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Ghetto Life

Veröffentlicht: 05.03.2020

Im Collectivo fahren wir mit warmen Fahrtwind, der von draußen kommt, nach Mapocho, biegen an der Kirche ab und passieren Artesano, dort wo Enrique bereits auf dem Markt seine Pfirsiche verkauft. "Da ist er" sagt meine Schwester, aber schon stehen wir an der Ampel, Kreuzung Avenida La Paz, die uns weiter zum Zielort bringt. Mit unseren ganzen Taschen hätten wir Stunden gebraucht und wahrscheinlich 18 Pausen gemacht, obwohl man Mapocho zu Fuß gut in 20 Minuten erreicht. Es geht geradeaus weiter, an der zweiten Kirche vorbei, und nun sind wir in Independencia. Der Name ehrt das Viertel nicht, denn hier herrscht alles andere als Unabhängigkeit.

Als wir ein weiteres mal abbiegen, links herum, kurz darauf erneut rechts, ist ersichtlich, weshalb. Wir fahren in das an Mapocho angrenzende Barrio, das seinem benachbarten in Nichts nachsteht.

Der einzige Unterschied, hier gibt es Hochhäuser, die abwechselnd zu den typischen, ebenerdigen Steinhäusern, das Ambiente dominieren.

Die Sonne brennt am Himmel, es ist Mittag, kurz vor der Siesta. Menschen sitzen und stehen auf der Straße, die Energie der Armut, die hier präsent ist und in der von Hitze geschwängerten Luft flirrt, ist deutlich zu spüren. Das Leben der Menschen hier wird wiederum von einem einzigen Aspekt dominiert, das Beschaffen und das Konsumieren von Drogen jeglicher Art. Hier wohnt alles, Peruaner, Kolumbianer, Puerto Ricaner, Kubaner, Chilenen am aller wenigsten.

Als das Collectivo vor einem riesigen Hochhaus hält, das mindestens 10 Stockwerke hat, sagt meine Schwester dem Fahrer, dass er kurz warten und mir, das ich auf das Gepäck aufpassen soll. In der Zeit, in der Sie den Pförtner zuwinkt und das Tor passiert und zum Eingang des Hochhauses geht, stehe ich vor dem Auto und rauche Eine. Der Fahrer hat die Ruhe selbst, weil die Uhr weiter läuft.

Nach circa 7 Minuten sehe ich meine Schwester mit einem Daumen hoch auf mich zukommen. "Si, vamos"

Wir nehmen das Gepäck aus dem Kofferraum und ich folge ihr. An den Pförtnern vorbei, hinein ins Haus und an weiteren vorbei, stehen wir dann mit 5 anderen Menschen vor drei Fahrstuhl Türen.

Die Art der Pförtner und ihr Grüßen, das zu freundlich war, ihre viel zuvorkommenden Attitüden meiner Schwester gegenüber, verraten mir im Handumdrehen, welche Verbindlichkeit ihre Verbindung trägt und zu welchem Zweck diese so offenkundig preisgegeben ist.

Als wir im 4. Stock aussteigen und den langen Flur vom Fahrstuhl bis zur hinten liegenden Tür gehen, hallt schon Musik von dort zu uns, irgendwo hört man Streit.

Um zu verkürzen: Die nächsten 10 Tage wohne ich mit meiner Schwester bei 2 Frauen, deren Wohnung der Drogen Umschlagsplatz in diesem Viertel ist. Fast durchgängig läuft Musik, bis zum Anschlag aufgedreht, was hier niemanden zu stören scheint. Leute kommen und gehen, nähere Freunde dürfen bleiben und werden auch nach 3 Uhr nachts bekocht. Party nonstop.

Alles spielt sich in dem kleinen Wohnzimmer ab, an das die Cocina americana, offene Küche, angrenzt. An guten Tagen klingelt es ständig, jeder wird versorgt, bis zum Pförtner, Tag und Nacht.

Wir haben zu Zweit ein 1,20 Bett in einem Raum, der nicht viel breiter ist. Die Tür dämpft den Musikschall gering ab.

Nur selten ist es ruhig nachts, denn wenn die Anlage mal aus ist, so sind Schüsse und die Leben der Leute ueber uns zu hören, stets lautstark, stundenlang, die auch keinen Offline Modus besitzen.

Ein Alkoholiker Pärchen, das jeden zweiten Abend die Szene des Vorabends, oder die des Abends vor zwei Tagen, wiederholt.

Die Waffe, die auf dem Sofa liegt, als ich morgens auf den kleinen Balkon gehe, um zu Rauchen, ist Inventar. Ich bin mir sicher, dass die Schüsse, die man nachts hört, auch mit ihr abgefeuert wurden.

Die beiden Frauen, die mir als Schwestern vorgestellt wurden, sind ein Pärchen. Alle wissen das, aber niemand spricht es laut aus.

Interessant ist das, was sie in Fülle haben und verkaufen, Drogen bis zum Umfallen.

Schlaf gibt es hier wenig, so gehe ich morgens raus, verkaufe mit Enrique Pfirsiche, laufe durch Patronato, gehe den Cerro San Cristobal hoch und komme wieder, wenn es dunkel wird. Draußen gilt die Regel, kein Schmuck, kein Handy, so unauffällig wie möglich, vor allen kein Geld bei sich haben, nur das Nötigste, um Brot oder ein Getränk zu kaufen. Einmal bringen wir Enrique seine Wäsche und etwas Essen. Es ist weit nach 00:00 Uhr, wir bleiben eine Weile bei ihm, der in einer Seitenstraße ein Lager aus Zeitungen hat, nicht mehr und nicht weniger. Wir sitzen auf Kisten und rauchen.

Als wir wieder gehen, kommen zwei Männer auf der anderen Seite auf uns zu. Wir bleiben an der Kreuzung Avenida La Paz und Artesano stehen, die beiden Typen stehen auf der anderen Seite an der Ampel. Enrique sagt, dass sie kurz bevor wir gekommen sind, jemanden mit einem Messer überfallen haben. Als es Grün wird, kommt von links ein Mann auf uns zu, der Enrique zur Seite zieht und etwas gibt. Die beiden Männer laufen an uns vorbei, da der Drogenkurier offensichtlich mehr Einfluss auf sie hat, als ihnen lieb ist. Glück gehabt.

Nach 10 Tagen fahre ich weiter nach La Serena, zurück ans Meer, wo ich am Anfang schon mit den Zirkusleuten gewohnt habe. Meine Schwester bleibt in Santiago. Ich freue mich auf die beiden Mädchen, die ich auf den Osterinseln kennen gelernt und die mich eingeladen haben.

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