Veröffentlicht: 22.02.2022
Kolumbien machte mich um eine Erfahrung reicher, ohne dass ich das Land dadurch besser verstand. Montagmorgen frühstückte ich mit Karim aus meinem Hostel. Der Forensiker bereiste die Region seit mehreren Jahren und konnte aufgrund seiner beruflichen Erfahrungen in der Gerichtsmedizin von den Schattenseiten des beliebten Reiselands berichten. Der jüdische Libanese vertrat außerdem dezidiert israel-kritische Positionen, wir vertieften uns in ein angeregtes Gespräch.
Lateinamerika war komplexer, als wir von Europa aus einschätzen konnten.
Nach dem Frühstück nahm ich den Stadtbus zum Nordbahnhof. Dabei stieg ein junger Mann, mitte 20, lässig, modern gekleidet, mit tragbarer Musikanlage zu. Auch wenn mein Spanisch nicht ausreichte, seinem Sprechgesang zu folgen, so wurde mir die Emotionalität seiner Musik doch bewusst. Worte wie "Venezuela", "Economia" und "Futura" zeugten von tiefer Trauer, bis hin zur Verzweiflung. Ich beobachtete die anderen Fahrgäste. Eine ältere Dame wischte sich wiederholt Tränen aus dem Gesicht. Statt betretenem Beiseitesehen herrschte auf den maskierten Gesichtern Anteilnahme. Der Straßenkünstler quittierte mein Almosen mit einer Faust zum Gruße. Ein Mann in seinen besten Jahren, sicherlich talentiert, heimatlos, erniedrigte sich für Kleingeld.
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Mit dem Überlandbus verließ ich Bogota in Richtung Norden nach Villa de Leyva, eine Empfehlung aus meinem Reiseführer. Meine Sitznachbarin war zufälligerweise Ira aus meinem Hostel. Ira war aus Israel. Karim war ihr aufgefallen, zum Gespräch zwischen beiden war es nicht gekommen.
Alles hängt zusammen, dachte ich.
Den Nachmittag verbrachte ich in einem Café, während es draußen in Strömen regnete. Ich belas mich über die venezolanische Wirtschaftskrise und die Anzahl der Flüchtlinge, welche die der aus Syrien beinahe überstieg. Abstrakte Berichte über das Elend der Menschen in diesem einst reichen Land, bekannt aus dem Weltspiegel oder dem Auslandsjournal, wurden für mich plötzlich greifbar.
Abends dann im Hostel folgte noch der bereits ritualisierte Erfahrungsaustausch im Gemeinschaftszimmer: Gangstergeschichten, Corona und Reisetipps.
Unbedingte Leseempfehlung:
https://de.m.wikipedia.org/wiki/Wirtschaftskrise_in_Venezuela