Veröffentlicht: 08.10.2019
Sonntag, 06. Oktober
8:30 am. Es ist schon ein vertrautes Gefühl, den Tag mit einer Runde Joggen zu beginnen. Neben den steilen, vielbefahrenen Straßen, über hohe Bordsteine, um den second und first circle herum, vorbei an stinkenden Treppen und wohlduftenden Yasmin-Sträuchern. Es ist von allem etwas dabei. Zwischendurch, immer wieder die gleiche, vertraute Melodie. Sie kommt aus kleinen Trucks, deren Ladeflächen mit Gasflaschen beladen sind, und die unaufhörlich den ganzen Tag, von morgens bis abends, durch Amman fahren und Gas verkaufen, und schon von weitem an ihrer Melodie zu erkennen sind. Die gleiche Melodie. Jeden Tag. Von morgens bis abends. Ich weiß wirklich nicht, mit welcher Strategie die Fahrer das aushalten. Taubheit wäre fast die einzige logische Erklärung.
Heute ist außerdem noch ein anderes hier eher ungewohntes Geräusch zu hören: Kirchenglocken. Es ist das erste Mal, dass ich das hier in Amman höre. Es fühlt sich direkt nach Sonntag zu Hause an, was etwas verwirrend ist: der Sonntag hier ist ja der erste Wochentag, demnach ein ganz normaler Arbeits- und Uni-Tag, weshalb wir später auch noch Vorlesung haben. Da unsere Vorlesungen immer erst um 5 Uhr am Nachmittag starten, fühlt es sich jetzt immer noch nach einem freien Tag an. Wir nehmen uns also Zeit für ein ausgiebiges Frühstück: Omelette, Makdus, Oliven, Baladia Käse und arabisches Brot, Rohkost und Halawa. Uns fehlt es hier an nichts.
Nach dem Frühstück zeige ich Lea den Weg zur Uni und zum Sprachkurs-Raum, und setze mich dann während ihrem Kurs auf den Balkon des Wild Jordan Centers, von wo aus ich in aller Ruhe und mit Blick auf Amman und Uni selbst ein wenig arabisch lerne. Mit einem arabisch-englischen Kinderbuch, das ich für einen Dinar bei einem der Straßen-Buchstände in Downtown gekauft habe. Es geht um ein Eichhörnchen, das Nüsse sammelt. Ich schaffe in eineinhalb Stunden genau einen Satz. Zu meiner Verteidigung zieht der sich allerdings über drei Zeilen. Mühsam ernährt sich eben das Eichhörnchen.
Ich nutze die knapp eineinhalb Stunden vor der nächsten Vorlesung dann dazu, Lea die Downtown zu zeigen. Die bunten Treppenstufen hinunter, die mit den hübschen blau-violetten Schirmen überdacht sind, vorbei an unserem Lieblings-Sandwichladen, an dem wir uns ein Halloumi-Sandwich auf die Hand mitnehmen, an Hashem, den unzählig vielen Läden, die traditionell bestickte Gewänder verkaufen, und der großen Moschee, bis wir es zum Markt geschafft haben. Der Geruch nach frischem Gemüse und Obst ruft bei mir immer wieder von Neuem Glücksgefühle hervor. Ich zeige Lea auf der anderen Seite des Marktes dann noch den Laden, in dem ich am Tag davor schon Kaffee besorgt habe, und wir lassen uns jetzt noch einmal ganz frisch Kaffeebohnen mahlen und mit Kardamom mischen. Mhh. Die Tüte, mit der wir dann den Laden verlassen, ist noch warm, und duftet ganz wundervoll nach Energie.
Eine halbe Stunde vor Vorlesungsbeginn treten wir den Rückweg an, und machen nur noch einen Stopp: ein Straßenverkäufer, der einen Berg von Kiwis vor sich aufgebaut hat, hat es Lea angetan. Bevor wir auf den Verkäufer zugehen, beschließen wir, nicht mehr als einen Dinar für eine Schachtel zu bezahlen. Adib hat uns gerade noch am Tag davor gesagt, was die beste Strategie zum Verhandeln ist: Wenn uns der Preis für ein Produkt zu teuer erscheint, sollen wir „Ghali!“ sagen – „Teuer!“. Auf arabisch habe das direkt eine andere Wirkung, meint er. Als uns der Verkäufer dann 2,50 JD als Preis für eine Schachtel nennt, kommt es also wie aus der Pistole geschossen aus mir heraus. Während uns der Verkäufer versucht, vom Gegenteil zu überzeugen, drehen wir uns um und gehen weiter. „Wahid nus!“ ruft er uns hinterher, was 1,50 bedeutet. Bis wir uns umgedreht haben und wieder vor ihm stehen, hat er den Preis dann auf einen Dinar reduziert. Adibs Strategie funktioniert.
In unserer Mental Health Vorlesung geht es heute um vulnerable people, also besonders wehrlose und verletzliche Menschen, mit denen wir voraussichtlich in unserer späteren Berufswelt zu tun haben werden. Wir bekommen nun die Gruppenaufgabe, verschiedene Arten und Gruppen von vulnerability zu identifizieren. Meine Gruppe hat schnell die Klassiker identifiziert, die ich auch noch aus meinem ersten Semester und diversen institutionellen Besuchen in meinem Kopf habe: Frauen, Kinder, unbegleitete Minderjährige, Menschen mit Behinderung, Menschen aus der LGBTQ+ Community. In meiner Gruppe ist auch Shawqi, der aus Palästina kommt, und erst heute zu unserem Kurs dazugestoßen ist. Er hat vor diesem Social Work Diploma, das wir hier in Amman machen, noch keine soziale Arbeit studiert, und hakt jetzt nach. Warum wir gerade diese Gruppen als vulnerabel bezeichnen, will er wissen. Diese kleine Bemerkung ist für mich ein richtiger eye-opener. Er hat völlig recht: Ich bin nach nur einem Semester Sozialer Arbeit schon so weit, dass ich total unreflektiert gängige Definitionen und Einteilungen übernehme, ohne mir weiter darüber Gedanken zu machen. Ich hoffe sehr, dass in solchen Situationen immer ein Shawqi neben mir ist, der mich wachrüttelt, und wieder in die Realität zurückholt.
Heute aus meinem Kinderbuch:
Eichhörnchen- سنجاب
Sammeln- جمع
Haselnuss- بندق
Eiche- بلوط
Baum- شجرة