auf irgendeine Magier-Show, die wie uns die Bedienung mitteilte hier irgendwann gleich stattfinden soll. Genau wusste sie das aber auch nicht und ehrlich gesagt sieht es auch alles andere als danach aus, dass hier heute noch irgendwas stattfindet. Vor einer Stunde haben wir versucht das Café zu wechseln, aber die einzige Konkurrenz ein paar Straßen weiter, hat heute aus unerklärlichen Gründen geschlossen. Genau wie die meisten Supermärkte und die Bäckerei. Generell wirkt Perito Moreno an diesem Sonntag Nachmittag wie eine Geisterstadt. Also sind wir wieder zurückgekommen in dieses Lokal hier, wo uns die zwei Bedienungen nur mit einem irritiertem Nicken zum zweiten mal begrüßt haben. Die trockene Bilanz bis jetzt lautet zwei Fantas, ein Tee, zwei heiße Schokoladen und zwei Empanadas, mit Rindfleisch gefüllte Teigtaschen. Und nun sitzen wir wieder hier. Es ist 16:13. Die Kinder werden langsam hibbelig und klettern auf den Stühlen herum. Draußen ist es extrem windig.
Der Grund für unser trostloses Dahinleben heute ist ganz einfach. Wir verlassen Perito Moreno nachher in Richtung El Calafate, unser Nachtbus fährt allerdings erst heute Abend gegen 19:30. In der Unterkunft mussten wir trotzdem schon um 10:00 auschecken, weil die Zimmer für die nächsten Gäste gemacht werden mussten, und da es dort auch keinen Aufenthaltsraum oder Ähnliches gab und man in diesem winzigen Dorf wirklich überhaupt nichts machen kann, sitzen wir hier. Draußen ist es kalt und windig, die wenigen Geschäfte haben größtenteils geschlossen und wir haben einen ganzen verdammten Tag Zeit, in diesem Dorf irgendwo im Landesinneren von Argentinien. Der Hauptgrund für unseren Aufenthalt hier war vor allem, dass die Distanzen in Argentinien so gewaltig sind, dass wir vor El Calafate auf jeden Fall einen Zwischenstopp brauchten, um einen teuren Flug oder eine 30 stündige Busfahrt zu vermeiden. Wir wollten aber auch erleben, wie es in den Dörfern irgendwo in der Pampa, fernab von jeglichen Touristen so zugeht. Das tun wir hier nun.
Wir sind außerdem gestern mal ein wenig hinaus aufs Land gefahren und standen plötzlich auf einem Feld, wo nichts war, außer die unbegreifliche Weite des südlichen Patagoniens. Das war schon länger unser Ziel. Von Perito Moreno aus ein paar Kilometer in die Landschaft rauszufahren. Denn nirgendswo sonst steckt man so tief in Patagonien drin, wie hier und man bekommt dieses sagenumwobene Land und seinen Freiheitsmythos so am besten zu spüren.
Und dann standen wir also auf einmal im Nichts. Auf einer Fläche, von der aus man so weit schauen konnte, wie man überhaupt schauen kann. Bis die Grenze der Sehkraft erreicht ist. Das ist Wahnsinn. Und wir hatten die Box mit und haben so laut Musik gehört bis es nicht mehr lauter ging. Und haben geschrien. Jeden Unsinn in die Welt hinaus gebrüllt, den nie irgendjemand außer uns beiden hören würde, egal wie laut wir waren. Und im nächsten Moment schwiegen wir. Eine Schweigeminute quasi, in der es so still wurde, wie ich es selten erlebt habe. Was sich außerdem extrem komisch anfühlt ist, dass dort draußen einfach gar nichts ist. Eine Fläche und ein paar Büsche, ab und zu ein Schafsskelett oder ein knochiger Schädel (wie nennt man denn den Totenkopf von nem Tier) und sonst nichts. Kein Fels, keine Erhebung, kein einziges Lebewesen. Nur die endlose Weite und zwei Deutsche, die denken sie würden ein Abenteuer erleben, während die Argentinier sie auf dem Rückweg ins Dorf nur voller Fragen im Kopf anstarren.
In diesem Moment betritt der „Magier“ den Raum, der laut seines Plakates, das er gerade aufgestellt hat durch ganz Südamerika tourt. Ganz schöner Karriereabsturz, wenn man bedenkt, wo er jetzt mit seinem Programm auftritt. Aber es hat auch irgendwie etwas schönes. Die Kinder, die in den letzten Minuten mehr geworden sind, sind jetzt ganz gebannt und die Augen werden groß. Deren Mütter tauschen stolze Blicke aus und die Bedienung lächelt dem Protagonisten auf der kleinen Bühne ermutigend zu. Draußen ist niemand, aber hier kommen die Leute zusammen. Hier ist die Welt noch in Ordnung. In Perito Moreno, dem unscheinbaren geheimnisvollen Dörfchen irgendwo in Patagonien, Argentinien. Und jetzt bin ich gespannt, was der Magier so zu bieten hat.