Die letzten zehn Tage waren wohl die längsten meines bisherigen Lebens. Und wohl auch die herausfordernsten, würde ich sagen. Aber ich berichte mal der Reihe nach. Seit ungefähr zwei Wochen bin ich in Sri Lanka. Schon vom Flugzeug aus sehe ich vor allem viel grünes Land und tröste mich damit ein wenig über den Abschiedsschmerz von Indien hinweg.
Bevor ich aber Natur und vielleicht auch ein paar Tiere entdecken kann liegen ein paar Tage in den Städten Colombo und Kandy vor mir. Da ich in Colombo auch nicht gleich ein Zugticket für den kommenden Tag bekomme, muss ich hier sogar etwas mehr Zeit rumkriegen als geplant. Fast zwei ganze Tage habe ich jetzt also, um mir die Hauptstadt des Inselstaates etwas genauer anzuschauen. Und nachdem der kleine Frust über den ausgebuchten Zug verflogen ist bin ich auch motiviert, mein Zimmer im Hostel zu verlassen und ein bisschen durch die Stadt zu spazieren.
Fast wie in Hamburg hier
...wie Indien nur sauber
Auf dem Weg zurück ins Hostel sehe ich, dass auf der anderen Straßenseite eine Band spielt und ich suche mir spontan einen Sitzplatz, bestelle mir ein Bier und beobachte die Menschen. Später wird es richtig voll und alle tanzen auf der Straße. Irgendwie finde ich hier alles sehr europäisch. Ich habe gar nicht mehr das Gefühl, weit weg zu sein. Auch wenn ich das nicht vermisst habe, ist es trotzdem mal eine interessante Abwechslung zwischendurch.
Diese Frau versucht, mit dem Verkauf von Briefmarken ein wenig Geld zu verdienen.
Am nächsten Tag schlendere ich dann nochmal durch das Marktviertel, wo auch die schöne Jami Ul Alfar Moschee steht. Von innen kann ich sie leider nicht anschauen, da gerade Gebetszeit ist und ich nicht eintreten darf.
Am späten Nachmittag laufe ich dann zum Stadtstrand "Galle Face Beach". In einem anderen Reiseblog habe ich gelesen, dass es hier bei Sonnenuntergang ganz schön sein soll und man außerdem leckeres Essen bekommt. Davon will ich mich selber überzeugen.
Ich war ganz schön lange nicht mehr am Meer und genieße den frischen Wind für eine Weile.
Den Rest der Zeit verbringe ich einfach damit, die Promenade auf und ab zu laufen und zu gucken, was die Menschen hier so machen. So richtig baden gehen kann man hier nicht aber Füße ins Wasser halten geht auf jeden Fall.
Auf einer großen Fläche hinter den Imbissständen lassen kleine und größer Kinder Drachen steigen.
Und dann geht auch schon bald die Sonne unter.
Jetzt ist es Zeit, ein paar der Leckereien zu probieren.
Von meinem Platz aus beobachte ich eine Weile diesen Mann, der immer wieder auf und ab läuft und Paan verkauft. Das sind gerollte Betelblätter, auf denen man eine Weile rumkaut, um sie dann wieder auszuspucken. Ich hab das in Indien ein paar mal probiert. Allerdings fühlt es sich im Mund danach an wie nach einer Betäubungsspritze beim Zahnarzt. Als ich an diesem Abend zurück ins Hotel gehe ist auf der Straße ein Streetfoodfestival. Nun fühle ich mich endgültig, als wäre ich aus Versehen zurück nach Deutschand oder in irgendein anderes europäisches Land geflogen. Und ich denke eine Weile über den Sinn eines Streetfoodfestivals nach an einem Ort, an dem es immer und überall leckeres und günstiges Essen an jede Straßenecke gibt. Die Stände hier sind eher nobel und üerteuert. Es gibt sogar einen Bulli, der Desserts verkauft. Ich hab ja schon gut gegessen und gehe zurück in mein Hostel und bald schlafen.
Am nächsten Morgen nehme ich den ersten Zug nach Kandy. Die Stadt liegt vor allem auf meiner Reiseroute, da ich dort in der Nähe einen zehntäigigen Meditationskurs machen werde. Außerdem ist es hier auch möglich, ein Visum für Indien zu beantragen. Hatte ich schon erwähnt, dass ich gerne wieder zurück nach Indien möchte? ...
Die Zugfahrt lässt mich ein wenig mehr von der Schönheit der Natur dieses Landes erleben und ich genieße es, endlich mal wieder beim Zugfahren den Kopf aus dem Fenster zu halten.
Kandy ist eine ziemlich große Stadt auf einer Hochebene mitten in Sri Lanka, umgeben von Berge und Wäldern. Die Ankunft in meiner Unterkunft ist schon ein bisschen amüsant. Es ist nur eine sehr freundlich lächelnde, ältere Frau dort, die jemanden anruft und mir dann das Telefon in die Hand drückt. Die männliche Stimme am anderen Ende der Leitung erklärt mir, dass die Bettlaken und Handtücher noch nicht ganz trocken sind und ich mein Zimmer noch nicht beziehen kann. In einer Stunde ungefähr würde er vorbei kommen und alles fertig machen. Ich bin sowieso hungrig und gehe erstmal zurück in die Stadt, um etwas zu essen.
Es gibt überall kleine Läden, in denen man frischen Saft von allen möglichen Früchten trinken kann.Soso, painapple... Bevor ich zurück ins Hostel gehe mache ich noch einen kleinen Spaziergang durch die Stadt. Schon wieder ein Bulli...... und ein alter Mini Cooper Ich komme etwa zwei Stunden später zurück in die Unterkunft. Es sind inzwischen noch andere Reisende angekommen. Lustigerweise haben alle in etwa das gleiche Telefonat mit dem Manager geführt, der bisher immer noch nicht aufgetaucht ist. Einige überlegen, sich noch schnell eine andere Bleibe zu suchen bevor es dunkel wird. Da sich aber alle gut verstehen und die Situation irgendwie witzig ist, bleiben alle da und vertreiben sich die Zeit damit, zu quatschen. Gegen acht Uhr abends kommt dann auch der Mann, zu dem die Stimme am Telefon gehört und bringt Bettlaken und Handtücher, sodass alle irgendwann schlafen gehen können. Für den nächsten Tag habe ich geplant, ein neues Visum für Indien zu beantragen, was ich dann auch gleich morgens mache. Das geht alles viel schneller als erwartet. Ich hatte vorsichtshalber sogar zwei Tage dafür eingeplant, da ich auch zu diesem Thema schon die unterschiedlichsten Geschichten gehört habe. Die Beantragung war aber, mit Hilfe des kleinen Büros, das gegen eine Gebühr die notwendigen Formulare ausfüllt und Passbilder macht, sehr unkompliziert. Das heißt allerdings noch nicht, dass ich das Visum auch bekomme. Das werde ich erst 12 Tage später erfahren.Da ich jetzt viel Zeit übrig habe, laufe ich noch eine Runde um den See in der Innenstadt. Der Weg könnte tatsächlich ganz schön sein, wenn er nicht direkt neben der Hauptstraße entlangführen würde.Dieser riesigen Echse scheint der Lärm nicht so viel auszumachen.
Genauso wenig wie dem Eisvogel
Später steige ich noch den Berg hoch zu der großen Buddha Figur. Es ist zwar bewölkt aber die Aussicht ist trotzdem schön.
Dieses Schild, das zu den Toiletten führt, sorgt für einige Fragezeichen in meinem Kopf.
Am nächsten und letzten Tag in Kandy, bevor ich mich für 10 Tage in die Abgeschiedenheit eines Meditationszentrums begebe, fühle ich mich schon beim Aufwachen irgendwie eigenartig. Ein wenig mulmig wird mir jetzt doch bei dem Gedanken daran, für eine ganze Weile nicht zu sprechen und vor allem überhaupt keinen Kontakt zur Außenwelt zu haben. Ich bin relativ unmotiviert, noch etwas in Kandy zu unternehmen und gehe nur eine Runde spazieren, etwas essen und den obligatorischen Saft trinken. Zurück im Hostel treffe ich Katharina aus München, die mit ihrem Sohn Marlon für zehn Monate um die Welt reist. Wir kommen schnell ins Gespräch und so geht der Rest des Tages schnell vorüber. Meine Abreise am Morgen zögere ich so weit es geht heraus und freue mich sehr, als Marlon unbedingt noch einen Saft mit mir trinken gehen möchte bevor wir uns verabschieden.
Aber irgendwann war auch der Saft ausgetrunken und ich wusste, dass es Zeit ist, mich auf den Weg zu machen. Ich kann gar nicht sagen, warum meine Motivation, diesen Kurs zu besuchen, plötzlich fast völlig verschwunden war. Aber nun kurzfristig abzusagen, kam überhaupt nicht in Frage. Also setze ich mich in den nächsten Bus und fahre los in Richtung Dhamma Kuta Meditationszentrum.
Tag 0:
Nach dem Eintritt in das Gelände, das auf einem Berg und mitten in einem wunderschönen Wald liegt, gibt es kein zurück.
Nach dem letzten Abendessen - in den nächsten zehn Tagen wird es um 17 Uhr jeweils nur einen kleinen Snack und Tee geben - gibt es eine Einweisung in alle Regeln. Es wird auch nochmal sehr deutlich gefragt, ob wirklich alle dazu bereit sind, für die Dauer des gesamten Kurses zu bleiben und das Gelände nicht zu verlassen. Niemand geht. Ich frage mich ob die Anderen das gleiche denken wie ich: "Wenn ich wirklich gehen will, wird mich schon niemand aufhalten." Danach beginnt die sogenannte edle Stille. Jetzt besteht noch die Chance, es sich anders zu überlegen, wenn man sich nicht sicher ist, ob man sich auch an die folgenden fünf Regeln halten kann:
1. kein lebendes Wesen töten
2. nicht stehlen
3. keinerlei sexuelle Handlungen (Männer und Frauen sind hier auch strikt voneinander getrennt)
4. nicht lügen
5. keinerlei Rauschmittel (inklusive Alkohol und Tabak) konsumieren
Außerdem verpflichtet man sich, zu schweigen - Gespräche sind nur mit den Kursleitern und im Notfall mit den freiwilligen Helfern erlaubt, wenn man tatsächlich dringend etwas braucht. Es soll überhaupt nicht kommuniziert werden, auch nicht durch Augenkontakt, Mimik und Gestik. Alles, was einen Menschen irgendwie davon ablenken könnte, sich ernsthaft mit sich selbst auseinanderzusetzen muss man abgeben. Ich bringe also mein Handy, mein Tablet und meine Bücher zur Rezeption. Selbst Kamera und Schreibmaterial sind nicht erlaubt. Ich gebe zu, dass sich irgendwo in den Tiefen meines Rucksacks ein kleines Notizbuch und ein Kugelschreiber verstecken. Aber das kommt erst später zum Einsatz.
Warum ich das mache? Das frage ich mich an diesem Ankunftstag und auch in den nächsten Tagen immer wieder. Grundsätzlich finde ich das Thema Meditation sehr spannend und ich glaube auch, dass es sehr hilfreich dabei sein kann, sein Leben etwas achtsamer und bewusster zu gestalten. In der ganzen Zeit, die ich dies Jahr in Indien verbracht habe, hab ich ja auch die ein oder andere Erfahrung mit Meditation gesammelt. In Rishikesh habe ich dann einige Menschen getroffen, die einen Vipassana Kurs gemacht haben und total begeistert waren. Ich fand vor allem den Gedanken an zehn Tage nicht sprechen und das Handy abgeben sehr verlockend. Viel mehr Gedanken habe ich mir ehrlicherweise nicht gemacht, als ich mich dann irgendwann für diesen Kurs angemeldet habe.
Vipassana beruht auf der Grundannahme, dass alles Leiden auf Abneigung, Verlangen und Unwissenheit zurückzuführen ist. Wir sehnen uns nach Dingen, die wir nicht haben und vielleicht nie bekommen werden. Wir wollen angenehme Dinge, Situationen, Gefühle nicht loslassen. Unangenehme Dinge dagegen wollen wir möglichst gar nicht in unserem Leben haben und je größer unser Widerstand dagegen wird, desto schlechter fühlen wir uns. Und wir sind uns in den seltensten Fällen wirklich darüber bewusst, können das Verlangen oder die Abneigung nicht kontrollieren. Durch die Meditationstechnik, bei der man die eigenen physischen Empfindungen mit Achtsamkeit beobachtet, soll man lernen und vor allem erfahren, dass alles impermanent ist. Nichts bleibt für immer. Alles verändert sich. Und genau deswegen kann man auf Alles mit Gleichmut und Gelassenheit reagieren. Klingt für mich total logisch und ist auch eigentlich nichts total Neues. Aber allein, darüber nachzudenken oder darüber zu lesen, reicht nicht aus, um bestimmte Muster, die man sich über viele Jahre angeeignet hat, einfach umzuprogrammieren.
Ich bin gespannt, ob die nächsten Tage tatsächlich schon eine Veränderung bringen. Es geht auch schon gleich am ersten Abend los mit Meditation. Und, wie ab heute jeden Abend, hören wir kurz vorm Schlafengehen einen Vortrag des Vipassana Lehrers Goenka, dessen Stimme vom Band uns in den nächsten Tagen begleiten wird.
Tag 1:
Kontinuität ist das Geheimnis des Erfolgs
Es gibt einen strengen Zeitplan, der während der gesamten Zeit eingehalten werden muss.
Vor dem Frühstück und für mich gefühlt noch mitten in der Nacht, wird also erstmal zwei Stunden meditiert. Das Aufstehen fällt mir gar nicht so schwer. Ich bin ja auch um kurz nach 21 Uhr schon schlafen gegangen. An den ersten drei Tagen besteht die Meditation ausschließlich darin, den eigenen Atem zu beobachten. Und zwar nur im Bereich zwischen Nasenspitze und Oberlippe: Durch welches Nasenloch atmet man ein? Wo kommt der Atem wieder raus? Welche Stelle an der Nase oder der Oberlippe berührt er dabei? Nach einer Weile kann ich das tatsächlich alles fühlen. Ich merke auch, dass sich die Luft beim Einatmen kühler anfühlt als beim Ausatmen. Überhaupt vergeht der Vormittag relativ schnell und das lange Sitzen und sich konzentrieren und sich von eintrudelnden Gedanken nicht mitreißen zu lassen ist gar nicht so schwer. Ich bin überrascht. Aber dann kommt der Nachmittag. Vier Stunden bis zur nächsten längeren Pause. Die Zeit vergeht überhaupt nicht. Mein Atem interessiert mich kein Stück. Ich bin neidisch auf alle, die gerade irgendetwas anderes machen können, als hier zu sitzen. Ja, ich tue mir selber Leid, obwohl es meine freie Entscheidung ist, hier zu sein. Und je mehr ich darüber nachdenke, desto schlimmer wird es. Aber, wer hätte es gedacht, auch diese vier Stunden sind irgendwann vorbei und es gibt endlich die langersehnte Teepause. Die einstündige Meditation im Anschluss vergeht wie im Flug und bei dem darauffolgenden Vortrag, geht es mir schon deutlich besser.
Tag 2:
Arbeite fleißig, geduldig und bearrlich. Erfolg ist vorprogrammiert. Eigentlich ist alles genau wie gestern. Morgens ok, im Laufe des Tages wird die Stimmung schlechter. Ich habe Fluchtgedanken. Statt meinen langweiligen Atem zu beobachten, plane ich lieber was ich nach den zehn Tagen alles noch machen will in Sri Lanka. Dann merke ich, dass danach gar nicht mehr viel Zeit ist bis das Visum ausläuft. Also ärgere ich mich, dass ich meine Zeit hier verschwende, statt mir das Land genau anzugucken. Das sind nur einige Beispiele für Gedanken, die mich ablenken. Da ist noch viel viel mehr. Dinge mit denen ich mich nicht beschäftigen will und die trotzdem immer wieder kommen. Und je mehr ich mich dagegen wehre, desto hartnäckiger sind sie. Und dann ärgere ich mich über mich selber, weil ich es nicht schaffe, mich auch nur zwei Minuten auf meine Atmung zu konzentrieren. Abends gehe ich jedoch nach dem obligatorischen Vortrag vom Band wieder etwas versöhnter mit mir und allem anderen schlafen. Tag 3:Du selber musst für deine Befreiung arbeiten. Niemand anders kann dich befreien. Ich stehe am Morgen nach den ersten zwei Stunden Meditation vor diesen Spruch und fange erstmal an zu heulen. Warum muss ich mich denn befreien? Und warum kann mir das niemand abnehmen? Das ist doch alles viel zu anstrengend. Überhaupt nichts verändert sich, denke ich. Alle Tage hier sind gleich. Jetzt am Morgen funktioniert alles noch halbwegs aber der Nachmittag wird hundertprozentig genauso bescheutert wie an den letzten beiden Tagen - natürlich wird er das. Das ist eine sich selbst erfüllende Prophezeiung.Interessanterweise kann Herr Goenka, dessen Stimme vom Band uns jeden Abend ein wenig zur Theorie und der praktischen Umsetzung von Vipassana erzählt, meine Gedanken lesen. Jeden Abend spricht er irgendetwas an, das mir am Tag durch den Kopf gegangen ist. Das hilft mir tatsächlich dabei, nachts nicht auch noch grübelnd im Bett zu liegen. Tag 4:Ein ruhiger Verstand. Ein wachsamer und aufmerksamer Verstand... Heute ist Vipassana-Tag. Schon gestern wurde uns angekündigt, dass wir am heutigen Nachmittag aufhören werden, unseren Atem zu beobachten und die eigentliche Methode lernen. Bis dahin vergeht aber noch eine ganze Weile, die mir wie eine Ewigkeit vorkommt. Ich bin so ungeduldig mit mir selber. Es klappt nichts, ich kann mich nicht konzentrieren. Vielleicht sollte ich mit der Lehrerin sprechen. Vielleicht hat sie ein paar Tipps für mich. Ach, ich warte noch bis morgen und plane lieber im Kopf meine Weiterreise und überlege, ob es sich nicht lohnt, das Visum für Sri Lanka zu verlängern, damit ich nicht so durch das Land hetzten muss. Oh jetzt aber schnell zurück zur sogenannten Schnurrbartregion. Das ist nämlich der Bereich, den wir jetzt beobachten sollen. Der Atem soll uns nicht mehr in erster Linie interessieren. Stattdessen sollen wir die Sensationen fühlen, die über unserer Oberlippe stattfinden. Sensationen? Das sind in diesem Fall alle körperlichen Empfindungen, die auftauchen. Das kann ein kleines Kribbeln sein, eine kleine Vibration, Druck, Zucken, Pulsieren, Hitze, Kälte, Schmerz oder auch Empfindungen, die wir nicht benennen können. Wir sollen auch diese nur beobachten, ohne sie zu bewerten. Denn sie werden kommen und auch wieder gehen. Und tatsächlich spüre ich immer wieder was, wenn es mir gelingt, meinem kleinen Affen im Kopf nicht zu viel Beachtung zu schenken.Kurz vorm Schlafengehen muss ich dann sogar mal kurz lachen (ganz leise natürlich), als eine meiner Mitbewohnerinnen fröhlich vor sich hin rülpsend an mir vorbei läuft. Worüber ich mich plötzlich freuen kann. Sie wirkt wie ein Kind, das gerade herausgefunden hat, wie man mit Absicht rülpsen kann und nun nicht mehr damit aufhört. Tag 5:Beobachte die Realität innerhalb deinen körperlichen Rahmens. Das ist das Erfahren deiner eigenen Realität. Das ist Weisheit. Wenn dieser Tag um ist, habe ich genau die Hälfte geschafft...Wenn dieser Tag um ist, dauert es nochmal genauso lange...Das sind die allerlängsten Tage meines Lebens. Noch nie hat eine Stunde so schrecklich lange gedauert. Ich verstehe kognitiv, dass mich diese Denkweise nicht weiter bringt und alles eher schlimmer macht. Ich hangel mich von Pause zu Pause, wie man sich im Arbeitsalltag von Wochenende zu Wochenende, von Urlaub zu Urlaub hangelt. Die Zeit dazwischen ertrage ich irgendwie. Ich gebe mir wirklich immer wieder Mühe, die Sensationen zu spüren. Das sollen wir ab heute von Kopf bis Fuß praktizieren, auf jeden Zentimeter unseres Körpers. Ich habe vor allem Schmerzen. Vom Nacken abwärts tut alles weh. Also nur unangenehme Sensationen. Ich soll sie weder bewerten, noch darauf mit Ablehnung oder Verlangen reagieren. Seit heute müssen wir jeweils drei mal am Tag eine ganze Stunde in einer Position sitzen bleiben ohne diese zu verändern. Das macht es nicht gerade einfacher. Heute habe ich auch ein Gespräch mit der Lehrerin. Das besteht allerdings vor allem aus freundlichem, verständnisvollem Lächeln und dem typisch nichtssagenden Kopfwiegen, während ich ihr von meinen Schwierigkeiten berichte. Mir wird klar, dass sie kaum Englisch spricht. Sie kann mir also auch nicht weiterhelfen. Da muss ich dann wohl weiter allein durch. Oder doch Sachen packen und weglaufen? An diesem Nachmittag verspüre ich vor allem eins: Aggression und Wut. Die Frau hinter mir, die zu laut atmet, macht mich wahnsinnig. Den Bauarbeitern, die draußen seit drei Tagen Lärm machen, würde ich am liebsten vors Schienbein treten und ihnen ins Gesicht schreien, dass ich WEGEN DER STILLE hier hergekommen bin. Wo ist diese verdammte Stille? Nicht draußen und noch weniger in meinem Kopf. So kenne ich mich gar nicht. Auch spannend. Heute krame ich mein Notizbuch und meinen Kugelschreiber heimlich aus meinem Rucksack hervor. Bei der einstündigen, bewegungslosen Meditationssitzung um 18 Uhr, geht es mir plötzlich wieder erstaunlich gut. Ich kann tatsächlich sitzen bleiben, ohne meine Beine zu entknoten oder meine Schultern und Arme irgendwie zu bewegen. Die Schmerzen sind nicht die ganze Zeit da und auch nicht an allen Stellen und ich spüre mehr und mehr der angenehmen Empfindungen. Hier ein Kribbeln, da einen wohligen Schauer, meinen Herzschlag in den Handgelenken. Den abendlichen Vortrag finde ich heute besonders interessant. Herr Goenka sagt, dass sehr viel Leid auf der Welt vor allem durch starke Verbundenheit der Menschen zu "Ich", "Meins" und "Meine (Meinung, Religion, Philosophie)" entsteht. Das auch wieder in Verbindung mit Verlangen und Aversion. Die Worte wirken noch lange in mir nach und mir fallen viele persönliche Beispiele ein, die das bestätigen. Spannend, wie ein richtig blöder Tag, so ein positives Ende finden kann und ich mich richtig inspiriert und motiviert ins Bett lege - alles verändert sich die ganze Zeit. Tag 6:Sich ständig verändernde Erscheinungen. Welches Ich? Welches Mir? Welches Mein? Heute ist eigentlich wie immer. Vielleicht habe ich mich auch inzwischen an das ständige auf und ab, die immer gleichen Gedanken, hier und da eine neue Erkenntnis gewöhnt. Der einzige Unterschied ist, dass mir das Meditieren heute morgens eher schwer fällt und dafür am Nachmittag leichter ist. Und es ist der erste Tag, an dem ich nicht wegen irgendwas anfange zu weinen und keine ernsthaften Fluchtpläne schmiede. Tag 7:Verbrennung - Vibration. Sich ständig verändernde Erscheinungen. Heute glaube ich, dass ich nun endgültig verrückt werde. Die ersten zwei Stunden funktionieren noch halbwegs gut. Dann will ich nur noch wegrennen, mit irgendwem reden, mein Handy aus dem Schließfach holen und irgendwen anrufen. Ich glaube, dass mir nichts anderes helfen kann. Keine 30 Sekuden schaffe ich es, mich auf die Sensationen zu konzentrieren. Bei der Nasenwurzel angekommen merke ich, dass ich schon wieder ganz wo anders bin. Während der Sitzungen, in denen man zwischendurch kleine Pausen machen darf, gehe ich so oft wie möglich raus. Ein paar schöne Vögel helfen mir, meine Laune kurzzeitig etwas zu verbessern. Das Wetter passt übrigens schon seit Tag Null perfekt zu meiner Stimmung. Es ist meist grau und neblig, stürmisch und regnerisch und die Sonne lässt sich nur ab und zu blicken.Heute hilft mir weder der zweite Becher Michtee, noch die Banane, die sonst an jedem Nacmittag die beste ist, die ich jemals gegessen habe.Ich frage mich, ob es zu Depressionen führt, wenn man zehn Stunden am Tag (Schlaf nicht eingerechnet) mit geschlossenen Augen verbringt. Tag 8:Bewusstsein und Gleichmut. Gleichmut ist Reinheit. Heute habe ich eine Wolke gesehen, die wie Fuchur, der Glücksdrache aus der Unendlichen Geschichte aussah. Fuchur hat mich angezwinkert und gelächelt. Ich habe zurückgelächelt und gedacht: es ist alles nicht so schlimm. Auch das geht vorbei. In zwei Tagen ist es geschafft.Where is my mind...?Trotzdem kann ich mich fast den ganzen Tag nicht konzentrieren. Je mehr ich es versuche, desto schwieriger wird es. Aber ich WILL das doch unbedingt. Irgendwann habe ich aber einfach die Nase voll von irgendwelchen Sensationen. "Sensatonen, ihr könnt mich mal!" ... Heute ärgere ich mich besonders über mich selber. Anscheinend bin ich einfach zu blöd, für diese Technik. Was hat Herr Goenka gestern oder vorgestern gesagt? Einer der größten Feinde von Vipassana ist der Zweifel? Und wenn man nicht an der Methode oder dem Lehrer zweifelt, ist es der Zweifel an sich selbst? Mit diesem Feind habe ich heute besonders zu kämpfen. Mir fällt eine schlechte Eigenschaft nach der anderen an mir auf, die dazu führen, dass ich das hier gerade einfach nicht hinkriege.Und dann, eine Stunde später, nach einem Milchtee und der besten Banane meines Lebens, ist all die schlechte Laune plötzlich verflogen. Die vier Stunden Frust sind quasi vergessen. Das unangenehme Pochen im Kopf ist weg und ich frage mich, warum ich mich da eigentlich so reingesteigert habe. Geduld und Gleichmut, Geduld und Gleichmut... Tag 9:Alle sichtbar werdenden Erscheinungen sind verbunden mit Sensations. Heute ist der letzte richtig strenge Tag. Vorgestern Abend haben wir erfahren, dass am Tag 10 schon vor dem Mittagessen die edle Stille aufgehoben wird. Ich versuche, diesen Tag nochmal ernsthaft zu nutzen. Mir wird bewusst, dass ich schon seit einiger Zeit kaum noch Schmerzen beim Sitzen habe. Ich kann auch immer mehr Sensationen spüren und es gibt immer weniger blinde Flecken, das heißt Stellen, an denen ich nichts beobachten kann. Bei der Teepause lache ich mich in edler Stille kaputt über den heutigen Snack beziehungsweise über meine Reaktion auf eine kleine Enttäuschung. Schon gestern hatte ich das Gefühl, dass Nachmittagssnack irgendwie kleiner ausfiel als sonst. Als ich heute in den Speisesaal komme sehe ich zwei verheißungsvolle Schalen, die in der Regel bedeuten, dass es Toast mit Butter und Marmelade gibt. Zwei Scheiben Toast, zwei Cracker und so viel Butter und Marmelade wie man will. Aber je näher ich der Essensausgabe komme, desto klarer wird mir, dass irgendwas anders ist als sonst. Die Teller sind winzig, da passt kein Toast drauf. Und tatsächlich gibt es nur vier kleine Cracker, die man sich mit Margarine und Marmelade bestreichen kann. Ich spüre, wie sich meine Enttäuschung in einer kleinen, unangenehmen Sensation irgendwo im Stirnbereich äußert. Dann fange ich an zu lachen. Leise natürlich. Tag 10:Beim Nachdenken über das Kommen und Gehen der Erscheinungen, erfährt man Freude und Glück. Das ist Wissen. Das ist unsterblich. Neun sehr lange Tage sind vorbei. Ich wache mit richtig guter Laune auf, fühle mich ausgeglichen und irgendwie frisch. All die Dinge, über die ich mir in den letzten Tagen den Kopf zerbrochen habe, Emotionen, die zum Teil starke körperliche Empfindungen ausgelöst haben, sind gerade nicht mehr wichtig. Nicht, dass sie einfach weg wären aber ich habe das Gefühl, sie mit etwas mehr Gleichmut beobachten zu können. Und ich bin richtig froh darüber, dass ich nicht vorzeitig abgebrochen habe. Nach den zwei Stunden Meditation am frühen morgen komme ich aus der Halle und die Sonne scheint. Das Wetter passt, wie auch in den letzten Tagen, perfekt zu meiner Stimmung. Endlich kann man die wunderschöne Aussicht genießen. Als ich sehe, dass das Programm heute verändert ist und wir sogar vor dem Mittagessen schon unsere Wertgegenstände zurückbekommen, betrachte ich das natürlich völlig gleichmütig. Ist mir doch egal. Wie viele Nachrichten ich wohl auf dem Handy habe? Wen interessiert's? ... Ja, ich gebe zu, das entspricht nicht ganz genau der Wahrheit. Aber uns wurde ja auch gesagt, dass diese zehn Tage nur der erste Schritt sind auf dem Weg zum Buddha. Und ich habe ich den letzten Tagen auch erfaren, dass ich manchmal nicht zu streng mit mir sein sollte. Geschafft! Lachen ja oder nein? Jein, Ich freue mich, dass ich meine Kamera wieder habe und noch ein paar Bilder machen kann, bevor ich morgen früh abreise. Zum Beispiel von der Meditationshalle, in der ich ungefähr hundert Stunden verbracht habe. Oder von der Affenbande, die mit der wir uns das Gelände teilen. Der Tag vergeht sehr schnell. Am nächsten Morgen gibt es nochmal einen letzten Vortrag von Goenka vom Band. Wir werden daran erinnert, dass nur tägliche, ernsthafte Praxis zu positiven Effekten führen wird. Vipassana ist eine Art Lebenseinstellung, die aber nicht einfach umzusetzen ist. Täglich eine Stunde am Morgen und eine am Abend sollen wir meditieren und auch so bei jeder Gelegenheit achtsam die Sensationen beobachten ohne auf sie zu reagieren. Selbst wenn man noch so motiviert ist, wird es schwierig sein, eine solch intensive Praxis in den Alltag einzubauen. Meine Bettnachbarin hat schon einige Kurse besucht und macht das seit vielen Jahren und sagt immernoch, wie schwer es ihr oft fällt, am Ball zu bleiben. Der Bericht mag vielleicht stellenweise so klingen, als hätte ich zehn furchtbare Tage hinter mir. So ist es aber nicht. Es war richtig anstrengend und harte Arbeit und keinesfalls erholsam. Aber viele Gedanken wurden angestoßen, wer weiß wohin sie führen. Ich weiß, dass auch die sich wieder verändern werden. Einige Dinge, die mich tagelang beschäftigt habe, sehe ich plötzlich gelassener und aus einer anderen Perspektive. Es war sicher nicht mein letzter Vipassana Kurs.Zeit, zu gehen. Ich verabschiede mich von all den netten und interessanten Menschen, die mit mir die letzten Tage hier verbracht haben. Und genieße ich die drei Kilometer Fußweg zur Bushaltestelle. Ein Purple Sunbird! Den kenne ich aus den Sundarbans. Wie schön. Nach fünf Minuten im Bus stelle ich fest, dass es derselbe ist, der nich vor zehn Tagen von Kandy hergbracht hat und dass ich sogar auf demselben Platz sitze. Wie ich die Zeit in Kandy verbracht habe, bevor ich morgen (endlich) weiterreise, erzähle ich beim nächsten Mal.
Liebe Flitze, ich kann deine Schilderungen vom Vipassana Retreat so gut nachvollziehen, da ich ähnliche Erfahrungen hatte, wie Du jetzt :-). Alles Gute für deine Weiterreise!
Felizitas
Hey Verena, danke. Das ist gut zu hören, dass nicht nur ich mich schwer getan habe. ;-)