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Hangzhou ni hao! 1/2

Veröffentlicht: 08.10.2019

Aus Simons Tagebuch:

Freitag der 4.10.19 - 1.Tag in Hangzhou - 03:34


Ich kann nicht schlafen. Seit über einer Stunde liege ich schon wach, weil zwischen bockhartem Bett (leider chinesischer Standard), Mosquitisurren und Fledermausquieken sich keine Ruhe finden lässt. Dazu fällt mir alle 5 Minuten ein weiteres Detail des heutigen Tages ein, das ich unbedingt aufschreiben muss.... Also warum nicht gleich aufs Ganze gehen? 

Begonnen hat der wilde Ritt um 8 Uhr morgens. Nach Frühstück, Vorbereitung der Snacks und Packen der letzten Dinge in unseren Wanderrucksack gehen wir gewohnter Dinge 10 Minuten verspätet aus dem Haus. Wer daran Schuld ist, ist nicht bekannt (wie immer ich). 

Die Zeit in der Metro versüßen mir Scooter und seine Freunde der 90er, da kommt richtig Schwung auf! Gegenüber von uns sitzt ein ca. 6 jähriger Junge mit seinen Eltern, ebenfalls auf dem Weg zum Bahnhof. Seine ruhige und aufmerksame Art erinnert mich an meinen Neffen Mattis, die Liebe zu seinem Streichelshirts an meine Nichten Luisa, Leonie und Alma :) Ein leichtes Gefühl von Heimweh kommt auf. Und das Gefühl, dass Streichelshirts offensichtlich für Kindern weltweit DER SHIT sind!

Frühzeitig mit 45 Minuten Puffer für Sicherheitskontrollen kommen wir am Bahnhof Suzhou Nord an, von dem aus laut unserem Wohnungsagenten alle Schnellzüge abfahren. Der Ablauf auf den großen Bahnhöfen ähnelt dem auf Flughäfen: Riesige Terminals, Sicherheitskontrollen, Gleisgates und ständige Durchsagen. Da wir die chinesischen Tickets nicht ganz entziffern können, frage ich den nächsten Polizisten nach dem Gleis. Er antwortet kühl mit "Nicht Hier". - Wie? - "Nicht der richtige Bahnhof." - Wat?! - Auf meinem Handy zeigt er auf den Suzhou Hbf, an dem wir vor 30 Minuten vorbei gefahren sind. FUCK. Der Zeitnot bewusst packe ich meine dezent von Wut und Verzweiflung errötete Anna bei der Hand und wir sprinten zurück zur U-Bahn. Nach kurzen Schuldzuweisungen plane ich im Waggon, wie wir jetzt innerhalb von 13 Minuten an diesem großen, voraussichtlich völlig überfüllten und uns unbekannten Bahnhof rechtzeitig durch Sicherheitschecks kommen und dazu noch das richtige Gleis finden können. Die Chancen stehen zugegebenermaßen gegen uns. Noch dazu kommt die Misere der interkulturellen Verständigung. Hastig lerne ich die Wörter für "Bitte helfen, wir haben wenig Zeit". 

Am Bahnhof angekommen stürmen wir aus der Metro und ich beginne den Weg zu erfragen. 3 Leute, 3 Richtungen. Ein freundlicher Polizist zeigt uns nach penetrantem Dummstellen meinerseits endlich persönlich den Weg. Unter unzähligen "Entschuldigung" beginnen wir uns an Schlangen vorbei zu drängeln. Guten ersten Eindruck hinterlassen? Check, kann ich ;) Sicherheitsleute und Bahnpersonal sehen das Drängeln zum Glück ganz gelassen. Mal überzeugt der Blick aufs Ticket oder die Langnasen wissen es halt einfach nicht besser. 

Top of the Pops bleibt die Rolltreppe wegen Überlast stehen, da die 2 Genossen vor uns 2 mit Obst voll beladene Einkaufswägen mit sich in den nächsten Stock fahren. Vorbeiklettern ist angesagt. Nochmal drängeln, Rolltreppen fahren und wir stehen plötzlich am Gleis. Blick auf die Uhr, 5 Minuten zu früh, Erleichterung macht sich breit. Anna findet meinen Witz, dass wir ja noch locker 3 Minuten hätten liegen bleiben können... fast witzig. Im vollen Zug eingestiegen erfüllt sich unsere Hoffnung, dass wir auf Sitzplätze upgegraded wurden. Das tut gut auf den Stress. 

Verglichen mit dem ICE hat der chinesische Schnellzug Gaotie in der 2.Klasse 5er Reihen und kommt immer pünktlich. Ansonsten ist er sehr sauber, gemütlich, wegen der golden Week natürlich hoffnungslos überfüllt aber so geräumig, dass selbst ich mit meinen Stelzen noch mächtig Beinfreiheit habe. 

China ist flächenmäßig größer als Europa. Die 1,4 Mrd. Einwohner sind zu über 90% in den küstennahen Provinzen zwischen Peking und Hong Kong angesiedelt, im Rest des Landes spielt Campino sein einsames Lied (...tote Hose). Das Ergebnis sind etliche, uns namentlich unbekannte Millionenstädte, welche mehr Einwohner haben als die europäischen Metropolen. Darunter fällt besonders der nahe Bereich um Shanghai (24Mio.) mit Suzhou (11Mio.), Hangzhou (10Mio.), Wuxi (7Mio.), Jiaxing (5Mio) usw. inklusive derer Metropolregionen. Somit leben auf der Fläche Baden-Württembergs um die 100Mio. Menschen. 

"Warum nun die Geographiestunde?" wird sich der ein oder andere Fragen. Auf der Fahrt nach Hangzhou wird mir dieses schier unfassbare Ausmaß erst richtig bewusst. Wir fahren die 200km durch EIN EINZIGES Dorf. Wohnblock, Fabrik, Wohnhaus, Reisfeld, Wohnhaus. Und im Hintergrund immer mindestens 2 Kraftwerke inmitten des unendlichen Dorfes, um den gigantischen Energiebedarf vor Ort zu decken. Ein Eindruck, der  zum Nachdenken bringt... 

Nach 2 Stunden Fahrt erreichen wir Hangzhou und fahren mit der Metro an den in China berühmten Westsee in Mitten einer wunderschönen Bergkette. 

Fast ein gemütlicher, erholsamer Ort, wäre nicht halb China auf dieselbe Idee gekommen. Dazu kommt, das  wir aus irgendeinem Grund ständig das Motiv versteckter Schnappschüsse werden und uns Blicke aus allen Richtungen treffen. 

Da unser Hotel in einem Tal auf der anderen Seite des Sees liegt und der Verkehr auf der Straße um den See still steht, entscheiden wir uns für das Pagodenboot. Auf einer Insel werden wir vom Strom der Menschen weitergeschoben zum nächsten Boot mit Endstation Westufer. 

Dort angekommen geht die letzte Etappe in das hintere Eck des Linyin-Tals. Noch bis 100m vor das Hotel begleitet uns die Menschenmasse und Blechlawine. Doch sobald wir einbiegen in die steilere, mit den Privatfahrzeug nicht befahrbar Gasse zum Hotel: Ruhe. Einzig die kleinen Elektrobusse fahren hin und wieder Touristen zu den weiter oben gelegenen Tempeln. Der Rest der Masse gibt sich mit den Ebenen um den Westsee zufrieden. Jackpot! 

Der Weg durch die Gasse in Mitten der dschungelartig bewachsenen Berghänge ist links und rechts gesäumt von kleinen Restaurants, gemütlichen Teehäusern und Kleiderläden, die traditionell chinesische Gewänder verkaufen. Ein sanfter Teegeruch liegt in der Luft. Rentner trocknen am Straßenrand unter ständigem Rühren die frisch geerntet Blätter in beheizten Wannen zu Grüntee und verkaufen diesen. Kein Kitsch, Blinklichter oder Dauerbeschallung der großen Stadt.

Am Hotel in einer Hintergasse begrüßt uns die ca. 60 jährige Besitzerin und lädt an ihren Tisch zum Tee-trinken. Zeremoniell serviert sie den Schwarztee, lächelt ständig und redet an einem Stück auf uns ein. Wir verstehen nicht viel, doch einige bekannte Wortfetzen (piaoliang, haizi, Jia) kommen heraus: Sie ist völlig außer sich wie hübsch Anna und ich sind. Und wir werden ihrer Meinung nach einen ganzen Stall voller wunderschöner Kinder bekommen! Ich bemerke den Honig, der um unsere Münder geschmiert wird... doch er schmeckt köstlich. 

Bald darauf kommt ein junges Pärchen dazu, welches als Dolmetscher aushilft. René führt ein Hotel im Ort, Thomas arbeitet in Shanghai als Ingenieur. Beide finden die ständigen Schmeicheln der Gastgeberin ebenso amüsant wie wir. Auf die Frage, was es wohl mit den Fotos und Blicken auf uns auf sich hat meint Thomas "You look like movie stars. Blond and tall". Ob er nun von Angelina Joulie und Brad Pitt spricht? Oder doch die Schöne und das Biest? Allein der Gedanke, dass Anna und ich bald in einem chinesische  Wohnzimmer zwischen Winkekatzen und Fernseher stehen könnten, bringt uns zum schmunzeln. 

Beide sind Hobbywanderer und helfen uns bei der Planung zum morgigen Trip. Nach einer Einladung zum Kaffee morgen machen Sie sich wieder auf den Weg und Anna und ich erkunden die mittlerweile finster gewordene Gegend. In der Dunkelheit sitzen wir auf einer Bank am Straßenrand und verputzen unser Vesper. Diesmal beobachten wir unbemerkt die vorbei laufenden Leute. Singende Familien, kichernde Teenager und Mönche spazieren durch den Laternenschein. Wir tanken den entspannten und friedlichen Flair. 


Nach einer kalten Dusche klingt der Abend entspannt mit Rotwein und einer Runde MauMau aus. Zur Sicherheit stelle ich den Wecker, damit ich nicht verschlafe... 



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