Anna in Paris
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Woche 7: Erlkönig, Trump & Kiez

Veröffentlicht: 05.11.2020

Die erste Novemberwoche und erst Schulwoche nach den Herbstferien ist ganz entspannt gestartet. Ich hab den Blogeintrag fertig gemacht und nachmittags meine Blockflöten unterrichtet. Weil ich jetzt wegen des Lockdown viel mehr Zeit als erwartet habe, hab ich mich dazu entschieden, einfach ein paar Seminare in Köln zu belegen, weil ja sowieso alles online stattfindet. Da diese Woche erst das Semester beginnt, habe ich mich noch früh genug dazu entschieden. In Französisch belege ich ab Mittwoch einen Übersetzungskurs, und in Musik einen Musikwissenschafts- sowie -pädagogikkurs. Und falls es mir doch zu viel wird, kann ich die Kurse auch ohne Folgen wieder abbrechen, weil ich eigentlich schon genügend Kurse für meinen Bachelor belegt habe und alles jetzt noch zusätzlich passiert. Am Abend fand dann online eine Semestereröffnungsveranstaltung der Hochschule statt, und danach hab ich nach langer Zeit endlich nochmal an einer Live-Yoga-Stunde teilgenommen. Meine alte Querflötenlehrerin Sally bietet nämlich jeden Montagabend Yoga für Musiker*innen über Zoom an, bei dem man ganz leicht teilnehmen kann. Das hat richtig gut getan!

Der Dienstag war unspektakulär, außer dass eine Klassengruppe einfahc nicht zu mir in den Unterricht kam. Ich dachte, dass der Lehrer es vielleicht vergessen hat, weil es das erste mal gewesen wäre dass von dieser Klasse eine Gruppe zu mir kommt, und weil ich nicht wusste in welchem Raum er unterrichet konnte ich auch nicht nachfragen gehen. Danach hat sich herausgestellt, dass er wohl doch eine Gruppe zu mir geschickt hat, die aber weder bei mir ankam, noch zu ihm in den Unterricht zurückgekommen ist. Upsi!
Als ich abends wieder zu Hause war, hab ich einen ausgedehnten Spaziergang gemacht, und dabei diese passende Straßenkunst gefunden:

Metro, Arbeit, Schlafen #Lockdown

Am Mittwoch hatte ich einen richtig vollen Tag, der mit vielen Emotionen verknüpft war. Mittwochs bin ich immer ausschließlich mit der Lehrerin Julia unterwegs, die auch Deutsche ist und musikalisch sehr interessiert. In einer Klasse arbeiten wir gerade mit den beiden Schauspieler*innen der Schule, Bruno und Noémie, (wie geil ist das eigentlich dass die Schule sowas hat?) zusammen und nehmen an einem schulinternen "Podcast-Projekt" teil. Hier sprechen alle teilnehmenden Klassen und Kleingruppen Gedichte ein, die später veröffentlich werden sollen. Natürlich arbeiten wir im Deutschunterricht an einem deutschen Gedicht - dem Erlkönig. Wir haben die Klasse in zwei Gruppen aufgeteilt die in der bisherigen Vorarbeit schon eine grobe Planung aufgestellt haben: wer spricht welche Rolle, wie machen wir das Gedicht den französischen Hörer*innen verständlich (Übersetzung?), wie bindet man die Größe der Gruppe ein usw. Heute haben wir dann ein bisschen an der Feinjustierung gearbeitet. Ich war mit Bruno für die Hälfte der Gruppe verantwortlich, und da er kein Deutsch spricht, durfte ich den Hauptteil übernehmen. Um mehr Leben in den Vortrag des Gedichts zu bringen, haben wir über die Emotionen gesprochen, die die einzelnen Personen des Gedichts durchleben, also was fühlt der Sohn, in welcher Beziehung steht der Vater zu ihm, wie ist der Gemütszustand des Königs und wie kann man das im Text, noch dazu in einer Fremdsprache, sichtbar machen? Diese ganze Arbeit fand zwar auf französisch statt, aber irgendwie war das gar kein Hindernis, weder für mich noch für die Schüler, weil hier die Stimmfarbe, Gestik und Mimik beim Beschreiben einfach eine super wichtige Rolle gespielt hat. Das Endergebnis der Gruppe war richtig toll, und ich hatte ein ganz klares Highlight in meiner bisherigen Arbeit in der Schule.

Außerdem fand die ganze Arbeit im CDI statt, eine große Bibliothek die jede Schule hat, da es in Frankreich ganz normal ist dass Schüler*innen auch schon in der Mittelstufe Freistunden haben, und so die Zeit vielleicht sinnvoll nutzen können. Der Ausblick aus der Fensterfront des CDI kann sich auch sehen lassen.

Mein Schulgelände

Ebenfalls emotional wurde es in der nachfolgenden Freistunde, die Julia und ich gemeinsam verbracht haben, da sie mir da vom Montag erzählt hat, dem ersten Tag nach den Herbstferien und dementsprechend dem ersten Schultag nach dem Attentat an dem Lehrer Samuel Paty. Die ganze Schulgemeinschaft hat sich nach einer Unterrichtsstunde, in der in jeder Klasse darüber gesprochen werden konnte, auf dem Schulhof versammelt. Es wurden Reden gehalten, der Musiklehrer Stephane hat "One Love" von U2 gespielt und natürlich gab es auch eine Schweigeminute. Bei vielen sind auch Tränen geflossen, und selbst wenn ich mir diesen Moment nur vorstelle und gerade diese Zeilen tippe, bekomme ich Gänsehaut.

Auf dem Weg zur Bahn habe ich Pierre, einen Lehrer den ich erst an dem Tag kennengelernt habe, wiedergetroffen. Wir haben uns die ganze Bahnfahrt über unterhalten, er liebt Deutschland und hat sehr viele deutsche Freunde, und bezeichnet sich selbst als "Müsli".

DAS Thema das den ganzen Mittwoch und jede freie Minute beherrscht hat, war der Wahlkampf in Amerika! Trump vs. Biden, und entgegen vieler Prognosen sieht es überhaupt nicht nach einem "Erdrutschsieg" von Biden aus. Im Gegenteil: Bis das Ergebnis feststeht, dauert es noch einige Tage, da die Stimmen der Briefwähler erst jetzt ausgezählt werden können und man diese noch bis einen Tag vor dem offiziellen Wahltermin abschicken konnte. Alle checken ständig die Nachrichten und hoffen auf irgendwelche wichtigen Änderungen, aber bisher ist das Ergebnis noch vollkommen offen. Trump hat sich allerdings schon zum vorzeitigen Sieger dieser Wahl gekürt, was er zuvor auch schon angekündigt hatte. Mal sehen ob er da Recht behält.

An diesem Nachmittag hatte ich das erste Seminar in Musikwissenschaft, genauer gesagt "Europäische Musikgeschichte". Das ist einfach mal wichtig, weil ich nur ein, sagen wir mal, sehr lückenhaftes musikgeschichtliches Wissen habe. Vielleicht hilft dieser Kurs. Direkt im Anschluss ist mein Übersetzungskurs, der mir immer wieder Spaß macht. Und weil ich an dem Tag noch nicht lange genug vor dem Zoom-Programm gesessen habe, waren wir abends noch verabredet, um die letzten Schritte für die Veröffentlichung unseres Statements bezüglich des AfD-Profs zu diskutieren. Danach war ich aber auch fertig fürs Bett.

Am Donnerstagvormittag hab ich viel Zeug gemacht, und auch nochmal eine längere Yogaeinheit, wie eigentlich mittlerweile fast jeden Tag. Leider kommt mein Rückenweh immer wieder, und sobald ich mal zwei Tage nichts aktives für ihn tue, dann meldet er sich und ich habe wieder Schmerzen. Wie ärgerlich, dass nur aus so Blödeleien im Urlaub was entsteht, was mich noch bis in den November begleitet!

Aber zur Mittagszeit hab ich mir einen großen Spaziergang am Kanal entlang gegönnt und eine tolle Überraschung entdeckt: Ein Kiosk mit dem Namen "Kiez", das nur deutsche Produkte (hautpsächlich Bier) verkauft! Eigentlich als Bar und Restaurant unterwegs, hat sich der Eigentümer wegen des Lockdown spontan gedacht, seinen Laden in ein Kiosk bzw. Supermarkt zu verändern. Wir haben kurz gequatscht, und er hat mir erzählt dass nächste Woche nochmal 160 (!) neue Biersorten dazukommen. Neben Bier gibt es Produkte von Fritz, Maggi, deutsche Süßigkeiten und allerlei leckeres Zeug. Besonders über Fritz-Kola und die Rhabarberschorle hab ich mich gefreut. Bei allerschönstem Sonnenschein hab ich mich dann auch direkt mit meiner Schorle an den Kanal gesetzt und die Sonne genossen.

Freitag war ich fast 12 Stunden aus dem Haus. Aber es hat sich gelohnt! Ein richtig toller Tag: Zur ersten Stunde bin ich ins Lycée gefahren, obwohl ich da normalerweise freitags gar nicht arbeite, aber die Klasse mit der wir den Erlkönig erarbeitet haben sollte an diesem Morgen die Aufnahmen machen. Und weil das zeitlich gepasst hat, konnte ich natürlich auch dazukommen und heute dann mit der anderen Gruppenhälfte arbeiten. Auch hier ging es vor allem um die Feinarbeit, um die Sprachmelodie und das Gefühl, das vermittelt werden will. Es gibt momentan einen deutschen Jungen in der Klasse, der für ein halbes Jahr in Frankreich ist, und der hatte es natürlich am leichtesten, Emotionen in seine Stimme zu legen. Aber alle Schüler*innen aus der Gruppe sind richtig aus sich herausgekommen, und dann gings auch schon zur Aufnahme: mit zwei Kondensatormikrofonen, vor denen sich die Gruppe aufgeteilt hat wurde das Gedicht eingesprochen. Nach den ersten zwei Durchgängen gab es jeweils noch eine kleine Rückmeldung, aber den dritten Durchgang konnten Julia und ich einfach mit geschlossenen Augen genießen. Es war wirklich unglaublich toll, und ich hatte Gänsehaut als die Gruppe fertig war. Ich bin so gespannt auf das Endergebnis!

Danach bin ich zum Collège gegangen, wo ich ganz normal freitags eingesetzt bin. Hier haben Anne-Lou und ich zum ersten Mal die zwei 5ième die wir gemeinsam haben, aufgeteilt, und ich durfte mit jeweils 5 Schüler*innen ins CDI gehen, wo wir in einem kleinen Raum an einem Tisch sitzen und die gleichen Inhalte behandeln, wie der Rest der Klasse auch. Dazu haben Anne-Lou und ich uns gestern abgesprochen und den Unterricht geplant, das war cool. Auch das Unterrichten in einer kleinen Gruppe und vor allem an einem Tisch fand ich wirklich sehr entspannt, es gab viel weniger Hierarchie als in den anderen Klassen, wo die Gruppen zwar nur leicht größer sind, das Umfeld aber ein ganz normaler Klassenraum ist, in dem ich vorne am Whiteboard stehe und die Jugendlichen an Zweier-Tischen sitzen. In diesem Raum im CDI sitzen wir also zu sechst an einem Tisch und schauen beispielsweise gemeinsam in meinen Laptop, und irgendwie ist die Angst der Schüler*innen, einfach loszusprechen, viel kleiner gewesen als sonst. Bin gespannt was in den nächsten Monaten noch passieren kann!

Neben der 3ième, die so alt sind wie bei uns eine 9. Klasse, war ich auch mit einer Kleingruppe der 5ième, also 7. Klasse im CDI. Das war richtig süß, weil die Klasse denkt, dass ich gar kein Französisch verstehe und spreche! Also fand tatsächlich das gesamte Unterrichtsgespräch auf deutsch statt, und wenn sie mal nicht wussten wie sie etwas sagen können, dann haben sie mich das Wort auf Englisch gefragt! Richtig produktiv, und ich glaube auch pädagogisch sinnvoll, weil sie so merken dass selbst wenn sie nicht perfekt deutsch sprechen, sie trotzdem verstanden werden. Ich soll ihnen die Angst vor dem Sprechen nehmen. Auch hier freue ich mich schon auf die nächsten Wochen und Monate!

In der extrem langen Mittagspause, die Anne-Lou und ich zusammen verbracht haben, hat sie mir von der letzten Woche in der Schule erzählt. Es ist eine sehr angespannte Stimmung, einmal wegen der Coronabedingungen, ein anderes Mal wegen der Attentate in Frankreich. Auch sie wollten am Montag eine Gedenkveranstaltung abhalten, und einige Lehrkräfte haben bei der Schulleitung angefragt, ob sie die ersten zwei Stunden des Montags freigestellt werden könnten, um die Zeremonie zu planen. Nachdem diese Anfrage abgelehnt wurde, war das ganze Lehrerkollegium so empört, dass ein sehr großer Teil einfach gestreikt hat. An allen Fächern im Lehrerzimmer hängen Zettel mit der Aufschrift "Je suis enseignant" mit der Anspielung auf "Je suis Charlie" nach den Attentaten auf Charlie Hebdo vor 5 (?) Jahren. Ich habe ganz viel aufgeregten E-Mail-Verkehr mitbekommen, war aber ehrlich gesagt so gestresst (50 Mails pro Tag) dass ich sie nicht gelesen habe.

In der letzten Stunde war ich wie immer bei den süßen 6.-Klässlern mit der überragenden didaktischen Lehrerin, bei der ich versuche alles mitzuschreiben was geht um es später im Französischunterricht für Anfänger selbst genau so zu machen. Um halb 7 bin ich dann endlich wieder zu Hause angekommen und war richtig platt. Trotzdem war ich abends zum Spieleabend mit der Portugalgruppe verabredet, und war da natürlich auch dabei. Ziemlich schnell war von der Müdigkeit nichts mehr zu merken und in meiner Überschwinglichkeit hab ich wohl die ganze Zeit etwas zu laut geredet und gelacht, sodass irgendwann zur späten Stunde mal kurz Florence angeklopft hat und gefragt, ob ich ein bisschen leiser reden könne. Ups! Wie schon mal gesagt, man hört aus dem Nebenzimmer das Rascheln der Bettdecke, also kann ich gut verstehen dass sie da mal kurz angefragt hat. Es war also ein sehr schöner und lustiger Abend! Leider ist es immer noch nicht klar wer die Wahl zum US-Präsidenten gewinnt.

Spieleabend, aber hier fehlen noch ein paar
Am Samstag hab ich dann erst mal ausgeschlafen und war danach mit Anja, einer Lehrerin des Lycée verabredet, um den Unterricht für Dienstag zu planen. Ich bin mir unsicher ob das überhaupt erlaubt ist, aber offiziell ist es ja Arbeit? Auch wenn wir es mit einem Tee verbunden haben. Thema in der Classe prépa ist gerade Expressionismus, und da bietet es sich ja an, dass ich etwas zum Expressionismus in der Musik mache. Und jetzt ist der Plan, dass ich eins meiner Lieblingsstücke, The Unanswered Question von Charles Ives im Unterricht erarbeiten darf!

Gute Nachricht des Tages: BIDEN HAT DIE WAHL ZUM PRÄSIDENTEN GEWONNEN!

Der Sonntag hat mit dem traditionellen Frühstück aus Baguette, Butter, Ei und Croissant begonnen sowie mit FaceTime-Gesprächen mit Oma, und Mama und Papa. Natürlich ist Papa extra mal kurz Halloween holen gegangen, damit sie mir Hallo sagen kann.

Halloween per FaceTime

Am Nachmittag hatte ich dann noch ein Zoom-Gespräch, das erst mal noch geheim bleiben muss, habe meine Stunde Ausgang für einen schönen Spaziergang (inklusive Tannenzäpfle vom Kiez) genutzt und war abends mit Philippe, meinem Tandem-Partner auf Zoom verabredet. Alles in allem also eine volle und schöne Woche, bei der ich nicht das Gefühl habe, dass mich der Lockdown zu sehr einschränkt. Leider mache ich sprachlich nicht so viele Fortschritte wie erhofft, aber weil ich ja eigentlich den ganzen Tag nur deutsch spreche, außer ab und zu mal für ein Stündchen in der Küche oder einmal die Woche in einem Tandemgespräch, ist das nicht sehr verwunderlich.

Ich schätze, dass es bis Weihnachten noch eine Zeit mit vielen Einschränkungen bleibt, Schulklassen ggf. halbiert werden und der Lockdown noch bleibt, es aber hoffentlich ab Januar signifikante Änderungen gibt, mit denen ich dann die "letzten" drei Monate hier noch verbringen kann. Einfach so mal nochmal in ein Café zu gehen wäre schon einfach schön!

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