Veröffentlicht: 04.09.2019
Wir werden von euch regelmässig gefragt: Wie könnt ihr euch das leisten? Einfach so zu reisen, mit 4 Personen, ohne Einkommen? Das ist eine wichtige Frage. Wir haben die letzten Jahre sparsam gelebt und genug verdient, um sparen zu können. Und genauso sparsam, wie wir bis jetzt gelebt haben, reisen wir auch. Wir nutzen öffentliche Verkehrsmittel, kochen oft selbst und kaufen keine Souvenirs. Bis jetzt haben wir (mit Flug und allem) pro Monat nicht so viel verbraucht, wie wir in der Schweiz ungefähr für unsere monatliche Miete bezahlt hätten. Und da kommen wir zum wichtigsten Grund: Wir können uns das nur leisten, weil wir aus einem der reichsten Länder der Welt kommen und in vergleichsweise arme Länder reisen.
Hier am Kaukasus geht es den Wirtschaftsräumen, in denen wir uns aufhalten, nicht sonderlich gut. Die Preise sind für uns sehr niedrig, ja. Wir können 6 Stunden mit dem klimatisierten Reisebus für 4 Franken/Euro pro Person reisen. Wahnsinn. Wir kaufen Ost und Gemüse für einen Tag und zahlen 1 Franken/Euro. Unglaublich. Aber nur für uns so vorteilhaft. Denn umgerechnet auf die 200 bis 300 Franken/Euro, die hier ein durchschnittlicher Mensch verdient, ist das ziemlich viel. Das, was wir gemacht haben - Geld neben den laufenden Kosten im Alltag anzusparen, um dann z.B. reisen zu gehen oder eine Wohnung zu kaufen - können die Menschen hier nicht so einfach machen. Sie müssen sich Geld ausleihen oder eben auf das neue Auto oder den guten Gasofen verzichten.
In Georgien ging es so ziemlich allen Menschen so, die wir getroffen und auf den Strassen gesehen haben. Und auch, was wir von Aserbaidschan gehört hatten - nämlich, dass es zwar teurer sei, aber Infrastruktur und Gesundheitssystem katastrophal seien - bestätigte unsere Erwartung, wieder in ein armes Land zu reisen. So war die Überraschung gross, als wir mit dem Nachtzug in der Hauptstadt Baku ankamen - und an einem neuen, riesigen Bahnhof aus Marmor und modernem Design landeten. Es gab dort über 20 schmucke Arbeitsplätze für Menschen, die beim Warten am Laptop arbeiten - wie man sie von globalen Flughäfen kennt. Wir sahen keine Menschen, die an Laptops arbeiteten, und setzten uns dort für unser Frühstück hin. Sofort kamen mehrere Sicherheitsbeamte, die uns beäugten, sich aber nicht trauten, uns fortzuschicken. Dafür erschien aus dem Nichts eine Putzfrau, die streng schauend jeden Krümel, den unsere Kinder fallen liessen, penibel aufwischte. Es war skurril - und wir wussten noch nicht, was wir davon halten sollten (übrigens gab es gar keinen Platz, an dem man sonst hätte essen können. Alles war aus Marmor und überall war Sicherheitspersonal).
Die Überraschung ging weiter. Unser Weg war von Marmor gepflastert. Blitzeblank glänzend, steril sauber. Und Chrom, jede Menge Chromgeländer. Unterführungen, Metro-Station, Park. Wir schlenderte in die Altstadt von Baku, wo unsere kleine Einzimmerwohnung lag (leider nicht aus Marmor und leider auch etwas schäbig - wie gesagt, sparsam reisen). Ein schickes Hotel reihte sich an das nächste. Teure Restaurants, ganz im orientalischen Stil mit klassischer Dekoration. Wir sahen keinen einzigen Strassenhund.
Direkt neben der Altstadt, die wirklich wie aus 1001 Nacht wirkte, mit ihrer persischen Architektur und den liebevoll restaurierten Gebäuden, war ein Boulevard zum Schlendern direkt am Meer. Einkaufsstrassen und eine Fussgängerzone mit vielen Restaurants. Wir trauten unseren Augen kaum. Es war wie eine Parade von allen Marken, die Rang und Namen haben. Wir kennen noch nicht einmal alle. Gucci, Versace, Prada und Co. Gepaart mit den makellos gepflegten Gehsteigen und den vielen, vielen (!) teuren SUVs und glänzenden Angeberschlitten, die vor den Geschäften parkten, fühlten wir uns, als hätten wir uns in Zürich verlaufen.
Lieber flohen wir in den Park - auch hier alles aus Marmor, daneben sattgrüne Rasen, mit exotischen Bäumen, die aus Afrika und Italien importiert wurden, und breit angelegte Springbrunnen. Wohl gemerkt: Um uns herum war Steppe. Meilenweit braune Hügel und kein Wasser. Vor uns das salzige Meer. Auf dem man, wenn man ganz nah heranging, einen leichten Ölschimmer erkennen konnte.
Dieser Schimmer - und die ganzen Öltürme auf dem offenen Meer und ausserhalb der Stadt - ist auch das Geheimnis, das diese surreale Pseudowelt erschaffen hat. Erdöl. Aserbaidschan hat Öl in Hülle und Fülle. Schon zu Zeiten, als Karawanen hier durchzogen, wurde das Öl in Behältern nach Europa oder China exportiert (damals unter anderem als Kosmetik und Medizin). Es war eines der ersten Länder, in denen das schwarze Gold gefördert wurde. Heute gehört Aserbaidschan nicht zu den Top-Playern der globalen Ölindustrie, aber die EU ist einer ihrer wichtigsten Handelspartner. Es ist also realistisch, dass einige der Benzinliter in euren Autos oder irgendwelche Zahnbürsten aus Öl gefertigt sind, das eben aus diesem Meer vor unseren Augen gebohrt wird. Vor ungefähr 10 Jahren hat Aserbaidschan eine umfangreiche Bohrlizenz an mehrere internationale Konzerne vergeben. Seitdem wird wieder mehr Öl gefördert. Und damit wurde auch Geld eingenommen. Viel, viel Geld.
Wir überlegen. Wenn Aserbaidschan so viel Geld einnehmen kann - viel mehr Geld, als wir in Georgien riechen konnten, dann muss es ja auch zu sehen sein. Und weil wir neugierig sind, spielen wir Spürhunde und schnuppern uns an Banknoten entlang.
In der Innenstadt, in der wir uns grösstenteils aufhalten, ist es einfach, die Geldscheine zu sehen. Anscheinend muss es eine breite Oberschicht geben, was uns auch ein Einheimischer bestätigt. Menschen, die Rolls Royce fahren und bei Prada massenhaft Taschen einkaufen. Die in teuren Restaurants sitzen und zwar ohne ihre gutangezogenen Kinder - die sind nämlich auf dem Spielplatz, so wie wir, aber mit ihren Nannys.
In der Innenstadt gibt es ausserdem den ganzen Tag Wasser, es gibt jede Menge Polizisten, die darauf achten, dass die europäische, grossstädtische Kulisse genau das bleibt - eine Kulisse. Pausenlos laufen gebeugte, ältere Frauen herum, die mit Besen Laub, Zigaretten und Papierchen auflesen. Es gibt unglaublich viele Mülleimer. Und doch - da sind sie, die einheimischen Teenies, die beschäftigten Geschäftsmänner - es ist ihnen völlig egal. Sie schmeissen ihren Müll einfach auf die Strasse. Und direkt danach kommt wieder eine der vielen Frauen und fegt darüber. Wir wittern eine Kulisse, eine Falschheit dieser Sauberkeit, die nicht zu den Menschen passt, die hier wohnen.
Und da ist die nächste Geldspur: Denn diese Fassade will vor allem uns beeindrucken - Touristen. Wir sind zwar gefühlt die einzigen Touris aus Westeuropa, die sich in Baku aufhalten, aber dafür wimmelt es nur so von Saudis und Grossfamilien aus Dubai, von Iranern und Türken, die alles und jeden (vor allem unsere Kinder) knipsen und sich von gefakten venezianischen Gondolieri herumkutschieren lassen. Es ist, als hätte sich ein Expertenkommitee zur Hauptaufgabe gemacht, die Stadt so herzurichten, dass Touristen beeindruckt sind: Aufwendig renovierte Museen, Springbrunnen, Aussichtsplattformen, Skulpturen... all das - kostet Geld. Viel zu viel Geld, wie wir finden.
Wir fragen uns, wie wohl das Leben neben diesem Disneyland aussieht. Für die restlichen 90 % der Einwohner dieser Stadt. Durch die Vermittlung einer Freundin haben wir die Chance, Einheimische kennenzulernen. Sie laden uns zu sich ein. Es ist ein wunderbarer Tag, wir lachen und quatschen (sie können sehr gut Englisch) und entdecken so viele Gemeinsamkeiten.
Sie sind eigentlich wie wir - studiert, eine junge Familie, Mittelschicht - aber eben hier in Baku. Und das ist der Unterschied. Denn Mittelschicht bedeutet hier, dass du selbst einen Wassertank einbauen musst, damit du immer fliessend Wasser hast. Es bedeutet eben auch, dass du dir einen Kredit nehmen musst, wenn du in Urlaub fahren möchtest. Wir sprechen nicht direkt über Geld - irgendwie empfinden wir es als beschämend - und wir freuen uns für unsere neugewonnenen Freunde, dass sie sich ihr Leben einigermassen einrichten können. Aber die Angst vor dem Abgrund - dass die Finanzen eben nicht reichen und man zu den vielen, vielen Menschen gehört, die mit der schlechten Infrastruktur leben müssen - die wabert irgendwie durch ihre gemütlich eingerichtete Wohnung. Und alles ausserhalb dieser Wohnung erscheint uns wie ein grosses finanzielles Chaos. Ungenügende Kanalisation, schlechte Ärzte und korrupte Politiker. Was wir hören, klingt für uns, als wäre um uns herum gar kein Geld vorhanden.
Nach einigen Tagen entfliehen wir diesem Ungleichgewicht. Wir fahren mit dem Bus in den Norden des Landes, nach Sheki. Es scheint, dass der Einfluss des Ölgeldes mit der Entfernung von der Innenstadt immer geringer wird. Gab es bei unseren Bekannten in der Innenstadt zwar keine gute Heizung, dafür aber einen modernen Park mit Spielplatz, so gibt es hier in Sheki weder noch. Es ist einfach so, als gäbe es keinen Reichtum. Ein alter russischer Lada nach dem anderen fährt an uns vorbei.
Menschen verkaufen ihr Gartengemüse, Männer trinken Tee, jemand hat ein amputiertes Bein. Es wirkt alles wie aus einer anderen Zeit. Es tut uns leid für diese Menschen, dass sie mit so viel schlechter Infrastruktur leben müssen. Aber irgendwie fühlen wir uns hier wohler. Vielleicht sind wir einfach nicht die Grosstadt-Typen. Oder vielleicht gefällt es uns besser an Orten, an denen es wenigstens allen gleich geht.