Veröffentlicht: 06.03.2023
06.03.23 Midelt Unglaublich, welch’ große Auswirkungen kleine Teile nach sich ziehen können. Zum Beispiel, wenn sie fehlen. Ich will Euch jetzt nicht mit Beispielen langweilen, sondern gleich zur Sache kommen: Das Stückchen von meinem Zahn, das ich mir an einem herrlich weichen Baguette mit rescher Kruste – ich könnte heute noch ins Schwärmen kommen … – ausgebissen habe, hat Probleme gemacht. Ich konnte spüren, dass die Stelle von Tag zu Tag mehr auf kalte und warme Flüssigkeiten reagierte. Ich habe versucht, mit Kaugummi die Lücke zu füllen, aber das klappte nicht, sie war einfach zu groß. Gestern Nacht ist mir dann klar geworden, dass ich die zwölf Tage nicht schaffen werde, die bis zu meiner Heimkehr nach Stolpe an der Oder noch vergehen werden. Die Angst vor der Rückfahrt über 3.000 Kilometer mit Zahnschmerzen war schließlich größer als die vor einem marokkanischen Zahnarzt, die – zugegebenermaßen – nicht gerade klein war …
Ich suchte also heute Morgen im Internet nach einem Zahnarzt in Midelt, immerhin eine 56.000 Einwohner große Stadt. Ich hatte schnell einen gefunden und machte mich kurz vor 9 Uhr mit Google Maps auf dem Handy als Lotse auf den Weg. Alles gut, um 9.10 Uhr stand ich in der Praxis, die ich im zweiten Stock eines relativ neuen Gebäudes fand. Zwei Frauen mit Kopftuch saßen in dem großen Wartezimmer, die kleine Rezeption war unbesetzt. Ich wartete. Es kamen zwei Frauen, ein junger Mann und ein älterer Herr, die beide, wie sich später herausstellte, nur etwas abholten. Es wurde kein Wort gesprochen, aber immerhin: Ich musste nicht mehr alleine warten.
Nach weiteren 15 Minuten kam ein Mädchen die Tür herein gestürzt, murmelte ein paar Worte und ließ sich auf den Stuhl hinter der Rezeption fallen. Sie sprach ein paar Brocken Englisch, und so konnte ich ihr recht einfach verständlich machen, wo mein Problem lag. Von meinem Personalausweis schrieb sie meinen Namen ab und sagte mir, ich hätte die Nummer zwölf und könne mich setzen. Zwölf Tage bis zu meiner Heimkehr, jetzt die Nummer zwölf – wenn das kein gutes Omen war!
Während im Warteraum der Fernseher einen Tierfilm über Meeresbewohner zeigte, füllte sich der Saal. Nach etwa einer Stunde saßen da etwa 20 Frauen aller Altersgruppen. Und ich. Niemand sprach, es gab keinerlei Blickkontakt. Eine der Frauen hatte ein Mädchen dabei, das vielleicht zwei, drei Jahre alt sein mochte. Es lag die längste Zeit in den Armen der Mutter. Plötzlich kam Bewegung in die Frauen. Die Mutter holte ein Tuch heraus, die Frau neben ihr stand auf und spannte es so auf, dass die Frau vor meinen Blicken geschützt war. Ich dachte, die Mutter würde jetzt ihr Kind stillen, und das Tuch wäre nur nötig, weil ich der einzige Mann im Raum war. Ich deutete der Frau, die neben der Mutter saß an, dass ich hinausgehen könne und sagte etwas wie „Should i go out?“
Die Frau sah mich mit weit aufgerissenen Augen an, als könne sie gar nicht glauben, was sie da gehört hat. Sie murmelte etwas und plötzlich murmelten auch die anderen Frauen. Ich sah nur die bösen Blicke, das Kopfschütteln. Ich setzte mich schnell wieder hin, versteckte mich hinter meinem Handy und wehrte mich nicht gegen den Wunsch, im Erdboden zu versinken. Sofort. Auf der Stelle. Meinen die vielleicht, ich würde die Frau anbaggern? Au Backe …
Zum Glück holte mich kurz darauf die Assistentin ins Behandlungszimmer. Ich war überrascht, als mich eine junge Zahnärztin mit einem netten Lächeln empfing. Die Ausstattung war alt und verschlissen, doch es war in Ordnung. Die Ärztin machte einen kompetenten Eindruck, sie sprach sogar ganz gut Englisch. Wir machten eine Röntgenaufnahme, ich musste helfen und die Platte in meinem Mund fixieren. Dann erklärte sie, dass sie mir eigentlich eine Krone verpassen müsste, aber das in der Zeit nicht möglich sei. Sie schlug mir vor, das Loch zu füllen, und ich musste ihr versprechen, zu Hause so bald wie möglich zu meinem Zahnarzt zu gehen. Dann ging alles ganz schnell. Bohren, Füllen, Härten, ich ein Foto von den beiden Frauen, die Frauen ein Foto von mir und Goodbye. An der Rezeption musste ich meine Rechnung bezahlen: umgerechnet 16 Euro. Zum ersten Mal in Marokko habe ich mir das Handeln und Feilschen gespart.