Veröffentlicht: 26.01.2023
Es ist Tag 5 und somit auch der letzte Tag der Neujahrsfeierlichkeiten in Vietnam. Die Vietnamesen verbringen auch diesen letzten Tag im Kreise ihrer Familien. Die Männer in chicen Anzügen, die Frauen in eleganten und oft auch traditionellen Kleidern, wird durch die Stadt flaniert, Kaffee getrunken und es werden Familienfotos gemacht. Besonders das Ufer rund um den Hoan-Kiem-See ist eine beliebte Kulisse für Familienporträts zu sein. So manche Familie scheint sogar eigens einen Fotografen engagiert zu haben. Auch ich darf mich einmal kurz als Hobbyfotografin anbieten, als eine Gruppe Frauen sich vor einer großen Katzenfigur ablichten lassen möchte. Die Katze ist übrigens das Tierzeichen des in Vietnam neu eingeläuteten Jahres. Überall sieht man meist kitschig anmutende Katzenfiguren und Bilder.
Am Hoan-Kiem-See vorbei schlendere ich weiter Richtung Süden, wo ich mich - neugierig wie ich bin - von lauter Musik anziehen lasse. Sie führt mich in eine kleine Seitengasse, die flankiert ist von kleinen Bücherläden. Oh, wie sehr würde ich mich über so eine Büchergasse in Innsbruck freuen. Mein Leserattenherz schlägt schneller und ich denke an das eine oder andere Familienmitglied, das in so einer Gasse wohl auch Stunden verbringen könnte. Die Musik kommt übrigens von einer kleinen Bühne, wo besonders für die Kinder Partyhits gespielt werden. Ich setze mich in ein kleines Café, bestelle einen klassischen vietnamesischen Milchkaffee und lasse die Stimmung auf mich wirken. Ich kann sogar ein englisches Buch über beeindruckende vietnamesische Frauen ergattern, welches von einer Vietnamesin und einer Österreicherin geschrieben wurde.
In starkem Kontrast zu der fröhlichen Stimmung der Büchergasse führt mich mein Spaziergang einen Block weiter zum Museum des Hoa Lo Gefängnisses. 1896 wurde hier das Ofenbauer-Dorf Phu Khanh von französischen Kolonisten niedergerissen und an dessen Stelle ein Gefängnis errichtet.
Zwischen 1930 und 1945 wurden hier vietnamesische Unabhängigkeitskämpfer von den Franzosen eingesperrt. Das ursprünglich für 40 Gefangene ausgelegte Gefängnis wurde zuweilen mit bis zu 100 Gefangenen gefüllt. Das Museum beschreibt eindrucksvoll die Gräueltaten, die die vietnamesischen Gefangenen erdulden mussten.
Nicht nur männliche politische Gefangene wurden in Hoa Lo festgehalten sondern auch Frauen und deren Kinder. Besonders erschütternd sind die so genannten Todeszellen, wo Gefangene im Dunkeln in ihren eigenen Exkrementen angekettet eingesperrt wurden. Die Ausstellung erzählt aber auch vom Widerstand der Gefangenen, wie sie Dokumente in den Toiletten versteckten und wie es ein paar Gefangene 1951 schafften, durch die Kanalisation zu entkommen.
Während des Krieges der Amerikaner gegen den Nordvietnam wurden in Hoa Lo amerikanische Kriegsgefangene untergebracht. Man merkt, dass es den Ausstellenden ein großes Anliegen ist, die Gefangenschaft der amerikanischen Soldaten in einem positiveren Licht darzustellen als die Gefangenschaft der vietnamesischen Unabhängigkeitskämper. Was davon tatsächlich der Wahrheit entspricht und was hier schon in Richtung Propaganda geht, wage ich nicht zu beurteilen.
Der letzte Teil der Ausstellung ist den Angriffen der Amerikaner auf Hanoi und Haiphong gewidmet, die am Ende die Besucher zur großen Gedenktafel führt. Die Fotos und Berichte der Bombardements von 1972 erschüttern mich. Immer wieder fühle ich mich an die jüngsten Berichte aus der Ukraine erinnert. Ich frage mich, warum die Menschheit sich noch immer so viel Leid antut. Die amerikanische Verurteilung gegen die russische Invasion kommt mir in Anbetracht dieser Bilder heuchlerisch vor.
Mein Spaziergang führt mich weiter zum Tempel der Literatur, nichts ahnend, dass dieser heute ein beliebtes Ausflugsziel der Vietnamesen sein wird. Das Tempelgelände ist gefüllt mit Besuchern. Langsam drängt sich eine dicke Schlange aus Menschen über das Gelände, was einem jedoch auch Zeit gibt, sich alles im Detail anzusehen. Zu meiner Freude findet zeitgleich auch eine Tanzaufführung im Innenhof des Tempels statt, Drachenfiguren inklusive. Ich nutze die Gelegenheit und sende ein Gebet an jede Gottheit, die mich hören kann, den Kriegen und Ungerechtigkeiten dieser Welt doch endlich ein Ende zu setzen.
Der Tempel der Literatur ist nicht nur eine Gebetsstätte sondern unterstützt auch kontemporäre, lokale Künstler mit einer Dauerausstellung. Am Rande der Tempelanlage kann man allerlei Schreibmaterialien und Schriftbilder erstehen.
Nachdem doch recht anstrengenden Gedränge durch die Tempelanlage suche ich mir ein Café für eine kurze Erholung. Auf dem Weg dorthin spaziere ich durch einen kleinen Park, wo Gruppen von Männern zusammensitzen und Brett- und Kartenspiele spielen. Gleich nebenan fahren zahlreiche große und kleine Kinder auf verschiedenen motorisierten Gefährten auf einem großen gefliesten Platz. Das Ganze wirkt sehr amüsant und ich wünsche mir, selbst noch einmal Kind zu sein um an dem bunten Treiben mitmachen zu können.
Nach der Koffeinstärkung zieht es mich Richtung Westen zum Gelände des Ho-Chi-Minh-Mausoleums. Es ist umgeben von einem sehr schönen Garten. Neben dem Mausoleum kann man sich hier auch das kleine Pfahlhaus ansehen, in dem Ho Chi Minh auch während seiner Regentschaft lebte. Den Erzählungen nach bestand er stets auf ein bescheidenes Leben. Das Gelände spiegelt dies nicht wieder. Alles wirkt sehr prunkvoll und pompös. Das gesamte Gelände ist abgezäunt und wird polizeilich kontrolliert. Auch auf dem Gelände stehen Wachen in weißer Gardeuniform.
Zurück zur Unterkunft geht es entlang des berühmten Hanoi Train Street. Bis 2019 fuhr hier alle zwei Stunden ein Zug durch.
Unter der Annahme, dass mein Fitnesstracker korrekt funktioniert, habe ich bei meinem Spaziergang durch Hanoi ca. 19.000 Schritte zurückgelegt. Nach diesem Gewaltmarsch werde ich mir eine Massage und danach ein Abendessen gönnen.