Veröffentlicht: 13.02.2023
13.02.23 Sidi Ifni – Tafraout Wir wollen heute um 9.00 Uhr losfahren. Um 7.30 Uhr klingelt mein Wecker. Ich habe gelernt, dass ich mir für den Aufbruch Zeit nehmen muss. Wenn ich in Eile gerate, passieren Fehler, übersehe ich Dinge, die ich während der Fahrt dann bereue. Ein Besteckkasten der nicht verriegelt ist und in jeder Kurve Alarm schlägt, ein Abfalleimer, den ich nicht geleert habe oder – am schlimmsten – ich vergesse mir die Süßigkeiten als Belohnung für jede 50-Kilometer-Etappe zurecht zu legen – aber da muss ich schon sehr in Eile sein.
Heute lasse ich mir extra lange Zeit. Mir fällt der Abschied nicht leicht. Ich habe mich daran gewöhnt, mit dem Rauschen des Atlantiks einzuschlafen und morgens mit einem Blick auf sein Wellenspiel zu frühstücken. Für mich war das der schönste Stellplatz, auf dem ich je gestanden bin. Ich habe sicher schon Plätze mit modernerer Ausstattung gesehen, aber hier war alles, was man braucht. Und wenn einmal die Stromversorgung in die Knie ging, oder das Wasser beim Duschen nicht mehr ganz heiß war – was soll’s, dieser Ausblick, dieses grandiose Panorama hat für alles entschädigt. Und mehr als das: Mich hat es tief beeindruckt. Für mich wird es unvergessen bleiben.
Unvergesslich – dieses Prädikat hätte auch die Strecke zwischen Sidi Ifni und Tafraout verdient. Der Weg über den Anti-Atlas, den ältesten Teil des Atlas-Gebirges, bot eine wilde Mischung aus atemberaubenden Panoramen, spannenden, nicht ungefährlichen Situationen und Nervenkitzel pur. Einen guten Teil dazu beigetragen hat der Wind, der immer stärker wurde, je höher wir den Pass hinauf kletterten und der auf fast 2.000 Meter Meereshöhe zum Sturm geworden war. Serpentinen, kaum so breit wie zwei Fahrzeuge, führten uns steil bergauf. Auf der einen Seite ging es 50, ja vielleicht 100 Meter zum Teil senkrecht hinunter, auf der anderen Seite ragten Felswände empor, drohend, als würden sie jeden Augenblick mit Felsen und Steinen nach uns werfen. Bernd vor mir hatte Glück: Als plötzlich Steine und Äste geflogen kamen, rettete ihn eine Vollbremsung vor Schlimmerem.
Ich war müde, als wir losfuhren, aber spätestens jetzt war ich hellwach. Wenn mein Wohnmobil durch eine Böe wie von magischer Hand plötzlich um einen halben Meter nach links oder rechts versetzt wurde, konnte ich das Adrenalin fast spüren, wie es bis in die Haarspitzen hinauf durch meinen Körper schoss. Dabei waren Wind und Natur nicht die einzigen Herausforderungen. Immer wieder musste man Männern ausweichen, die zu Fuß riesige schwarze Säcke schleppten oder Fahrzeugen wie jenem Mercedes, der geschätzte 100 Jahre alt war, schwarze Rauchwolken aus dem Auspuff blies und nur noch von seiner, gelben, roten und blauen Farbe zusammengehalten wurde. Hinten sah ich vier Köpfe und vorne drei und der Fahrer überholte mich in einer Kurve, in der er unmöglich den Gegenverkehr im Auge haben konnte. Nicht auszumalen, was passiert wäre, wenn es hier gekracht hätte. Und im Radio trällerte Madeleine Peyroux ihr Summerwind …
Oben auf dem Pass angekommen legten wir auf einem großen Platz vor einem verlassenen Restaurant eine Pause ein. Unsere zehn Wohnmobile rückten eng zusammen. Ich sah sie vor mir im Wind schaukeln, als würden sie sich zur Musik im Rhythmus wiegen. Der Sand prasselte auf uns ein. Es hörte sich fast an, als würde ein Platzregen auf uns niedergehen. Ein Blick auf die Uhr: 12 Uhr mittags. Als wir nach 15 Minuten wieder losfuhren, klatschen tatsächlich dicke Regentropfen auf die Windschutzscheibe. Sand und Wasser wirken wie Schmierseife auf der Fahrbahn. Und jetzt ging es auch noch bergab. Highnoon …
Doch als wir um den nächsten Berg rum waren, bot sich uns ein ganz anderes Bild: Die Berge waren nur noch Hügel, zwischen denen sich die Fahrbahn fast gemütlich nach unten schlängelte, vorbei an Bergdörfern, in denen die Zeit stehengeblieben zu sein schien. Wind und Regen waren weg. Vollkommen. Von einer Sekunde auf die andere. „Das war fast ein wenig wie Achterbahn“, hörte ich eine Stimme über Funk, „und wir mussten nichts bezahlen.“ Ja, zum Glück, denn wenn, dann hätte das teuer werden können …