Veröffentlicht: 22.07.2019
Don Curry ist sich bewusst, dass das Reisen nicht nur schöne Seiten hat. Manchmal kann man in Situationen geraten, die schwer zu ertragen sind, die den Komfortbereich des sonst Gewohnten bei weitem überdehnen. Wenn z. B. in Südafrika vor Don Currys Augen eine Kuh abgestochen und zerlegt wird. Oder wenn in Kambodscha der Mahout den Elefanten, auf dem Don Curry sitzt, mit dem Hammer bearbeitet, damit er folgsam ist. Bisher sind ihm bei dieser Reise echte Unerträglichkeiten erspart geblieben. Die gestrenge Margareta, das furchtbare Wetter auf den Solowetzky-Inseln - das war alles nicht besonders schön, aber noch im Rahmen des Erträglichen. Der heutige Tag sollte dieser Grenze nun deutlich überschreiten...
Dabei begann er so harmonisch. Von seinem Bett aus konnte Don Curry direkt das allmähliche Anbrechen des Tages über der Ostsee miterleben, wenn er zwischendurch die Augen öffnete. Das Frühstück im Viinistu Art Hotel wurde zwar von vielen Rezensenten im Internet hochgelobt, doch nach Don Currys russischen Erfahrungen, konnte er es nur als dürftig einordnen. Einzig die gebratenen Pilze brachten einen eigenen Akzent zum Ausdruck.
Nach den vielen Stadt- und Schlosstagen wollte Don Curry heute endlich mal wieder Natur erleben; der Lahemaa Nationalpark, in dem er bereits die letzte Nacht verbracht hatte, bot die idealen Möglichkeiten dafür. Er war der erste Nationalpark der damaligen Sowjetunion gewesen, wenn auch die gesamte Küste bis Anfang der 90er Jahre streng abgeschirmtes militärisches Schutzgebiet war, das nicht einmal die Einheimischen betreten durften. Vielleicht trug auch dieser Umstand zum zauberhaft-urtümlichen Wesen dieser nordestnischen Küste bei.
Don Curry interessierte sich zunächst für ein paar Souvenirs der letzten Eiszeit. Die gewaltigen Gletscher hatten damals gewaltige Felsbrocken aus Skandinavien vor sich hergeschoben und dann in Estland zurückgelassen. Zwei diese Felsen im Umfang von über 20 m suchte Don Curry bei kleinen Wanderungen auf. Danach ging es nach Käsmu, dem malerischsten Ort im Nationalpark. Die ganze Ortschaft und ihre Umgebung wird von kleinen und großen Felsbrocken geprägt, die in der Landschaft und im küstennahen Meer herumliegen.
Das lässt sowohl den Ort - zusätzlich zu seinen farbigen Holzhäusern - ziemlich pittoresk erscheinen und gibt auch der Küste ein ganz eigenes, wildes Gepräge. Auf einem Naturlehrpfad konnte Don Curry das erleben. Auch der kleinen Kirche von Käsmu stattete er einen Besuch ab.
Vor dem Mittagessen wollte er noch den Biber-Trail bei Oanda erkunden, ebenfalls ein kurzer Naturpfad, der zu einem kleinem Bach und seinen Biberburgen führte.
Im Palmse Körts, einem uralten Gasthaus, hatte er die Möglichkeit typisch estnische Spezialitäten zu probieren.
Er bestellte Mulgipuder, einen Brei aus zerstampften Kartoffeln, gemischt mit aufgequollenen Gerstenkörnern (Graupen), gebratenen Zwiebeln und Speck. Die kleine Breischüssel machte optisch nicht viel her, erwies sich aber als ungemein sättigend.
Passend dazu hatte Don Curry Kama bestellt, das estnische Nationalgetränk: geröstetes Getreidemehl wird mit etwas Zucker und viel Kefir vermengt und ergibt ein erfrischendes, sämiges Getränk, das ebenfalls den Sättigungsgrad erheblich in die Höhe treibt.
Nach kurzen Besuchen der alten deutschbaltischen Gutshöfe von Sagadi, Palmse und Kolga wollte Don Curry eigentlich noch eine Moorwanderung machen. Doch das sich verschlechternde Wetter und der übervolle Parkplatz ließen ihn von diesem Plan abkommen. So fuhr er direkt nach Tallinn, eine Stadt, die er zuletzt vor 14 Jahren besucht hatte.
Der Zugang zu seiner Ferienwohnung am Rand der Tallinner Altstadt hatte fast den Charakter eines Escape Room - Abenteuers. Per Email bekam er gestern die genauen Anweisungen: 5 Fotos zeigten die Zufahrt zum Parkplatz, den eigentlichen Stellplatz, wo ein Fahrradschloss mit einer Box befestigt war, das Fahrradschloss, den Zugang zum Haus mit der Ferienwohnung, und die Zugangskarte zum Parkplatz. In der Email stand der Zahlencode, mit dem Don Curry die Box öffnen konnte. Sie enthielt den Schlüssel zur Ferienwohnung im 1. Stock des benachbarten Gebäudes. In der Ferienwohnung fand er schließlich die Zugangskarte zum Parkplatz, damit er auch sein Auto an den vorgesehenen Ort bringen konnte - alles ziemlich spannend, aber hilfreich und nachvollziehbar aufgebaut.
Als Ort seines Abendessens hatte Don Curry schon im Vorfeld das Beer House ausgewählt, eine Microbrewery mitten in der Altstadt. Vorbei an einigen altvertrauten Kirchen und dem üppig mit Restaurants bestückten Rathausplatz fand er die Brauereigaststätte recht schnell. Für eine Microbrewery zeigte sich das Platzangebot allerdings mehr als ausreichend: Don Curry schätze vorsichtig 300 Plätze draußen und drinnen. Innen - wo Don Curry sich aufgrund der beginnenden Abendkühle niederließ - was alles auf "deutsche Gemütlichkeit" ausgerichtet: dunkle Holztische und -bänke, lebensgroße Holzskulpturen von Pferden und fröhlichen Trinkern, Heuballen, Dreschflegel, usw...
Acht selbstgebraute Biere bot die Brauerei, die alle deutsche Namen trugen - es gab nach bayerischer Tradition nur 2 Größen: 0,5 oder 1,0 l. Don Curry wählte zunächst ein helles Märzes, dann ein halbdunkles Premium und schließlich ein dunkles Dunkles Extra - alles sehr süffig und überzeugend, das Dunkle Extra hätte mit seinen klaren Schokoladen-Noten sogar die Chance, zu einem seiner Lieblingsbiere zu werden. Die Speisekarte bot das, was Esten wohl unter deutscher Küche vermuten: viele Würste, Schweinshaxe, Schnitzel, Burger - aber alles erschreckend teuer. Don Curry bestellte eine Bratwurst mit in Bier gekochten Sauerkraut und Honigsenf plus Pommes mit Sauce für insgesamt 15 €, die drei Biere à 0,5 l brachten es sogar auf stolze 19 €. Eines konnte Don Curry jetzt schon feststellen: Tallinn war unvergleichlich teurer geworden - über ein angemessenes Maß hinaus.
Doch das war nicht das Schlimmste! In ihrem Wahn, dass sich Bier am besten mit möglichst dick aufgetragenen deutschen Traditionen verkauft, hatten die Betreiber des Beer Houses auch die Hintergrundmusik ausgewählt - Musikantenstadl-Ergüsse vom Feinsten. Und plötzlich sang auch Heino! Don Curry musste sich sehr konzentrieren, um nicht das gerade zu sich Genommene wieder von sich zu geben. Hat unsere Nation der Welt nicht mehr zu bieten als Bier, Gemütlichkeit und Heino?
Geradezu gedemütigt verließ Don Curry das bierselige Lokal, zog noch etwas durch Tallinns wundervolle Altstadt und versuchte, ganz langsam seine Fassung wieder zu gewinnen....