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Merci Messie

Veröffentlicht: 14.10.2024

Noch voller Abschiedsschmerz bestiegen wir in Victoria die Fähre, die uns innerhalb von 1,5 Stunden weg von Kanada hin nach Port Angeles (USA) bringen sollte. Während der Fahrt dachten wir an unsere Erlebnisse und Begegnungen in Kanada und daran, dass wir fortan Wein mit anderen Augen sehen werden (oder sagt man in diesem Fall „mit anderen Mündern trinken werden“?). Außerdem stand uns das Einreiseprocedere der USA ein wenig bevor. Aber hier wurden wir überrascht: Bereits kurz vor dem Besteigen der Fähre auf kanadischer Seite kontrollierten US- Zollbeamte die Pässe und Visa bzw. Esta-Formulare. Die einzige Frage, die man uns stellte war, warum wir in die USA reisen möchten. Sichtlich gelangweilt von unserer banalen Antwort "Holiday" wurde zur Abwechslung noch schnell ein Foto gemacht und dann durften wir die Fähre entern. Die 1,5 stündige Fahrt wurde nun vom US-Zoll dazu genutzt, die Daten abzugleichen. Das hat den Vorteil, dass man bei der Ankunft nur nochmal seinen Pass überreicht und lediglich durchgibt, wie lange man vorhat, in den USA zu verweilen, und schon ist man drin in den Staaten. Das war abgesehen von den Grenzen der EU-Länder die unkomplizierteste Einreise in ein fremdes Land bisher. Damit hatten wir nicht gerechnet!

Port Angeles macht einen sympathischen Eindruck. In Hafennähe gibt es viele nette Bars, Restaurants und andere Geschäfte, die wir aber nicht so richtig würdigen konnten, denn schließlich sollte es ja zu unserem Couchsurfing-Hoast Lenny (Name geändert) gehen. Wir wussten bisher über Lenny, dass es sich um einen Rentner handelt, der ein sehr großes Grundstück besitzt, auf denen er Zelte und kleine Trailer aufgebaut hat, um möglichst viele Couchsurfer bei sich willkommen zu heißen. Dies versteht er als Akt der christlichen Nächstenliebe, da er Zeit und Platz hat und Reisenden helfen möchte. Auf diese Weise braucht er selber nicht zu reisen, sondern lässt sich die Geschichten seiner Gäste erzählen. Außerdem hätte er auf seinem Grundstück auch eine Küche im Zelt zur Versorgung aufgebaut. Das klang gut, ungewöhnlich, nett und ein bisschen spleenig. Wir fuhren also mit dem Bus, der in Port Angeles nichts kostet (!), zu Lenny. Er wohnt so weit außerhalb, dass wir noch einen Fußmarsch von 25 Minuten hinlegen mussten. Bei diesem Fußmarsch kamen wir an diversen Holzhäusern mit und ohne Scheune sowie mit und ohne Hund und Huhn vorbei und leider manchmal auch mit Wahlwerbung ("Make America great again").

Die Rucksäcke begannen schon ordentlich an den Schultern zu drücken, als wir endlich ankamen. Wir standen vor einem total verwilderten Grundstück. Auf diesem befanden sich ein altes abgeranztes offensichtlich nicht bewohntes Haus, ein Wohnwagen in eben demselben Zustand und eine Scheune. Wir irrten ein wenig herum bis wir entdeckten, dass das Grundstück hinterm Zaun noch weiterging. Vor einer sehr nett mit einem Kolibri bemalten Hütte saß Lenny. Nachdem wir uns begrüßt haben, sahen wir uns um. Es gab diverse Zelte und Trailer, die man sich als eine Art Mini-Bauwagen vorstellen kann. Überall lag Schrott herum, irrsinnige Vorräte an Konservendosen, etliche Packungen von Putz- und Desinfektionsmitteln, Kartons, umgekippte Waschmaschinen, alte Fahrzeuge und Polstermöbel. Man kann sich das Grundstück ungefähr vorstellen wie eine Mischung aus einer abgeranzten riesigen Parzelle, einem Schrottplatz und einem seit Jahrzehnten verlassenen Campingplatz. Lenny berichtete, dass er 80 Jahre alt sei, früher in einer Papierfabrik gearbeitet hätte, zwei Töchter hätte, zu denen er keinen Kontakt mehr habe und dass er sehr viel Arbeit mit dem Grundstück hätte. Er selbst bewohne nicht das Haus, es sei zu vollgestellt und baufällig. Er schlafe in einem Trailer und koche in dem Kochzelt. In dem Kochzelt lagen etliche Utensilien auf dem Boden verteilt herum. Außerdem gab es auch hier wahnsinnig viele Vorräte an bestimmten Lebensmitteln und Putzmitteln und zu unserer großen Überraschung stand dort ebenfalls ein Klavier. In der Küche lief an diesem Abend eine Ratte zwischen den Vorräten hin und her. Lenny berichtete uns, dass er zwei reizende Hundedamen hätte und außerdem Hühner besaß. Er holte die beiden Terrier Maggy und Sabrina (Namen nicht geändert) zu uns, die in der Tat sehr lieb, aufgeweckt und verschmust waren, nur leider extrem stanken. Außerdem kratzte eine von beiden sich permanent. Als sie die Ratte entdeckten, hatten die beiden eine Aufgabe. Lenny kann wirklich gut mit den Hunden umgehen und hatte ihnen einiges beigebracht.

Lenny berichtete, dass er manchmal bis zu 200 Couchsurfer im Jahr beherberge. Er stecke jedesmal auf der Weltkarte einen Pin in das Land / die Stadt, aus dem / der die Gäste kämen. Außerdem fotografiere er sie und die Gäste schrieben stets nette Worte ins Gästebuch hinein. Voller Stolz zeigte er uns das Buch mit den Sprüchen und den Fotos der immer bis über beide Ohren grinsenden Gäste. Frau Waas wusste eines schon ganz genau: sie würde auf dem Foto nicht so grinsen können. Dazu fand sie diese Unterkunft viel zu fragwürdig. Herr Ärmel, der schon einiges von seiner Arbeitsstelle gewohnt war, konnte in Lenny gleich den verschrobenen, aber liebenswerten Messie entdecken.

Wir saßen am Abend noch ein bisschen zusammen, hielten die Hunde davon ab, auf unseren Schoß zu springen und plauderten noch ein wenig mit Lenny. Zu allem Überfluss berichtete er, dass ihm schon mal ein Couchsurfer gestorben sei. "Na der hat Nerven", dachte Frau Waas sich. Aber Lenny konnte auch berichten, wie es dazu kam. Es handelte sich um einen alkohol- und anderweitig drogenabhängigen jungen Mann, der keine Obdach mehr hatte. Dieser durfte für einige Wochen bei Lenny wohnen, was nun wirklich eine gelebte Form der Nächstenliebe ausdrückt und Respekt verdient. Nur leider hatte dieser Mann an einem Abend zu viele Drogen genommen. Lenny beschrieb mehrfach, dass der Mann schon ganz steif und kalt war, als er ihn fand und dann gleich die Polizei gerufen hatte.

Dann kam der Moment, vor dem Frau Waas sich am meisten gefürchtet hatte: die Besichtigung des Gästetrailers sowie der Badezimmer-Trailer mit Bio-Plumsklo.

Es war weit weniger dramatisch als Frau Waas erwartet hätte. Die Fenster vom Schlaftrailer waren zwar mit Pappe und einer alten Babydecke abgehängt, was schräg war, aber das Bett hatte er gut und sauber hergerichtet. Außerdem gab es Licht und jede Menge Steckdosen im Trailer. Dass es im Oktober für unseren Geschmack schon etwas zu kalt und feucht für so etwas war, konnte man Lenny nicht anlasten. Immerhin lebt er 365 Tage im Jahr so. Das "Badezimmer" war zwar auch besser in Schuss als vermutet, aber dennoch gewöhnungsbedürftig. Es gab einen Lichtschalter mit Timer, so dass man einstellen konnte, wie lange man hier drinnen erleuchtet werden wollte. Die Dusche sah okay aus, wurde von uns aber nicht getestet. Ansonsten lag auf dem Boden alles mögliche an Zeugs herum, was dort nichts zu suchen hatte. In der Toilette war eine Tüte eingehängt, die die Hinterlassenschaften auffangen sollte. Anschließend - und das hatte Lenny extra mit einem Filzstift direkt auf die Wand im "Badezimmer" geschrieben - sollte man eine Tasse von so einer Art ökologischer Katzenstreu hinterher kippen. Aber wo nur befand sich dieses Katzenstreu...? Schließlich entdeckte Herr Ärmel diese irgendwo draußen und brachte sie ins Bad.

Wir brauchten beide ein wenig, bis wir einschlafen konnten. Es war kalt und etwas klamm und außerdem mussten die Eindrücke verarbeitet werden. Frau Waas erwischte sich bei dem Gedanken, dass Lenny hoffentlich am nächsten Tag nicht erzählen muss, dass mal zwei CouchsurferInnen bei ihm gestorben seien. Aber: am nächsten morgen wachten wir auf, zogen uns schnell an, besuchten noch einmal die fragwürdige Toilette und entdeckten draußen eine volle vergessene und leider noch offene Toilettentüte. Nennen wir es mal gewöhnungsbedürftig… Lennys Angebot zu frühstücken lehnten wir dankend ab. Dann wolle er uns noch eben nach Port Angeles zu unserer Autovermietung fahren. Wir müssten nur noch eben alle seinen Wagen entrümpeln, damit wir darin auch Platz finden würden. Gesagt - getan! Und zum Schluss kam das obligatorische Foto und ein paar Sätze fürs Gästebuch. Wenn man in ein Buch schreiben soll, macht man sich Gedanken und lässt das Erlebte Revue passieren. Und plötzlich änderte sich unser Blickwinkel (vor allen Dingen der von Frau Waas. Herr Ärmel war von Anfang an positiver gestimmt): Lenny, ein freundlicher alter Mann, der jeden willkommen heißt, der sogar einen obdachlosen drogenabhängigen Mann bei sich aufgenommen hatte, dessen Leben leider aus den Fugen geraten ist, der einsam ist, weil seine Familie sich von ihm abgewendet hat, der sein eigenes Leben zwar nicht mehr im Griff hat, aber seinen Hunden und Hühnern noch ein glückliches Leben beschert, der es noch nicht verarbeitet hat, dass ein Mann bei ihm gestorben ist, der den Gästetrailer am besten von allen Trailern/Zelten eingerichtet hat, der so stolz auf seine Gäste ist, der so gerne in Kontakt mit Menschen aus aller Welt und allen Altersgruppen kommt, dieser Mann sollte von uns einen netten Text ins Gästebuch bekommen und ein Foto von uns, das er ebenfalls den Anderen voller Selbstgewissheit vorzeigen kann. Also posierten wir uns vor seine Kamera und grinsten wie zwei Honigkuchenpferde hinein.

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